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Wie jäh sich gegenwärtig die politischen Entwicklungen überstürzen, zeigt das Ende der Kanzlerschaft Dr. Michaelis. Ein Kanzler des Deutschen Reichs nur 111 Tage im Amt: man muß sich erst daran gewöhnen, diese Vorstellung zu ertragen. Denn sie widerspricht allem, was uns von der Stetigkeit deutscher Reichseinrichtungen und dem festen Gefüge des preußischen Staates vor Augen steht. Eine wie kurze Spanne Zeit liegt an sich zeitlich zwischen den Julitagen, die uns einmal zu der unglückseligen Entschließung des 19. Juli, die uns weiter zu dem Kanzlerwechsel Bethmann Hollweg brachten. Was haben wir seitdem nicht alles durchmessen an Ereignissen, was haben wir durchmessen an innerer Entwicklung!
Warum ging Michaelis? Das ist die erste Frage, die sich vielen auf die Lippen drängt. Die Frage ist herausgeboren aus der Sorge darüber, daß es dem Ansehen des Reiches nicht förderlich ist, wenn seine Kanzler in solchen kurzen Zwischenräumen wechseln. Zudem hatte man zu dem neuen Manne kaum innerlich Fühlung genommen, als man hörte, daß seine Stellung erschüttert sei. Man hatte ein Recht zu glauben, daß irgendeine Nervosität in der Berliner Luft, Abgeordnete und Presse in Überreizung verfallen lassend, auch mit diesem Kanzlerwechsel zusammenhinge. Anklagend behaupten die einen, der Kanzler sei gegangen, weil er es gewagt habe, energisch gegen die Sozialdemokratie vorzugehen. Fragend schreiben Dutzende aus dem Lande und aus dem Felde: »Was ist vorgegangen? Warum ging Michaelis?«
Wenn man diese Frage beantworten und die letzten Vorgänge verstehen will, dann muß man eigentlich wieder im Juli anfangen, und da drängt sich die Frage auf: Warum kam Michaelis? Wir wissen, weshalb Bethmann ging. In den Gedanken zur Krisis ist es oben dargelegt. Zum ersten Male in der Geschichte der Nationalliberalen Fraktion hatte sie den Beschluß gefaßt, der ihren stellvertretenden Vorsitzenden beauftragte, dem Chef des Zivilkabinetts zum Ausdruck zu bringen, daß die Nationalliberale Fraktion des Deutschen Reichstages einen Rücktritt des deutschen Kanzlers für notwendig hielte. Daß die Zentrumsfraktion in ihrer überwiegenden Mehrheit auf demselben Standpunkt stand, war bekannt. Bei der konservativen Fraktion war die Gegnerschaft gegeben. Unrichtig ist es deshalb, wenn neuerdings die Darstellung versucht wird, als hätte der Reichstag eigentlich der Entlassung des Herrn von Bethmann ganz ferngestanden, als hätten außenstehende militärische Kreise darauf allein Einfluß gehabt. Die Stellungnahme, die Deutschlands Heerführer in jenen Wochen eingenommen haben, werden sie vor der Geschichte jederzeit vertreten können. Aber bemerkt sei, um der Legendenbildung vorzubeugen, daß ausschlaggebende Fraktionen des Reichstages in diesen Tagen die Entscheidung bewirkt haben. Die Entlassung Bethmanns war also in erster Linie die Folge parlamentarisch-fraktioneller Entschließungen. Dagegen wurde der Rat parlamentarischer Kreise nicht erbeten, als es galt, Bethmanns Nachfolger zu bestimmen. Die Auswahl der Persönlichkeiten schien erschreckend gering. Der Blick des Kaisers wandte sich auf den bayerischen Ministerpräsidenten Grafen Hertling. An ihn erging der Ruf. Aber der Vierundsiebzigjährige glaubte nicht, daß seine Kräfte diesem Amte gewachsen seien. Des Fürsten Bülow wurde gedacht, aber Erwägungen, auf die hier nicht eingegangen werden soll, führten dazu, über seine Person hinwegzugehen. Der Ministerpräsident eines anderen süddeutschen Staates wurde genannt, ohne daß auch diese Kandidatur zur Reife kam. Führerlos schien das Reichsschiff in diesen Julitagen dahingefahren zu sein. Da entsann man sich des Mannes, der in wichtigen Wirtschaftsfragen Organisator großen Stiles gewesen war, der verstanden hatte, mit tüchtigen Kaufleuten zusammen die Reichsgetreidestelle so zu leiten, daß die Getreideversorgung und -verteilung in Deutschland dauernd sichergestellt war. Man dachte an sein Auftreten im preußischen Abgeordnetenhause, in dem er in scharf prononcierter Art zum Ausdruck gebracht hatte, daß er energisch und ohne Scheu gegen jedermann vorgehen werde. Der Vorsitzende einer hervorragenden maßgebenden landwirtschaftlichen Körperschaft wies ebenfalls auf diese Persönlichkeit hin. Darauf wurde die Ernennung des Herrn Dr. Michaelis zum Reichskanzler vollzogen.
Man hatte den verhängnisvollen Fehler gemacht, anzunehmen, daß die Betätigung und der Erfolg in Fragen der Organisation und der Wirtschaftspolitik gleichbedeutend zu setzen sei mit der Eignung für die große Politik und für die unendlich schwierigen Aufgaben, die einem Reichskanzler bei der Parteikonstellation bevorstanden, die Michaelis vorfand. Wohl sagte er in seiner ersten Rede, daß er sich die Zügel nicht aus der Hand nehmen lassen werde. In Wirklichkeit ist diese Führung aber auch nicht einen Augenblick in seinen Händen gewesen. Er war vom ersten Tage seiner Kanzlerschaft an der Gefangene der Reichstagsmehrheit vom 19. Juli. Die hatte, als sie von dem neuen Manne hörte, ihre Entschließung sofort in die Presse gebracht, hatte damit jede Änderung an deren Wortlaut vor der Öffentlichkeit der Welt bloßgelegt. Der Reichskanzler stand vor der Frage, ob er sich dieser aus den Verhandlungen bewegter Tage entstandenen Entschließung rückhaltlos anschließen solle oder nicht. Vielleicht hat er schon in diesen ersten Tagen vor einem inneren Konflikt gestanden. Meiner Auffassung nach ist Michaelis niemals ein Mann des 19. Juli gewesen, sondern hat sich innerlich gegen Form und Fassung der damaligen Entschließung gesträubt, glaubte aber einem Konflikt mit der Mehrheit ausweichen zu müssen, akzeptierte deshalb die Erklärung in ihren wesentlichen Punkten und ließ die eigene Auffassungsmöglichkeit dazu zu, daß er von der Resolution sprach, »wie er sie auffasse«. Diese Worte »wie ich sie auffasse« hatte er in den Vorverhandlungen mit den Vertretern der Mehrheitsparteien nicht gebraucht. Eine Verstimmung zwischen ihm und den Fraktionen der Mehrheit war daher vom ersten Tage vorhanden, wenn auch die Presse der Mehrheit zunächst das grundlegende Einverständnis mit ihrer Entschließung unterstrich.
