Rudolf Stürzer
Schwankende Gestalten
Rudolf Stürzer

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Der Einzelgeher

Unter Einzelgehern versteht man gemeinhin Touristen, die ohne Führer oder andere Begleitung ganz allein von irgendeinem Berggipfel aus dem Herrgott in die Küche gucken wollen. Einzelgeher in der Ebene sind gewöhnlich solche Leute, die sich bei Gewahrwerden eines Gendarmen hinter Johanneskapellen, Marterln oder Büschen verstecken, demnach also nicht zu den Sportbeflissenen gezählt werden können. Es gibt aber auch noch eine dritte Art Einzelgeher, und zwar in der Stadt, hauptsächlich in Wien. Auch bei ihnen stellt der Einzelgang keine sportliche Ausübung dar, sondern vielmehr eine Zwangsfolge sozialer oder individueller Einwirkungen; aber dennoch haben sie auch mit den beiden andern Arten der obengenannten Einzelgeher eine Fülle von Ungemach gemeinsam, das mitunter so gefährlich wie beim Bergsteiger und so peinlich wie beim Marterlhocker werden kann, denn dem Einzelgeher in der Stadt steht eine geschlossene, jederzeit tatbereite Mehrheit von Kettengehern gegenüber. Ist der Einzelgeher ein friedfertiges oder unterernährtes Individuum, dann kann er eine zielsichere Fortbewegung nur durch weitausholende Umgehungen oder überaus geschickte Zickzack- oder Schlängelmanöver 92 bewerkstelligen, mitunter aber auch durch rasche Seitensprünge auf die Fahrstraße, auf der dann gewöhnlich im gleichen Augenblick ein Auto oder ein Motorradfahrer dahersaust.

Auch ich war einst ein solcher friedfertiger Einzelgeher – Unterernährung kam nicht in Betracht –, wand mich mit hervorragender Geschicklichkeit durch und um die mehr oder minder festgeschlossenen Formationen der Kettengeher, war jederzeit entschlußbereit, den weitesten Seitensprung zu wagen und mit dem ortsüblichen »Hoppla!« oder »Oha!« stärkere Berührungen mit ihnen konventionell auszugleichen, als auch ich eines Tages mein Damaskus erlebte. Damals mußte ein Auto meinetwegen so scharf gebremst werden, daß sich die Hinterräder förmlich in den Asphalt eingruben, der Lenker aber sich zu einer Aeußerung veranlaßt fühlte, die unmöglich meine Zustimmung finden konnte. »Tepperter Kerl, was hupfst denn da auf d'r Straß'n umananda! Geh bei d'r Mauer, g'füllter Darmsack, sunst fahr i no amal über dein Golaschgottsacker!« Ich stelle fest, daß ich mit dem Sprecher weder verwandt noch befreundet war, das brüderliche Du in seiner Rede daher auch nicht als Sympathiekundgebung, sondern nur als berufsmäßige Ausdrucksweise auffassen konnte, ebenso faßte ich dank meinen Kenntnissen der Mundart die Bezeichnung 93 Golaschgottsacker sofort als geschmacklose Umschreibung meines Bauches auf. Ich hätte aus diesem Vorfalle keine Folgerungen gezogen, wenn nicht eine große Schar von Kettengehern dem Autolenker lauten, frohmütigen Beifall gespendet hätte, der noch eine Steigerung erfuhr, als ein fanatischer Kettengeher ganz laut sein Urteil abgab: »Der Blade soll daham bleib'n, wann er auf'n Trotoah kan Platz hat – der braucht ja die Ringstraß'n allani für sei Wamp'n!« Dann kam auch noch ein Wachmann hinzu und belehrte mich, daß für Fußgeher der Gehweg und für die Fahrzeuge der Fahrweg da sei, daß ein intelligenter Mensch dies einsehen müsse und daß es ihm nicht erst ausdrücklich gesagt zu werden brauche.

