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Die Jahre gingen dahin. Lange schon lebten die Schwestern als glückliche Hausfrauen, die Mitgift war herausbezahlt, und die Schwäger fingen bereits an, bei Paul einen Pump aufzunehmen.
Wie schweigsam war es nun erst auf dem stillen Heidehof! Der Vater humpelte jetzt wohl an einer Krücke in Haus und Garten umher, aber er war viel zu träge geworden, um das Zepter noch einmal zu ergreifen. Paul wußte nichts für ihn zu tun, als daß er ihm seine Lieblingsgerichte kochen ließ, seine Rationen Kümmel mit Ingwer nicht allzu kläglich abmaß und ihm zu jedem Weihnachten einen neuen Kalender schenkte. Damit hätte der Alte wohl zufrieden sein können, denn er brauchte in der Tat nicht mehr – selbst in die Stadt zu fahren war er zu schwerfällig geworden, aber je prächtiger sein Leib gedieh, desto bitterer und verbissener wurde sein Gemüt. Stundenlang konnte er in sich hineinbrüten, und schrecklich war es anzusehen, wie er dabei mit den Zähnen knirschte und die geballten Fäuste schüttelte. Eine seiner fixen Ideen war, daß sein Sohn ihn absichtlich unterdrücke, damit er den Ruhm der großen Ideen, die er selber ausgeheckt, für sich in Anspruch nehmen könne, und je besser das Moor sich rentierte, desto wütiger rechnete er aus, wieviel seine Aktiengesellschaft eingetragen haben würde. Er kargte nicht mit den Millionen, er hatte es ja nicht nötig. –
Aber noch anderes wuchs in dem dunkelsten Grunde seiner Seele, ein Racheplan gegen Douglas, den er heimlich pflegte und großzog als sein eigenstes Geheimnis. Selbst die Schwiegersöhne, denen er sonst gern sein Herz ausschüttete, erfuhren nichts davon. Ulrich äußerte einmal zu Paul:
»Nimm dich in acht, der Alte führt was gegen Douglas im Schilde.«
»Was sollte das wohl sein?« erwiderte er, scheinbar unbesorgt, wiewohl er sich schon manchmal darüber Gedanken gemacht hatte.
Dumpf und stumpf lebte Paul seine Tage dahin. Sein ganzes Innenleben war der platten Sorge um Gut und Geld verfallen, doch ohne daß er je an dem Erworbenen Freude gefunden. Er besaß niemanden mehr, den er glücklich zu machen hatte, und arbeitete, ohne zu wissen, warum – wie der Ackergaul an seinen Strängen zieht, unwissend, was der Pflug tut, den er durch die Dornen schleppt. – Monate vergingen manchmal, ohne daß er einen Blick in seine Seele warf. Auch pfeifen tat er nicht mehr. Er fürchtete die Qualen, welche die überströmende Empfindung ins Leben rief, aber auf die Zeiten, da er noch in Tönen mit sich zu sprechen vermocht hatte, sah er wie auf ein verlorenes Paradies zurück.
Manchmal überkam ihn eine tiefe Bitterkeit, wenn er den Zweck seiner Arbeit, seiner Sorge, seiner durchwachten Nächte mit dem verglich, was er dafür hingeopfert. – Es schien ihm etwas ungeheuer Stolzes, Reiches, Glückbringendes gewesen, nur wußte er ihm keinen rechten Namen zu geben.
Von diesem Grübeln befreite er sich am besten, indem er sich kopfüber in neue Arbeit stürzte, und lange Zeit verging, bis ihn die Krankheit wieder packte.
Der Heidehof gedieh inzwischen prächtiger von Jahr zu Jahr: die Schuld an Douglas war getilgt, die Felder florierten, und auf den Wiesen weidete edles Rassevieh. Der ganze Hof sollte ein neues Gewand erhalten. Wohnhaus, Stall und Scheune, alles sollte von Grund auf erneuert werden. – Und eines Frühlings begann es im Hof zu wimmeln von Arbeitsleuten aller Art. Das Wohnhaus wurde niedergerissen, und während Paul für sich eine hölzerne Baracke zum Wohnsitz wählte, ließ der Vater sich leicht bereden, zu einem der Schwiegersöhne überzusiedeln.
»Ich werde nicht mehr wiederkommen«, sagte er beim Abschied, »ich bin nicht mehr imstande, dein verrücktes Treiben anzusehen.« Der erste aber, der sich im Herbst wieder einfand, war der Alte. Er setzte sich behaglich in seinen Lehnsessel und zog fortan auch die Schwiegersöhne in sein Schimpfregister hinein. – Die mochten ihn freilich nicht mit Handschuhen angefaßt haben. »Nun hab' ich keinen Platz mehr auf Erden, wo ich mein graues Haupt zur Ruhe legen könnte«, murrte er, während er sich faul in den Polstern streckte.
Im nächsten Frühjahr kamen die Wirtschaftsgebäude an die Reihe, besonders die Scheune sollte sich zu einem Schaustück ländlicher Pracht gestalten, als Denkmal jener fürchterlichen Nacht, welche der Mutter den Todesstoß gegeben.
Der Landmann, der nun über die Heide fuhr, machte wohl halt, um die blanken Gebäude, die mit ihren roten Ziegeldächern ihm schon aus der Ferne entgegengeleuchtet hatten, bewundernd von nah zu sehen, und mancher schüttelte bedenklich den Kopf und murmelte das alte Sprüchlein:
Bauen und Borgen
Ein Sack voll Sorgen!