Ich möchte hierbei etwas einschalten. In einigen Entschließungen von Vereinen, die auf dem Standpunkt der Resolution vom 19. Juli stehen, wird wiederholt etwa gesagt: »Im Einverständnis mit der Regierung und der Obersten Heeresleitung stehen wir auf dem Standpunkt der Entschließung vom 19. Juli usw.« Ein solches Verfahren ist nicht zu billigen. Die Geschichte der Verhandlungen dieser Tage kann heute nicht geschrieben werden. Wenn aber Vertreter der Regierung und der Obersten Heeresleitung, um Konflikten auszuweichen, unter starkem Druck etwas tolerieren und sich abringen lassen, weil sie glauben, es in einem gewissen Moment tragen zu müssen, dann mutet es mehr als eigenartig an, sie später gewissermaßen als die Väter einer solchen Entschließung hinstellen zu wollen. Wie Hindenburg über die deutsche Zukunft denkt, das hat er ganz unmißverständlich in so vielen prächtigen Kundgebungen ausgesprochen, daß wirklich niemand auf den Gedanken kommen sollte, ihm eine Politik der Resignation oder gar des Verzichts zuzumuten.
Des Kanzlers Lage schien nach seinem ersten Auftreten immerhin eine leidliche zu sein. Die Mitarbeiter, die er sich wählte, entstammten zum Teil parlamentarischen Kreisen, zeigten andererseits seine Vorurteilsfreiheit in der Durchsetzung der Regierungsbürokratie mit Männern der Selbstverwaltung. Unglücklich war er nur in der Berufung seines Chefs der Reichskanzlei, des bisherigen Leiters der Reichsfettstelle, eines Mannes vom besten Wollen, aber – und das war entscheidend – einer ebenso unpolitischen Natur, wie es Dr. Michaelis im Innern selbst war.
Als schon damals der Versuch auftrat, dem Kanzler wegen der Wahl seiner Mitarbeiter Schwierigkeiten zu machen, habe ich mich in einem Aufsatz der Nationalliberalen Korrespondenz »Vertrauensvolle Zusammenarbeit« auf das entschiedenste dagegen verwahrt, daß immer neue Krisen und Konflikte entfacht würden, habe für Verständigung plädiert, darauf hingewiesen, daß man draußen nicht verstände, wenn nicht endlich Ruhe gehalten würde. Aber der Zündstoff blieb. Er erhielt dadurch Nahrung, daß im Laufe der nächsten Wochen den Politikern klar zur Erkenntnis kam, daß dem Reichskanzler die Fähigkeit abginge, mit den Parteien die Basis für ein Zusammenwirken zu finden. Und zwar galt das nicht nur etwa für die Mehrheitsparteien des 19. Juli, sondern für alle Parteien des Reichstags. Es ist eine Tatsache, daß, von den Konservativen angefangen bis zur äußersten Linken jedermann aus den Verhandlungen im Hauptausschuß und aus den Vorbesprechungen beim Reichskanzler die Überzeugung gewann, daß diesem Kanzler das politische Augenmaß fehlte, das für diesen Posten gehörte. Man erlasse es mir, es an Einzelheiten zu belegen. Es würde dies unrichtig sein gegenüber einem Manne, der auf anderen Gebieten große Fähigkeiten bewiesen hatte, von dem ein fortschrittlicher viel beachteter deutscher Publizist sagte, daß er erstaunt gewesen sei über die Fülle der Gedanken, die ihm in bezug auf die deutsche Übergangswirtschaft, künftige Steuerpolitik und andere Pläne entströmt seien. Man merkte auch an den Reden von Dr. Michaelis, daß er sofort festen Boden unter den Füßen hatte, sobald es sich um wirtschaftliche Fragen handelte. Derselbe Boden fehlte ihm aber völlig in den Fragen der inneren und vor allem auch in den Fragen der äußeren Politik. Einen solchen Zusammenbruch der Verhandlungsfähigkeit mit den Parteien, wie er in den Vorverhandlungen des Kanzlers mit den Parteien vor den letzten entscheidenden Reichstagssitzungen zutage trat, hatte man bisher noch nicht erlebt.
Die Krisis nahm dann bei den Verhandlungen im Plenum ihren Anfang. Schon daß es zu der wilden Auseinandersetzung bei der Interpellation über die Vaterlandspartei kam, war die Schuld des Reichskanzlers und seiner Führung. Der Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion, Ebert, hatte den Kanzler davon in Kenntnis gesetzt, daß seine Fraktion Grund zu haben glaube, sich über ein nichtparitätisches Verhalten der Regierung gegenüber der Vaterlandspartei zu beschweren, hatte ihm Material darüber zur Verfügung gestellt, ihn gebeten, ihm Antwort zu geben bis zur ersten Fraktionssitzung der Sozialdemokratie, damit auf Grund dieser Antwort eine Interpellation sich gegebenenfalls vermeiden ließe. Wer die Persönlichkeit des Abgeordneten Ebert kennt, weiß, wie wenig er der Mann der Konflikte, wie sehr er der Mann der ruhigen Erledigung der Geschäfte ist. Wenn ihm auf Grund eines derartigen Versuchs, an einer Interpellation vorbeizukommen, von dem Kanzler eine Antwort überhaupt nicht gegeben wird, so darf man sich regierungsseitig über die Explosion einer derartigen Interpellationsdebatte nicht wundern. Aber sie wäre trotz des wenig geschickten Auftretens des Kriegsministers von Stein und des wie immer bei solchen Gelegenheiten unglücklichen Dr. Helfferich ohne Schaden vorbeigegangen, wenn der Kanzler nicht am nächsten Tage mit einem Vorstoß gegen die Sozialdemokratie zugleich die unglücklichste außenpolitische Handlung seiner Regierungszeit in Darlegungen über Vorgänge in der deutschen Flotte verbunden hätte. Wie völlig entstellt ist das Bild dieser Rede des Reichskanzlers in die Öffentlichkeit gekommen! Unsere Freunde im Lande erblickten in den Ausführungen des Kanzlers einen berechtigten Vorstoß gegen eine unerhörte Agitation der unabhängigen Sozialdemokraten in unserer Flotte. Sie verstanden nicht, daß dem Kanzler nicht genügend sekundiert wurde. Sie empfanden das, was verging, beinahe als einen Kotau gegenüber der Sozialdemokratie und standen innerlich erneut einem Vorgehen des Reichstags fassungslos oder scharf kritisch gegenüber.