Jetzt bin ich radikaler Einzelgeher, weiche nicht mehr aus, gehe mitten durch noch so eng geschlossene Ketten, zwinge Massenaufmärsche zum Ausbiegen um meinen Golaschgottsacker herum, grinse nur satanisch, wenn mich strafende Blicke aus Mädchenaugen treffen, wenn reife Frauen unmutsvoll »So a Lackl!« sagen oder Jünglinge und Männer meine Art des Gehens abfällig beurteilen und gelegentlich in kurzen Sätzen kritisieren, wie: »Der muß in gar ka Schul ganga sein, wo er a Büldung g'lernt hätt«, oder »Der glaubt aa schon, wer waß, wer er is, weil er an 94 Glasverschlag auf d'r Nas'n tragt!« oder »Es san ja no andre Leut' aa auf d'r Welt, de was am Trotoah geh'n woll'n!«

Ja, gewiß, es sind außer mir auch noch andre Leute auf der Welt, die auf dem Gehweg wandeln wollen, aber ich bin eben auch da und ich will auch auf dem Gehweg gehen! Warum soll gerade ich mich wie eine Schlange winden, im Zickzack gehen und Bocksprünge machen müssen? Nein! Ich habe den Kettengehern erbarmungslose Fehde angesagt, ich wandle triumphierend als Einzelgeher auf dem Bürgersteig – für mich gibt es kein zweites Damaskus mehr!

Auch nicht das in der Wipplingerstraße!

Das war nämlich so: Es hatte geregnet, und wenn es regnet, dann überzieht sich in Wien das Pflaster und auch der Asphalt mit der weltberühmten Pflasterschmiere, die neuestens mit eigens hiefür gebauten Kraftwagen maschinell gleichmäßig verteilt und der etwaige Ueberschuß an den Rändern der Gehwege abgelagert wird. Bei stärkeren Niederschlägen entstehen kleine Gießbäche, in denen Straßenbahnkarten, Pferdeverdauungsreste, angebrannte Zündhölzer und Zigarettenstummeln schwimmen, und vor jedem Kanalgitter stauen sich die trüben Fluten zu Seen oder Sümpfen, die mitunter eine beträchtliche Tiefe haben. Ich wandle in 95 stiller Nacht als Einzelgeher geruhig dahin – da sehe ich in der Ferne eine Kette auftauchen, zwei weibliche und zwei männliche Wesen, diese an den Flügeln. Wir nähern uns auf schmalem Wege. Ich raffe mich innerlich zusammen, ich fühle es: jetzt oder nie! Die vier rücken heran, festgeschlossen. Ich weiche nicht um ein Haar aus meiner Richtung. Das muntere Geplauder der Kettengeher verstummt, sie werden sich des Ernstes der Minute bewußt, aber sie lockern die Kette nicht um Fingerbreite. Jetzt sind wir Aug' in Aug'! Ein älterer Herr, eine ältere, wohlbeleibte Dame, ein Mädchen mit einem entzückenden Bubengesicht unter dem Lederhütchen, ein Jüngling im modernen Regenmantel mit Gamaschen an den Spitzschuhen. Acht Augen blitzen feindlich auf – im nächsten Augenblick erfolgt der Anprall, und ich bin Sieger! Zwischen Frau und Mädchen war ich durchgebrochen und stand nun im Rücken der feindlichen Front, die sich sofort umgruppierte und vierstimmig zu feuern begann:

Der Herr: »Ja, was is denn des? Hab'n denn Se gar ka Manier?«

Die beleibte Dame: »So a Rücksichtslosigkeit, der stößat am ja direkt in die Lack'n eini!«

Das herzige Mädchen: »Unglaublich, so eine Roheit!«

96 Der Jüngling: »Sag'n S' doch wenigstens Badohn. Wann S' schon nix sehg'n, so müssen S' es do g'spürn, daß an wem ang'rennt san!«

Ich hebe meinen Keulenstock in halbe Brusthöhe und sichere mir dadurch einen Abstand von zwei Schritten, dann hebe ich in gewähltestem Hochdeutsch also an: »Meine Damen und Herren! Ich habe genau so wie jeder andere Bürger unsrer Republik ein heiliges Recht auf den Fußweg, es kann und darf mich niemand zwingen, von diesem Fußweg herabzutreten und mich in die Zwangslage versetzen, in eine Pfütze treten zu müssen! Sie haben nicht das Recht, den Fußweg durch eine Kette abzusperren, Sie haben vielmehr die Pflicht, mir soviel Raum zu lassen, daß ich ungefährdet meinen Weg fortsetzen kann! An mir wäre es, Ihnen Vorwürfe darüber zu machen, daß Sie diese Rücksicht gegen mich außer acht und es auf den mir ebenfalls sehr peinlichen Zusammenstoß ankommen ließen.«

Hochdeutsch hat immer eine große Wirkung in Wien.