Auf dem Moor draußen spie die schwarze Suse ihre schwarzen Wolken, die Messer der Schneidemaschine bohrten sich tief in den zähen Grund, und die Presse arbeitete langsam und schweigend wie ein gutwilliges Haustier. Ein neuerbauter Schuppen glänzte mit weißen Wänden im Sonnenlicht, und ringsherum erhoben sich die langen schwarzen Mauern des gepreßten Torfes. Die Ziegel waren hart und schwer, mit wenig Fasern und viel Kohle. Sie schlugen ohne Mühe die Konkurrenz aus dem Felde und gewannen einen guten Ruf bis nach Königsberg hin.
Paul, der auf seinen Geschäftsreisen viel unter fremde Leute kam, genoß nun auch das Glück, als ein angesehener Mann begrüßt und von würdigen Gutsherren als ihresgleichen behandelt zu werden. Aber er hatte keine Freude mehr daran.
Wenn man ihm freundschaftlich die Hand schüttelte, ihm Glück zu seinen Erfolgen wünschte oder sich seinen Besuch erbat, so fragte er sich im stillen: »Will der mich höhnen?« Und obgleich er wohl sah, daß es den Herren ernst war, so fühlte er sich doch stets wie von einem Alp befreit, wenn man ihn gehen ließ.
»Warum sind sie nicht früher gekommen, die Freundlichen«, sagte er zu sich, »damals, als es mir not tat, als ich noch Nutzen aus jedem guten Wort ziehen konnte? Jetzt bin ich abgestorben, wie ein Stock – jetzt ist es zu spät.«
Doch weiter und weiter ging sein Ehrgeiz. –
Und als wollte der Himmel selbst das Weihfest geben, ließ er in diesem Jahr, dem siebenten seit der Mutter Tod, die Halme in solcher Fülle gedeihn und spendete so verschwenderisch Regen und Sonne, jedes zu seiner Zeit, daß es den Leuten schier unheimlich wurde vor all dem Segen und sie einander angstvoll fragten: »Kann das zum Guten sein?«
»Es wird wohl noch was dazwischenkommen, ein Hagelschlag oder dergleichen«, sagte Paul, der stets auf das Schlimmste gefaßt war. Aber nein! Hochgetürmt schwankte ein Erntewagen nach dem andern in die Scheuern, und der goldgelbe Ährensegen sank, Körner um sich streuend, in dem Fachwerk nieder, bis alles vollgepfropft war bis zum First hinauf.
Paul hatte auch hieran keine Freude. – Je reichlicher er Hab' und Gut sich häufen sah, je stolzer die Früchte von seiner Hände Arbeit ihm entgegengrüßten, desto ängstlicher wurde sein Sorgen. Wer ihn mit tiefgefurchter Stirn und gesenktem Haupt langsam über den Hof herwandeln sah, der hätte ihn für einen Schuldenmacher halten mögen, dem das Messer schon an der Kehle sitzt.
Um dieselbe Zeit las er in der Zeitung, daß Elsbeth sich verlobt habe. Die Namen Elsbeth Douglas und Leo Heller standen in schöngeschweiften Lettern dicht untereinander. Er fühlte keinen stechenden Schmerz, er erschrak nicht einmal, nur ein Lächeln voll wehmütiger Genugtuung umspielte seinen Mund, als er vor sich hin murmelte: »Ich hab's ja gleich gesagt.«
Und dann erinnerte er sich des Schriftstücks, das der jüngere Erdmann einst in der Kirche herumgeschickt hatte, um ihn zu ärgern, und das ganz ähnlich gelautet, nur daß sein eigener Name anstelle des fremden gestanden hatte. Und das war immerhin ein Unterschied.
Er hatte sie nun seit Jahren nicht gesehen. So dicht ihre Grundstücke nebeneinander lagen, es gab kein Begegnen zwischen ihnen. Das weiße Haus leuchtete noch ebenso hell über die Heide in sein Fenster hinein wie damals, als die Sehnsucht, zu ihm zu pilgern, in seiner Kinderseele erwachte, aber der magische Schimmer, der es damals, der es noch fünfzehn Jahre später umfloß, war verschwunden, verlöscht vor den sinkenden Schatten der Alltäglichkeit.
»Mag sie glücklich werden!« sagte er und glaubte sich mit diesem Wunsch genugsam getröstet. –
Am nächsten Sonntag wurde in der Kirche das Erntefest gefeiert. Paul saß in seinem Winkel, hörte die Orgel rauschen und den Pfarrer Lob und Dank zum Himmel rufen. Die Sonne leuchtete in tausend frohen Farben durch die gemalten Scheiben – just wie an seinem und Elsbeths Einsegnungstag –, aber auch düster und traurig in ihren aschfarbenen Gewändern stand noch immer die graue Frau und starrte aus großen, hohlen Augen auf ihn nieder. – – –
»Auch ich feiere heute ein Erntefest, das Erntefest meiner Jugend«, dachte er, »aber allzu freudig ist es nicht...«
Der Gottesdienst ging zu Ende. Mit einem Triumphgesang entließ die Orgel die frohbewegten Beter, die sich auf dem eichenbeschatteten Vorplatz zusammendrängten, um einander glückwünschend die Hände zu reichen.
Als Paul die Stufen hinabschritt, erblickte er etwa fünf Schritte vor sich Elsbeth am Arm ihres Verlobten.
Sie schien gealtert und sah blaß und kränklich aus. – Als ihr Blick den seinen traf, wurde sie noch um einen Schatten blässer.
Er zitterte am ganzen Leib, doch sein Auge wich nicht von ihrem Angesicht. Befangen griff er nach der Mütze, und an derselben Stelle, wo sie vor fünfzehn Jahren das erste Wort miteinander gesprochen, gingen die beiden schweigend und fremd aneinander vorüber. – – –