Nun gehören auch diese Vorgänge zu denen, über welche gegenwärtig noch nicht abschließend gesprochen werden kann. Aber es scheint notwendig, auf folgendes zur Beachtung hinzuweisen:
Mehrere Wochen vor diesen Ereignissen hatte im Reichskanzlerhaus eine Besprechung des Kanzlers mit den Vorsitzenden der Fraktionen stattgefunden. Dabei waren Mitteilungen über Vorgänge in der deutschen Marine gemacht worden, Vorgänge bedenklicher Art, aber doch weit entfernt davon, irgendwie auch nur den Gedanken aufkommen zu lassen, als sei die Schlagfertigkeit unserer Flotte in irgendeinem Augenblick bedroht gewesen, als könne sie in irgendeinem Augenblick bedroht werden. Vielleicht war die Erklärung der Vorgänge an sich überhaupt nur darin zu suchen, daß die Flotte sich gegen ihren Willen nicht im Kampfe befinde. Ein Heer, das kämpft und vorwärts schreitet, hat Siegesbewußtsein, Mut und soldatisches Gefühl in sich. Welcher Geist unsere Flotte beherrscht, das haben die kühnen Taten unserer U-Boote, unserer Hilfskreuzer, das haben die Tage vom Skagerrak in leuchtenden Farben bewiesen. Aber wenn Wochen für Wochen, Monat für Monat und Jahr um Jahr verrinnt, ohne daß die großen Kampfschiffe auslaufen, ohne daß der kriegerische Geist irgendeine Betätigung findet, wenn der Soldat dann die Tage seiner Meinung nach nutzlos verbringt, sich überlegt, daß er nützlicher Arbeit entzogen wird, sieht, wie die Kameraden in den Munitionsfabriken verdienen, zu zweifeln anfängt, ob denn das alles nötig wäre, da er ja anscheinend zum Kampfe gar nicht gebraucht werde, da entstehen aus Beschwerden, die zunächst von der Menage ausgingen – leicht Strömungen, bei denen der Gedanke an alte Arbeiterkämpfe lebendig wird, Versammlungen abgehalten, Resolutionen gefaßt werden und dabei vergessen wird, daß man als Soldat sich im Kriege befindet und blinden Gehorsam schuldet. Greift dann das aufmerksam gemachte Offizierkorps in das Treiben ein, dann ist der Fall der Gehorsamsverweigerung, der Renitenz bald gegeben. Mit eiserner Strenge wird durchgegriffen, und der Schluß der Kriegsartikel tönt dumpf ins Ohr: »… soll mit dem Tode bestraft werden.«
Bei diesen Vorgängen handelte es sich um Rädelsführer, die mit der Unabhängigen Sozialdemokratie Fühlung gehabt hatten, in ihren Fraktionszimmern gewesen waren, mit ihren Führern gesprochen hatten. Es ist sofort möglich, daran zu denken, ob hier nicht engere Zusammenhänge bestehen, und die Unabhängige Sozialdemokratie soll in ihrer fraktionellen Vertretung nur nicht glauben, daß sie das Recht hätte, einen derartigen Verdacht einfach von sich abzuschütteln. Moralisch war sie mitschuldig an diesen Vorgängen. Wer Kreditverweigerer ist, wer seinem Vaterland in der Stunde der Entscheidung um sein Schicksal die Mittel verweigert, um weiterzukämpfen, der kann sich nicht wundern, wenn bei Menschen mit primitiver Geistesverfassung alsdann diese Gedanken weiterfressen und auch dahin führen, zu überlegen, ob man dem Lande nicht auch die Pflicht des Gehorsams im Heere verweigern dürfe. Herr Dittmann war der letzte, der sich über Todesurteile in Wilhelmshaven beklagen konnte. Der Kanzler, der mit aller Entschiedenheit die moralische Mitschuld dieser Herren festgestellt hatte, war des Beifalls bis in die Reihen der Sozialdemokratie im deutschen Volke und an der Front sicher gewesen.
Aber solange nach Meinung des Oberreichsanwalts der Anlaß zu einem Strafverfahren nicht gegeben war, durfte zunächst über die Anklage wegen der moralischen Mitschuld auch nicht hinausgegangen werden. Nachdem ferner das schärfste Urteil, das des Todes, an den drei Haupträdelsführern vollzogen worden war, durfte man nicht die Aussagen der zum Tode Verurteilten gegen die Lebenden verwenden, nachdem man den Lebenden nicht Gelegenheit gegeben hatte, in Gegenüberstellung mit den Verurteilten sich selber zur Sache zu äußern. Dagegen bäumt sich das einfachste Rechtsgefühl auf, daß die Aussagen eines Verstorbenen verwandt werden, ohne daß man dazu Stellung nehmen konnte. Es war unmöglich, an die Seite des Kanzlers in diesen Kampf zu treten, wenn die Dinge so aufgezogen wurden. Mit Recht sagte man sich: Entweder sind Dittmann und Genossen Landesverräter, dann gehören sie als Landesverräter angeklagt und bestraft, haben im Reichstag nichts mehr zu suchen und kein Reichstagsabgeordneter darf ihnen den Schutz der Immunität gewähren, ohne sich der Mithilfe des Landesverrats schuldig zu machen. Hat man aber die Voraussetzung einer solchen Anklage nicht in Händen, dann sehe man auch davon ab, mit einem stumpfen Schwert vorzugehen, anstatt sich auf die Feststellung der moralischen Mitschuld zu beschränken.
Aber das war nicht das Entscheidende an dem Vorgehen des Kanzlers. Solange Dittmann von den Vorgängen in der Marine sprach, war das für die Außenwelt belanglos. Daß bei einem Heer von vielen Millionen Menschen auch Verfehlungen und als deren Folge scharfe Urteile vorkommen, wird bei jeder kriegführenden Macht als selbstverständlich angesehen werden. Dadurch, daß der Kanzler die Dinge unterstrich und daß er sich dann dazu hinreißen ließ, den Tatsachen zuwider davon zu sprechen, daß diese Ereignisse die Flotte in einem kritischen Moment getroffen hätten, das war nicht zu ertragen. Wir machen uns in Deutschland keine Vorstellung davon, wie das Ausland solche Dinge ausschlachtet! Was seitdem der Telegraph über die ganze Welt gekabelt hat von den Meutereien in der deutschen Flotte, das hat uns unendlich im Ausland geschadet, hat den Eindruck hervorgerufen, als herrschten bei uns russische Zustände, hat das Bild des deutschen Flottensoldaten im In- und Auslande beschmutzt, derselben blauen Jungen, an denen wir mit ganzer Liebe hingen und auch weiterhin hängen dürfen. Ein Kanzler, der so wenig die Worte abwägt, die er spricht, so wenig sich dessen bewußt ist, was er vor der Welt an Schaden anrichtet mit seinen Reden, der besitzt nicht das Maß für seine Stellung. Das war der Eindruck, der sich aller bemächtigte, noch dazu, als man hörte, daß in der Nacht darauf, als man das ganze Unheil vor Augen sah, Telegraphen- und Telephonverbindungen mit dem Auslande abgeschnitten wurden, was die Aufmerksamkeit des Auslandes auf diese Vorgänge nur noch verstärkt hinstellte. Noch am selben Abend trat die Nationalliberale Fraktion zusammen und beauftragte ihren Vorsitzenden einmütig, falls im Laufe der ferneren Verhandlungen die Frage der Kanzlerschaft zur Erörterung käme, die einmütige Auffassung zum Ausdruck zu bringen, daß hier ein bedeutender Mann auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens auf den falschen Platz gestellt sei, von dem er möglichst bald wieder zurücktreten solle in seinem und in des Reiches Interesse.
