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Die Jahre vergingen.
Paul wurde ein stiller, anspruchsloser Knabe mit schüchternem Blick und schwerfälligem Gebaren.
Er war meistens allein für sich, und dieweil er auf die Zwillinge achtgab, konnte er stundenlang mit irgendeiner Holzschnitzerei beschäftigt dasitzen, ohne einen Laut von sich zu geben. Er war, was man in seiner Heimat »kniwlig« nennt, ein für das Kleine beanlagter, peinlich sorgsamer, still in sich hineingrübelnder Geist.
Mit keinem seiner Altersgenossen hatte er Umgang, selbst in der Schule nicht. Nicht, daß er sie absichtlich gemieden hätte, im Gegenteil, er half ihnen gern, und mehr wie einer pflegte morgens vor dem Gebete die Rechnungen oder den deutschen Aufsatz von ihm abzuschreiben, aber ihre Interessen waren nicht die seinen, und darum konnte er sich nicht mit ihnen befreunden.
Auch Prügel erntete er in Fülle. Da waren insbesondere die Brüder Erdmann, zwei kecke, wildäugige Burschen, als die Stärksten und Mutigsten geliebt und gefürchtet, von denen er viel zu leiden hatte. Sie waren unerschöpflich im Ersinnen neuer Streiche, die ihm das Leben verbitterten. Sie warfen seine Schulhefte auf den Ofen, stopften ihm Sand in den Tornister und ließen seine Mütze mit einem als Mast hineingesteckten Stocke wie eine Barke den Fluß hinabschwimmen. Die meiste Unbill ertrug er geduldig, nur ein- oder zweimal überfiel ihn eine blinde Wut. Da biß und kratzte er um sich wie ein Toller, so daß selbst seine weit stärkeren Genossen sich wohlweislich aus dem Staube machten. Das erste Mal hatte einer der Jungen seinen Vater einen »Saufaus« genannt, und das andere Mal wollte man ihn zusammen mit einem kleinen Mädchen in einen dunklen Kuhstall sperren.
Hinterher schämte er sich und kam aus freien Stücken abbitten. Da lachte man ihn erst recht aus, und der kaum errungene Respekt war aufs neue verloren.
Das Lernen ging ihm sehr schwer vonstatten. Das Pensum, zu welchem die Kameraden kaum 15 Minuten gebrauchten, brachte er erst in ein bis zwei Stunden fertig. Dafür war seine Handschrift auch wie gestochen, und in seinen Rechnungen fand sich nie und nimmer ein Fehler. Dennoch war keine Arbeit ihm gut genug, und gar oft überraschte ihn seine Mutter, wie er nachts heimlich aufstand, weil er fürchtete, das Auswendiggelernte wäre seinem Gedächtnis entfallen. Daß er gleich den Brüdern eine höhere Schule besuchen würde, daran war nicht zu denken. Die Mutter hegte wohl eine Zeitlang den Plan, ihn den Älteren folgen zu lassen, sobald diese ihre Abiturientenexamen gemacht haben würden, denn es tat ihrem Mutterherzen weh, daß dieser eine den anderen nachstehen sollte, aber schließlich fügte sie sich. Und es war wohl auch am besten so. – Paul selbst hatte es nie anders erwartet. Er hielt sich für ein durchaus untergeordnetes Wesen den Brüdern gegenüber und hatte es schon längst aufgegeben, ihnen jemals zu gleichen. Wenn sie zu den Ferien heimkamen, Samtmützen auf den wallenden Haaren, bunte Bänder quer über die Brust gespannt – denn sie gehörten einer verbotenen Schülerverbindung an –, so schaute er zu ihnen empor wie zu Wesen aus höheren Welten. Begierig lauschte er, wenn sie untereinander über Sallust und Cicero und die Dramen des Äschylus zu sprechen begannen – und sie sprachen gern davon, schon allein, um ihm zu imponieren. Der Gegenstand seiner allerhöchsten Bewunderung aber war das dicke Buch, auf dessen vorderster Seite das Wort »Logarithmentafel« geschrieben stand und das von der ersten bis zur letzten Seite nichts enthielt als Zahlen. Zahlen in langen, dichten Reihen, bei deren Anschauen ihm schon schwindlig wurde. Wie gelehrt mußte der sein, der das alles im Kopfe hat, sagte er zu sich, den Deckel des Buches streichelnd, denn er dachte nicht anders, als daß man alle diese Zahlen auswendig lernte.
Die Brüder waren ungemein freundlich und herablassend zu ihm; wenn sie in der Wirtschaft irgendwelche Wünsche hatten, wenn sie ein gesatteltes Pferd oder ein extra starkes Glas Grog begehrten, so wandten sie sich vertrauensvoll an ihn, und er fühlte sich hochgeehrt, ihnen Hilfe leisten zu dürfen.