Der ältere Herr sagte nur ein paarmal während meiner Rede: »Na ja, aber . . .«, der Jüngling. »Das wissen wir auch, aber . . .«, das herzige Mädchen blickte bereits bewundernd zu mir auf, nur die beleibte Dame war triebhaft veranlagt. 97 »Wann S' aa no so schön deutsch spritz'n könna, so impanier'n S' ma gar net! Grad bei d'r Jungen san S' durchbroch'n, wann des aa a Alte g'wes'n war, war'n S' sicher in die Lack'n tret'n; des kenna ma schon!«

»Hochgeschätzte gnädige Frau, sie imputieren mir da eine erotische Verfehlung, die ich mit aller Entschiedenheit zurückweisen muß! Ich bin gewiß ein begeisterter Bewunderer weiblicher Schönheit und ganz besonders der in Wien, im speziellen aber jenes Typus, den das verehrte Fräulein darzustellen das unerhörte Glück hat, in diesem Falle aber handelte es sich mir nur um die Durchsetzung eines staatsbürgerlich verankerten Grundsatzes und um die Demonstration meines ungeschmälerten Rechtes auf den Fußweg!«

Der ältere Herr: »Darüber woll'n ma net streit'n, aber ma rennt do net so mitt'n durch die Leut' . . .«

Der Jüngling: »Wann Sie ersucht hätt'n, daß mir Platz machen soll'n, dann hätten mir sicher an Platz g'macht, aber so . . .«

Die beleibte Dame: »Reden S' ka so a G'schwulst z'samm, wann S' aa no so schön powidaln, Manier hab'n S' do kane!«

Ich: »Meine hochverehrten Damen und Herren! Ich glaube, es erübrigt sich, den müßigen Streit 98 fortzusetzen, wir haben beiderseits unsern Standpunkt erörtert, und damit halte ich die Sache für mich erledigt, ich kann Ihnen nur versichern, daß es sich für mich in diesem Falle nur darum handelte (jetzt spielte ich meinen größten Trumpf aus!): Principiis obsta!

Aber das hätte ich nicht tun sollen, denn kaum war der lateinische Spruch von meinen Lippen, rief auch schon die beleibte Dame im Tone hellsten Triumphes: »Na ja, was i glei g'sagt hab: a Behm is er! Se hör'n S', gengan S' nach Praha und stöß'n S' durt Ihnara Landsleut z'samm! Was si de Zuagrast'n bei uns schon alles erlaub'n!«

Der ältere Herr runzelte die Stirne, der Jüngling sah mich drohend an, das herzige Mädchen wandte den Blick enttäuscht von mir weg – aber jetzt nahm ich die Vier auf sicher. »Aber Muatterl, i und a Behm! – da irr'n S' Ihna aber stark! Mir hab'n ja denselb'n Zungenschlag! Hab'n S' denn des net graunt, daß i an G'spaß g'macht hab'? A so a fesche Godl und fallt ma so eini!«

Die Wirkung war mehr als zufriedenstellend. Die »fesche Godl« lachte, der ältere Herr sagte: »I hab' ma 's ja eh glei denkt«, der Jüngling erkannte: »Guat hab'n S' z'ruckg'schob'n« und das herzige Mädchen lächelte mich holdselig an. Ich schüttelte vier Hände und die Sache war erledigt.

99 Ich trage mich aber nichtsdestoweniger doch mit der festen Absicht, einen Verein der Einzelgeher zu gründen. Ich brauche nur einen Obmannstellvertreter, einen Schriftführer, einen Säckelwart und zwei Rechnungsprüfer, den Obmann hab' ich schon, der bin nämlich ich! 101

 


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