Die Sozialdemokratie hatte bereits in der Reichstagssitzung selbst dem Kanzler eine Kampfansage gegeben. Der Abgeordnete Ebert, nach Temperament ganz verschieden von seinem Kollegen, dem Vorsitzenden Abgeordneten Scheidemann, hatte die Worte in den Saal geschleudert: »Jede Stunde, die diese Regierung noch im Amt sei, ist zum Schaden des Landes.« Man stand also neben der Erschütterung über das Versagen des Kanzlers bei jenen Flottendebatten noch auch vor der Gefahr, daß der Dezember die wildesten Parlamentskämpfe zwischen dem Kanzler und der Sozialdemokratie bringen würde. Infolgedessen wurden die interfraktionellen Besprechungen nach der Rückkehr des Kanzlers aus Kurland wieder aufgenommen, um zu der Frage des Reichskanzlerwechsels Stellung zu nehmen. Dabei mußte den Fraktionen von vornherein vor Augen stehen, daß es nicht lediglich darauf ankäme, etwa einen Kanzlerwechsel herbeizuführen. Denn wenn der neue Kanzler dieselben Schwierigkeiten finden würde wie sein Vorgänger, wenn die Oppositionsstellung wichtiger Parteien ihm gegenüber blieb, dann war gegen früher nichts geändert. Namentlich von seiten der beiden Mittelparteien, der Nationalliberalen und des Zentrums, wurde mit großer Entschiedenheit betont, daß ein festumrissenes Programm geschaffen werden müßte, welches einerseits eine gewisse Bindung für den Kanzler darstellte, andererseits aber auch die Parteien dahin bände, über dieses Programm hinaus keine weiteren Forderungen zu stellen, sich mit dessen Erfüllung zu begnügen und den Burgfrieden von neuem zu wahren. Auf diese Weise hoffte man eine reibungslose Erledigung der Zusammenarbeit zwischen Regierung und Parlament zu sichern, die innere Front wieder herzustellen, die Gewähr dafür geben zu können, daß unsere großen weltgeschichtlichen Siege draußen nicht durch innere Streitigkeiten in ihrer Wirkung abgeschwächt würden.
Das war der Grundgedanke, von dem die interfraktionellen Besprechungen ausgingen. Man mag zu ihm stehen wie man will, man wird doch anerkennen müssen, daß er einem gesunden Gefühl Ausdruck gab. Heraus aus der Zeit der Konflikte und Krisen, hinein in eine Zeit sachlicher und praktischer Arbeit. Das war doch schließlich der Gedanke, unter dem man sich wieder zusammenfinden wollte. Es hatte niemand ein Interesse daran, Kanzlerstürzerei um ihrer selbst willen zu treiben. Aber auch in Unterredungen mit konservativen Abgeordneten wurde einem von jedem Abgeordneten versichert, daß man den Kanzler zwar nicht stürzen, aber auch nicht stützen wolle. Niemals war der Reichstag so einheitlich in der Auffassung nach dem Wunsche eines Regierungswechsels wie hier. Nur wollte die Reichstagsmehrheit dem neuen Kanzler einen Weg bieten, bis zum Kriegsende einen Burgfrieden zu haben. War das wirklich wert, so angegriffen und derartig bekrittelt zu werden, wie wir das in Deutschland erlebt haben?
Man hat davon gesprochen, das Begehren des Parlaments sei auf nichts anderes hingegangen, als auf eine Pressionspolitik gegenüber der Krone. Man habe den neuen Kanzler eingeengt, indem man ihm Bedingungen vorgelegt habe, zu denen er sich hätte bekennen müssen. Andere Versionen sprechen davon, daß man die Ernennung selbst hätte in die Hand nehmen sollen. Leider laufen überall soviele Gerüchte umher, weil eines vornherein geeignet war, den ganzen Charakter der interfraktionellen Besprechungen in ein falsches Licht zu ziehen, und das war die Sensationslust eines gewissen Teils der reichshauptstädtischen Presse. Es war unmöglich, die richtigen Mitteilungen von den unrichtigen zu sondieren, die in der Presseberichterstattung umherliefen. Viele angesehene Blätter schätzten anscheinend die Sensationslust höher ein als ihr Verantwortlichkeitsgefühl. Man sah mit Erstaunen an manchen Tagen spaltenlange Berichte über die interfraktionellen Besprechungen zu einer Stunde, in der diese selbst noch gar nicht begonnen hatten. Der bittere Hohn, mit dem der »Simplizissimus« die Presse tadelt, die für die gewaltigen Erfolge unserer Heere nur den Stift ihres militärischen Berichterstatters, für eine Kanzlerkrise aber alle Spalten und alle Hauptüberschriften ihrer Seiten voll hatte, ist leider nur zu berechtigt.
Wäre diese sensationelle Aufmachung nicht gewesen, dann glaube ich nicht, daß das deutsche Volk sich erregt hätte, wenn es eines Tages erführe, durch Entschlüsse der Fraktionen sei erreicht worden, daß der Reichskanzler Dr. Michaelis zurücktrete, der neu berufene Kanzler sich mit den Fraktionen über ein Programm geeinigt habe, das bis zum Friedensschlusse durchgeführt werden solle, daß zwei Vertrauensmänner aus dem Parlament für das Amt des Vizekanzlers und preußischen Vizepräsidenten des Staatsministeriums berufen seien und die Parteien als Gegenleistung für die Durchführung des Arbeitsprogramms eine burgfriedliche Erledigung der parlamentarischen Geschäfte auf sich genommen hätten. Man hätte im Gegenteil aufgeatmet, sich gesagt, daß man aus der Zeit der Krisen und Konflikte herauskommen wolle und in dem Eintritt von Persönlichkeiten wie Payer und Friedberg nur eine wünschenswerte Bereicherung unserer ministeriellen Kräfte, in dem Ausscheiden Dr. Helfferichs das bedauerliche Ausscheiden des hervorragenden Fachmannes, aber schlechten Politikers gesehen.