In der Wirtschaft wußte er ja Bescheid, wie wenn er der Hausherr selber gewesen wäre; an ihr hing all sein Streben und Bangen.
Was war es gewesen, das ihn so frühzeitig hatte reifen lassen? Ob die Hilfsbedürftigkeit der einsamen Mutter, die ihn so bald in all ihre Kümmernisse eingeweiht hatte? Ob der grübelnde, strebende, in die Zukunft hinausschauende Geist, der ihm eigen war?
Gar oft, wenn er sinnend dasaß, die Ellbogen auf den Tisch gestützt – auch in seinen Gebärden war er wie ein Erwachsener –, strich die Mutter ihm mit ihrer harten, ausgearbeiteten Hand über Stirn und Wangen und sagte: »Mach ein freundliches Gesicht, mein Junge, sei froh, daß du noch keine Sorgen hast!«
Oh, er hatte deren genug! Die Sorgen gehörten zu ihm wie sein Fleisch und Blut! – Ob das Huhn, das heute abhanden gekommen, sich morgen wiederfinden, wie dem Falben die Spatsalbe bekommen werde, die der Vater gestern aus der Stadt mitgebracht hatte? Ob das Heu auch schon trocken genug gewesen sei, ehe es umgewendet wurde, und wie die Stare unter dem Dachfirst ihre Jungen großziehen würden, ohne daß die Katze dazukäme? Über alles machte er sich Gedanken. Das Sorgen war ihm angeboren, nur für sich selber sorgte er nie.
Je älter und verständiger er wurde, desto tiefer wurde auch sein Einblick in die Mißwirtschaft, die sein Vater hatte einreißen lassen, und wiederum rang sich gar oft der Seufzer aus seiner Brust: »Oh, wär' ich erst groß!« Die Furcht vor des Vaters Zornausbrüchen ließ, wie natürlich, seine Bedenken nicht laut werden, und wenn er jemals wagte, sie der Mutter gegenüber auszusprechen, so schaute diese sich mit verängstigten Augen im Zimmer um und rief beklommen: »Schweig still!«
Und dennoch merkte der Vater gar wohl, wohin der Sinn seines Sohnes gerichtet war. Er hatte ihm den Spitznamen »Topfgucker« gegeben und foppte ihn damit, sobald er ihn zu Gesicht bekam. In seinen guten Stunden, wie sich von selber versteht; in seinen bösen prügelte er ihn – mit der Elle, mit dem Peitschenstiel, mit dem Geschirriemen – was er gerade in die Hand bekam. Am meisten Furcht aber hatte Paul vor dieser Hand selber, deren Schläge weher taten als alle Stöcke der Welt. Der Vater hatte eine eigentümliche Manier zu ohrfeigen. Er schlenkerte die Hand ins Gesicht mit den Knebeln nach außen, so daß Nägel und Gelenke blutunterlaufene Male auf den Wangen zurückließen. Diese Art Ohrfeigen nannte er seine »Backentröster«, und wenn er die Absicht hatte, Paul zu prügeln, so rief er ihm in freundlichstem Tone entgegen: »Komm her, mein Sohn, ich will dich trösten.«
Hatte dieser seine Schläge empfangen, so pflegte er zitternd vor Scham und Schmerz auf die Heide hinauszulaufen, und während er, um die Tränen zu verbeißen, Gesichter schnitt und mit den Fäusten trommelte, pfiff er sich eins.
Im Pfeifen tat er, wie all seine Sehnsucht, sein kindliches Träumen, auch seinen Zorn, seine Entrüstung kund. Die Empfindungen, für die sein ungelenker Geist keinen Ausdruck fand, für die ihm Worte, selbst Gedanken fehlten, die ließ er im Pfeifen kühn und unaufhaltsam in die Einsamkeit hinausströmen. So wußte seine gedrückte, schüchterne Seele sich Luft zu machen. Ganze Symphonien führte er auf – schrill und schreiend zum Beginn, sanfter und sanfter werdend und endlich dahinschmelzend in Wehmut und Entsagung.
Niemand ahnte, welche Kunst er einsam pflegte und wieviel Trost und Erhebung er ihr zu danken hatte, selbst die Mutter nicht. Seit er sie einmal an einem Winterabend, als er, ohne ihrer zu achten, leise vor sich hin pfiff, hatte in Tränen ausbrechen sehen, seitdem unterließ er es, sobald sie in der Nähe war. Er glaubte, es täte ihr wehe; welche Macht ihm in diesen Tönen gegeben war, davon ahnte er nichts.
Nur stolz war er bisweilen, wenn er nach dem weißen Hause hinüberschaute, daß er das Pfeifen doch noch gelernt habe, und wenn ihm irgendeine Phantasie insbesondere gelungen schien, so dachte er bei sich: Wer weiß, ob ihr mich auslachtet, wenn ihr das hören würdet.
Aber nie wieder war er einem von ihnen begegnet.