Demgegenüber beklagen rechtsstehende Politiker und Preßorgane, die Krone sei vor einem wildgewordenen Parlament gedemütigt worden. Niemals ist davon die Rede gewesen. Gewiß, es mag ungewöhnlich erscheinen, daß große Fraktionen des Reichstags dem Chef des Zivilkabinetts zu erkennen geben, daß sie den Rücktritt eines Reichskanzlers für richtig erachteten. Aber eines ist doch seltsam bei der Stellungnahme der konservativen Presse. Als die Nationalliberale Fraktion im Juli den Rücktritt Bethmanns forderte, da brachten das konservative und alldeutsche Organe im jubelnden Fettdruck, und keine Stimme der Kritik regte sich, die etwa in diesem Beschlusse der Fraktion einen unerhörten Eingriff in die Kronrechte gesehen hätte. War es ein Recht des Parlaments, den Rücktritt des Kanzlers seitens der Fraktionen zu fordern, so war dieses Recht im November ebenso gegeben wie im Juli. Sehe man den Dingen doch klar in die Augen! Ist es denn nicht offener und auch für die Krone wünschenswerter, wenn die Parteien durch ihre Führer dem Chef des Zivilkabinetts ihre Meinung zum Ausdruck bringen, als wenn sie sich auf Hintertreppen begaben, sich hinter die Hofkamarilla stellten oder auf sonstigen Wegen ähnlicher Art Einfluß zu erreichen suchten? Drei Jahre sind vergangen, ehe der Kaiser die Führer der Fraktionen seinerseits einmal gesehen hatte. Ob der Monarch in geeigneter Weise über die Auffassung der Öffentlichkeit unterrichtet war, wußte niemand zu sagen. Bitter genug ist es in den Zeiten Bethmanns von den wirtschaftlichen Verbänden und politischen Parteien beklagt worden, daß man zu des Kaisers Ohren nicht gelangen könne. Jetzt unternahmen vier Fraktionen des Reichstages, jede für sich, den Schritt, dem Kaiser zum Ausdruck zu bringen, daß sie in dem Weiterbleiben des Kanzlers eine Gefahr für die sichere Fortführung der Staatsgeschäfte sähen. Möge den ersten Stein aufheben wer will, vom liberalen Standpunkt aus kann er ihn nicht schleudern.
Es ist unwahr, daß gleichzeitig die Fraktionen des Reichstages versucht hätten, einen Nachfolger für Michaelis zu präsentieren. Sie haben sich naturgemäß mit der Frage beschäftigen müssen, was sie antworten würden, wenn seitens des Chefs des Zivilkabinetts oder seitens des Kaisers selbst die Frage an sie gerichtet würde, ob sie ihrerseits bereit wären, dem Kaiser einen Kandidaten zu benennen, der ihnen als der richtige Mann dieser Stunde erschiene. Als der Besuch bei Herrn von Valentini stattfand, sind diejenigen Männer, die bei ihm waren, sich darüber einig gewesen, ihm auf seine Frage zu antworten, daß die Ernennung des Nachfolgers des Herrn Dr. Michaelis Sache des Kaisers wäre. Für den Fall einer direkten Aufforderung des Kaisers wären die Parteien bereit gewesen, der Frage des Vorschlags einer Kandidatur näherzutreten. Ob ein solcher einmütiger Vorschlag zustande gekommen wäre, mag zweifelhaft sein, da die hier prozedierenden Fraktionen nicht eine einheitliche Grundauffassung der inneren und äußeren Politik zusammenband, sondern nur der Gedanke, durch gemeinsames Handeln in einem gewissen Moment der Kriegszeit Friktionen und Erschütterungen vom Reiche fernzuhalten. Daß ich persönlich den Fürsten Bülow als denjenigen bezeichnet hätte, der meiner Auffassung nach jetzt als stärkste politische Potenz am besten in der Lage wäre, an die Spitze des Reiches zu treten, habe ich in dem Aufsatz über »Hertlings Kanzlerschaft« zum Ausdruck gebracht. Andere Namen, andere Persönlichkeiten wurden genannt; irgendein Beschluß wurde nicht gefaßt, weil die Voraussetzung einer Befragung nicht eintrat. Unwahr aber ist, wenn verbreitet wird, daß die Parteien den Gedanken gefaßt hätten, dem Kaiser eine Persönlichkeit aufzudrängen, irgendwie in das Ernennungsrecht der Krone einzugreifen und Parlamentsherrschaft an Stelle von Königsherrschaft zu stellen. Die Krone war frei in der Genehmigung des Rücktrittsgesuches des Kanzlers, war frei in der Ernennung seines Nachfolgers, frei in der Befragung der Parteien über diese Ernennung.
Der Kaiser wandte sich nach Bethmanns Entlassung an den Grafen Hertling in München und bat ihn, die Nachfolgerschaft des Herrn Dr. Michaelis im Reichskanzleramt zu übernehmen, während Dr. Michaelis gleichzeitig Präsident des preußischen Staatsministeriums werden sollte. Graf Hertling glaubte diesmal sich dem Rufe des Kaisers nicht versagen zu dürfen. Der Führer des Zentrums und gewiegte Politiker glaubte aber seinerseits sich des Beistandes der Fraktionen vergewissern zu müssen, ehe er die Bürde des Amtes übernahm. Überrascht hörten die Parteiführer eines Tages, daß Graf Hertling zum Nachfolger Bethmanns berufen sei. Sie nahmen zu der neuen Situation Stellung, wurden vom Grafen Hertling empfangen und sagten ihm übereinstimmend, daß sie ihm die erbetene Unterstützung nicht zu gewähren vermöchten. Selbst in Kreisen des Zentrums regten sich starke Bedenken gegen die Trennung des Amtes des Reichskanzlers von dem des preußischen Ministerpräsidenten. In Kreisen des Fortschritts und der Sozialdemokratie sah man in Hertling den konservativ gerichteten Mann, der einst von einem Block der Rechten gesprochen hatte, den Gegner einer weitgehenden Parlamentarisierung, den Gegner der Autonomie von Elsaß-Lothringen. Vom nationalliberalen Standpunkt aus waren die Bedenken gegen die Trennung des Reiches von Preußen nicht minder gewichtig wie bei anderen Parteien. Dazu kam das Imponderabile, ob man der protestantischen Vormacht Europas zumuten konnte, in dem Augenblick, wo sich dieser Protestantismus anschickte, das 400 jährige Reformationsfest zu feiern, einen Zentrumsführer als Kanzler zu ertragen. In Kreisen der preußischen Nationalliberalen wäre dazu das Gefühl einer gewissen Zurücksetzung vorhanden gewesen, wenn der Mann, der als Reichskanzler nicht zu halten war, doch für würdig angesehen wurde, an der Spitze des preußischen Staatsministeriums zu bleiben. Von keinem der Parteiführer vernahm Graf Hertling ein hingebungsvoll unterstützendes Wort. Nur schwer entschlossen, die Bürde des Amtes zu übernehmen, schien er erleichtert, in das ihm liebere Amt des bayerischen Ministerpräsidenten zurückkehren zu können, etwa damals von denselben Empfindungen beseelt, mit denen Herr Dr. Schwander das Straßburger Oberbürgermeisteramt wieder begrüßen wird, nachdem er im Staatssekretariat in Berlin ganz andere Widerstände und das Einsetzen einer ganz anderen Nervenkraft erfahren hatte.
Die Fraktionen, die bis dahin die Verhandlungen mit dem Grafen Hertling geführt hatten, fühlten sich veranlaßt, ihm durch einen Abgeordneten zum Ausdruck zu bringen, daß sie seiner Persönlichkeit die größte Wertschätzung entgegenbrächten, ihm dafür dankten, daß er vor seiner Ernennung mit dem Parlament Fühlung genommen hätte und bäten, ihre sachlichen Bedenken gegen seine Kanzlerschaft nicht als gegen seine Person gerichtet anzusehen. So fest war man überzeugt, daß die Mission des Grafen Hertling gescheitert sei. Da wurden am nächsten Tage die Verhandlungen neu aufgenommen. Der Staatssekretär von Kühlmann ward der Mittelsmann zwischen der Regierung und den Parteien. Anscheinend war man in Regierungskreisen darüber bestürzt, daß Graf Hertling zurücktreten wollte, sah als entscheidende Schwierigkeit die Trennung des Kanzlers vom Ministerpräsidenten und versuchte mit den Parteien aufs neue auf der Basis der Wiedervereinigung beider Ämter zu verhandeln. Graf Hertling hatte seinerseits weitere Verhandlungen abgelehnt, nachdem er sich gewissermaßen von den Parteien selbst verabschiedet hatte. So wurden die Verhandlungen von dem im Verkehr mit den Parteien äußerst gewandten Staatssekretär des Äußeren aufgenommen. Die Bedenken, die in der Trennung der beiden Gewalten Preußens und Reich lagen – Bedenken, die gegenüber nationalliberalen Männern nicht begründet zu werden brauchen –, wurden beseitigt. Nun kam es darauf an, die politischen Bedenken der Linken, die kulturellen Bedenken der Nationalliberalen aus der Welt zu schaffen, um auch den Schein des Odiums einer Zentrumsherrschaft in Deutschland zu beseitigen, eine Frage, zu der übrigens die Vertreter des Zentrums eine sehr objektive Stellung einnahmen, da sie für die Empfindungen ihrer evangelischen Mitbürger in dieser Beziehung weitgehendes Verständnis besaßen.
In einem früheren Stadium der interfraktionellen Verhandlungen war für den Fall einer anderen möglichen Kanzlerschaft bereits der Gedanke aufgetaucht, daß demgegenüber eine nationalliberale Führung im Vizepräsidium in Preußen nötig sei, für uns Nationalliberale aus kulturellen Gründen, für die Parteien der Linken aus dem Wunsche heraus, daß die Erledigung der Wahlreform in Preußen bei einer solchen Mitarbeiterschaft der Nationalliberalen mehr gewährleistet sei. Regierungsseitig wurden jetzt, nachdem die Kanzlerschaft Graf Hertlings erneut zur Debatte stand, von vornherein keine Einwendungen dagegen erhoben, daß der Nationalliberalen Partei das Vizepräsidium im preußischen Staatsministerium anzubieten sei. Nach kurzer Debatte über die hierfür in Betracht kommende Person war man ebenso einmütig der Auffassung, daß der Führer der Nationalliberalen Landtagsfraktion und Vorsitzende des Zentralvorstandes die einzig gegebene Persönlichkeit sei, um dieses Amt zu übernehmen. Besprechungen von ihm mit seinen Parteifreunden ergaben keine einmütige Auffassung über die Zweckmäßigkeit seines Eintrittes, führten aber schließlich dazu, daß mit seinem grundsätzlichen Einverständnis zu rechnen sein dürfte.
Aus der sich jetzt ergebenden Situation heraus, daß unter Umständen Graf Hertling annehmen würde, daß Geheimrat Friedberg das hohe Amt des Vizepräsidiums im preußischen Staatsministerium annehmen würde, entsprang die Frage einer weiteren Vertretung der Parteien, denn man konnte und wollte den neuen Kanzler Hertling nicht von dem früheren Zentrumsführer Hertling trennen. War aber in ihm gewissermaßen eine Vertretung des Zentrums gegeben, stand in Preußen ein Nationalliberaler als sein Vertreter ihm zur Seite, so lag es nahe zu fragen, ob dann nicht überhaupt der Gedanke eines Koalitionsministeriums der gegebene sei, um den Burgfrieden der Parteien durch Mitwirkung von Vertrauensmännern in der Regierung zum Ausdruck zu bringen, oder ob nicht zum mindesten eine Ergänzung nach der linken Seite hin durch Eintritt fortschrittlicher und sozialistischer Parlamentarier in die Regierung zu rechnen sei.
Der Gedanke einer deutschen Koalitionsregierung hat führende Kreise des Parlaments schon zu Bassermanns Lebzeiten beschäftigt. Bassermann selbst hat wiederholt dem Gedanken Ausdruck gegeben, daß man an dem großen Gegensatz nicht vorbeikomme zwischen den wirtschaftlichen, technischen und geistigen Leistungen unseres Volkes auf der einen Seite und dem Versagen unserer politischen Vertreter nach innen und außen auf der anderen Seite. Mit welcher Schärfe er der Regierung unter Bethmann gegenüberstand, ist ja weit über die Kreise seiner engeren Freunde hinaus bekannt. Mit ihm zusammen ist von den verschiedensten Seiten die Frage erörtert worden, ob nicht in diesem Kriege innerpolitisch die Reibungen am besten zu erledigen seien, wenn Westarp, Bassermann, Spahn, Payer und David in die Regierung einträten, dadurch die Möglichkeit hätten, sich auch über die außenpolitischen Fragen zu unterrichten, den Konnex zwischen der Regierung und Volksvertretung aufrecht zu erhalten, die Tagung des Parlaments dadurch von Krisen loszulösen, daß die Fraktionen wüßten, ihre Führer seien zu jeder Zeit in der Lage, in die Regierungsgeschäfte und in die Auslandspolitik Einblick zu nehmen. Der ganze Gedanke der Aufhebung des Artikels 9 der Verfassung entstammte diesem Gedanken. Leider wurde er von vornherein von konservativer Seite nur mattherzig unterstützt oder aus grundsätzlicher Erwägung zurückgewiesen. Auch hier berührten sich wieder die Extreme. Die Konservativen hatten ebenso eine Scheu vor dem Neuartigen, einer Aufgabe ihres alten Widerstandes gegen die Parlamentarisierung der Regierung, wie die Sozialdemokratie gegen die Aufgabe ihrer früheren grundsätzlichen Opposition gegen die Mitarbeit im Staate. Die auch von hohen Stellen in der Umgebung des Kaisers unterstützten Bestrebungen, lange vor den Juli-Ereignissen des Jahres 1917 einen Zusammenhalt der inneren geschlossenen Front durch ein solches Koalitionskabinett herzustellen, kamen leider nicht zu einem Ergebnis. Wir wären nie zu dem 19. Juli gekommen, wenn wir diesen Weg vorher gegangen wären. Jetzt kam nach dem 19. Juli die Regierung Michaelis' mit dem schwachen Anflug einer Parlamentarisierung. Jetzt stand man im November vor der Frage, ob eine weitgehende Parlamentarisierung stattfinden, wie weit sie ausgedehnt werden solle.
Auch diesmal schieden zunächst die Sozialdemokraten aus, schieden aus im Widerspruch zu den Ausführungen Scheidemanns in Würzburg, die damals den Anschein erweckten, als wenn auf verantwortungsvolle Mitarbeit der Sozialdemokratie mit dem Staat gerechnet werden könnte, schieden aus wegen der Einengung der Sozialdemokratie, die man bei ihrer ganzen Haltung und all ihren Handlungen im Kriege ins Auge fassen muß: im Schielen nach der Aufrechterhaltung des Einflusses in den Arbeiterkreisen gegenüber der Unabhängigen Sozialdemokratie. Scheidemann hält keine Rede, ohne sich genau zu überlegen, bei welchem Passus dieser Rede Ledebour oder der weit geschicktere Haase etwa einhaken könnten. Man sah aus der bisherigen Entwicklung der sozialistischen Bewegung, daß ein Teil der Anhängerschaft die Mitarbeit im Staate nicht mitmachte, sah ein gewisses Weiterabsplittern von Scheidemann zu Ledebour sich im Laufe der Weiterentwicklung des Krieges vollziehen und fürchtete anscheinend, daß die Hofgängerei und Ministergängerei diesen Entwicklungsprozeß nach links beschleunigen würde. Man hatte nicht den Mut der eigenen Courage, war innerlich wohl längst davon überzeugt, daß es logischerweise gar nichts anderes gäbe als einen Kandidaten für ein Ministerium zu stellen, glaubte aber aus taktischen Gründen sich noch zurückhalten zu müssen. So schied zunächst die Sozialdemokratie von einer Beteiligung an der Regierung aus, und damit entschwand auch die Schwierigkeit, die Frage zu erörtern, wie und in welcher Form eine solche Beteiligung sich etwa hätte ermöglichen lassen.
Es schied aber auch aus die konservative Partei. Denn nachdem der König von Preußen sich zu dem Gedanken der gleichen Wahl durch das oft kritisierte Vorgehen Bethmanns hatte drängen lassen, war es selbstverständlich, daß seine Minister nunmehr diesen Standpunkt ihres Königs auch zu vertreten hatten. Noch ist die konservative Partei aber weit entfernt, sich zu dem Gedanken einer Durchführung der Wahlreform zu bekennen. Selbst den Eintritt eines Konservativen in ein nicht dem Range eines Staatsministers gleichstehendes Amt soll der konservative Führer Heydebrandt gutbeglaubigten Gerüchten zufolge ziemlich rücksichtslos verhindert haben. Stellte sich aber die konservative Partei auf den intransigenten Standpunkt, über die Wahlvorlage des Königs nicht mit sich reden zu lassen, dann mußte sie logischerweise auch ihrerseits aus der Kombination herausbleiben. Damit war die Mitwirkung der Parteien auf Zentrum, Nationalliberale und Fortschrittler beschränkt. Es interessiert in diesem Zusammenhänge nicht, die Phase besonders zu betonen, die in der Differenz zwischen den fortschrittlichen Ansprüchen und ihrer Erfüllung liegt. Man würde an das alte Gedicht aus der Schulzeit erinnert »sie hätten sich sollen begnügen«. Das unberechtigte Verlangen, den Vizekanzlerposten und ein preußisches Staatsministerium zu besetzen, führte 48 Stunden lang auch zu einer Friedbergkrise, führte zur Ablehnung des dem Geheimrat Friedberg bereits angetragenen Postens und wurde durch das entschiedene Auftreten der Nationalliberalen Fraktion dadurch gelöst, daß man fortschrittlicherseits sich mit einem Sitz begnügte, wobei – wie anderen Mitteilungen gegenüber festgestellt werden muß – es die Regierungsseite war, die zum Ausdruck brachte, daß die Besetzung des Vizekanzlerpostens eher möglich sei als die Konzedierung der Stellen eines preußischen Staatsministers. Herr von Payer hatte sich inzwischen trotz gesundheitlicher Beschwerden bereit erklärt, das Amt des Vizekanzlers anzunehmen. Auf der Basis der Ernennung von Hertling, Friedberg und Payer wurde die Einigung vollzogen.
Herr von Payer ist allerdings nicht nur der Vertrauensmann der Fortschrittspartei, sondern auch darüber hinaus der Vertrauensmann der Sozialdemokratie, die ihn mit präsentierte. Damit ist gewissermaßen eine Entwicklung gekennzeichnet, der Herr Conrad Haußmann offen Ausdruck gab. Wenn Zentrum und Nationalliberale ihrerseits den Weg der Verständigung mit der Linken nicht gefunden hätten, dann würde die Linke für sich allein operiert haben. Also die Drohung mit einem fortschrittlich-sozialistischen Kartell der Zukunft; Ausblicke, die auch für kommende Wahlkämpfe von Bedeutung sind und den Parteileitern in den einzelnen Landesteilen und Provinzen zu denken geben sollten.
Das Kriegsprogramm, auf das man sich geeinigt hat, sprach in bezug auf die Haltung der Regierung zu den Fragen der Außenpolitik davon, daß diese Politik auf der Grundlage der deutschen Antwort auf die Papstnote beruhen solle. Herr von Kühlmann betonte kürzlich im Hauptausschuß davon, daß die Grundlagen der deutschen Antwort an den Papst von allen Parteien des Hauptausschusses im Siebenerausschuß einmütig gebilligt worden seien. Er hatte recht darin: »die Grundlagen« der deutschen Antwort auf die Papstnote waren von Westarp bis Scheidemann gebilligt worden. Alles, was darin zum Ausdruck kommt von den Beschränkungen der Rüstungen, von der Annehmbarkeit der Frage der Schiedsgerichte, soweit Lebensinteressen Deutschlands nicht in Betracht kommen, konnte von allen Parteien gebilligt werden. Aus den Beratungen der Regierung mit dem Siebenerausschuß hätte eine völlige Einmütigkeit gegenüber dem In- und Auslande hervorgehen sollen. Diese Einmütigkeit ist dadurch gestört worden, daß nachträglich die Berufung auf den 19. Juli in die Papstnote hineingenommen worden ist. In dem Schlußwort, das sich an die Diskussionen des Siebenerausschusses anschloß, hat der Reichskanzler Dr. Michaelis diese Berufung auf den 19. Juli, die namentlich von sozialdemokratischer Seite gewünscht worden war, konzediert. Diese Konzession, zu der eine sachliche Berechtigung nicht vorlag, hat den Vertreter der nationalliberalen Fraktion im Siebenerausschuß sofort zu der Bemerkung veranlaßt, daß er unter diesen Umständen seine Zustimmung zu der Antwortnote zurückziehen müßte. Diesem Einspruch hat sich Graf Westarp namens der Konservativen angeschlossen. Man hat in konservativen Blättern den Eindruck zu erwecken versucht, als hätte die Nationalliberale Fraktion, wenn sie jetzt von einer Zustimmung zu der deutschen Antwortnote an den Papst spricht, diese damalige Haltung aufgegeben. Das ist irrig. Von einem führenden Mitglied des Zentrums ist ausdrücklich bei den interfraktionellen Besprechungen betont worden, mit der Bezugnahme auf die päpstliche Antwortnote sei nicht mehr der 19. Juli, sondern der 19. September maßgebend. Der 19. Juli sei damit in den Hintergrund getreten. Von seiner Seite aus wurde richtig betont, daß die Nationalliberalen auf den Boden des 19. Juli nicht treten könnten. Wer die Stimmung in Zentrumskreisen einigermaßen kennt, weiß, wie starke Widerstände gegen die Entschließung des 19. Juli in ihr lebendig waren und auch in maßgebenden Parteiinstanzen zum Ausdruck kommen. Der Beschluß des Reichsausschusses der Zentrumspartei ließ dies deutlich erkennen. Herr Fehrenbach hat in seinen Ausführungen zum Etat des Auswärtigen Amtes ausdrücklich darauf hingewiesen, daß der Beschluß des 19. Juli zeitlich begrenzt sei und nicht für die Ewigkeit Dauer habe. Der Abgeordnete Müller-Meiningen hatte im bayerischen Landtag die Stellung seiner liberalen Freunde in einer Weise dargelegt, die keinen Zweifel ließ, daß sie nicht für den Verzichtfrieden, sondern für den Frieden einträten, der Deutschland Gebietserweiterungen brächte. Viele inzwischen angenommene Zentrumsentschließungen und fortschrittliche Resolutionen sind in ihrem Wortlaut sehr bedeutsam vom Sinne der damaligen Resolution abgerückt. Der fortschrittliche Abgeordnete Schepp hat im »Roten Tag« sogar zum Ausdruck gebracht, daß der Reichstag eine Entschließung fassen möge, worin er die Entschließung des 19. Juli als erledigt ansehen möchte. Man wird daher auch in der ausdrücklichen Wahl der Antwort auf die Papstnote ein langsames Abrücken von der durch die Ereignisse überholten Entschließung des 19. Juli erblicken können. Nationalliberalerseits hat man aber ausdrücklich eine Entschließung des Vorstandes zum Ausdruck gebracht, daß für die Fraktion jedenfalls die Antwort auf die Papstnote nur insoweit Geltung haben kann, als darin allgemeine Grundsätze zum Ausdruck kommen, daß dagegen jede Bezugnahme auf den 19. Juli von der Fraktion abgelehnt wird. Nur illoyale Handlungsweise kann daher von irgendeinem Frontwechsel der Fraktion sprechen.
Der sozialpolitische Teil des Kriegsprogramms umfaßt einmal die Forderung der Einbringung eines Arbeitskammergesetzes. Das Gesetz ist einstmalig daran gescheitert, daß man sich über die Wählbarkeit der Berufsbeamten in die Arbeitskammern nicht zu einigen vermochte. Der Gewerkschaftsbeamte erschien der Öffentlichkeit als der unsachliche, ungeeignete Vertreter der Arbeiterinteressen, als der Agitator an sich, der selber dem Leben des Arbeiters fremd sei und deshalb mehr verhetzend als versöhnend wirkte. Dieses Bild war schon in Friedenszeiten ein sehr umstrittenes. Hervorragende Vertreter der Arbeitgeberverbände haben die Stellung der Gewerkschaftsbeamten schon in Friedenszeiten anerkannt und darauf hingewiesen, wie notwendig ihre Tätigkeit sei. Der Vorsitzende eines großen Metallindustriellenverbandes hat im Frieden wiederholt darauf hingewiesen, daß die von den Arbeitern in die Verhandlungen entsandten Vertrauensmänner doch nur die Briefträger der Meinungen der Organisation wären und daß es ihm lieber sei, mit den offiziellen Beauftragten der Gewerkschaften zu verhandeln, die letzten Endes über die Dinge entschieden. In der Tat gehen die Dinge in unserer Entwicklung dahin, daß die Arbeitgeber in den letzten Jahren in ihren Organisationen das gewaltig nachgeholt haben, was sie gegenüber den mächtig Heranwachsenden Gewerkschaftsorganisationen an eigener Organisationstätigkeit versäumten. Organisation kämpfte gegen Organisation. Der Friedensschluß des Vergleichs wird oft dem Auskämpfen vorgezogen. An die Stelle von Streiks und der Gegenmaßregel der Aussperrung treten Vereinbarungen auf kürzere und auf längere Dauer. Immer mehr wurde anerkannt, daß sich die Gewerkschaftsführer dabei von einem realen Sinn und von einer Verantwortlichkeit für die von ihnen bekleidete Stellung leiten ließen. Dieses Verantwortlichkeitsgefühl haben sie aber vor allem im Kriege gegenüber dem Staat bewiesen. Mögen hier und da bedauerliche Vorkommnisse sich ereignet haben, mögen vielleicht mit Recht die enormen Lohnsteigerungen in manchen Fabriken als ungesund erscheinen: die Tatsache, daß wir ohne große das soziale und Wirtschaftsleben erschütternde Streiks diesen gewaltigen Krieg durchgehalten haben, ist doch ein Ruhmesblatt in der Geschichte der deutschen Arbeiterschaft. So entschieden man gerade vom liberalen Standpunkt aus die Unduldsamkeit der Gewerkschaftsorganisationen mißbilligte, die sich gegen die Gebilde wandten, die nicht auf ihrem Boden stehen, so dankbar muß anerkannt werden, was die Gewerkschaften im Kriege geleistet haben. Einen Gewerkschaftsführer deshalb als unwürdig anzusehen, in die Arbeitskammern einzutreten, wird heute nicht mehr angängig sein. Damit scheinen aber die hauptsächlichsten Bedenken hinfällig, die nationalliberalerseits seinerzeit geltend gemacht worden sind – das Gesetz dürfte wohl auf ziemlich einstimmige Annahme im Reichstag zu rechnen haben. Ob es ein Instrument des sozialen Friedens sein wird, wird allerdings erst seine Entwicklung zu beweisen haben.
Lebhafter umstritten als das Arbeitskammergesetz ist die Aufhebung des § 153 der Gewerbeordnung. Wenn man zunächst den Wortlaut dieses Paragraphen liest, der davon spricht, daß die Vergewaltigung in Arbeitskämpfen bestraft werden soll, dann versteht man nicht, wie diese selbstverständliche Forderung der Freiheit des Willens des einzelnen hier von den Parteien zugunsten der Willkür preisgegeben werden soll. Tatsächlich ist es aber eine Irreführung, wenn es so hingestellt wird, als solle in Zukunft die Willkür der Faust an die Stelle der Freiheit der Entschließung des einzelnen treten. Denn auch wenn der $ 153 der Gewerbeordnung fällt, bleibt doch $ 240 des Strafgesetzbuches bestehen, der demjenigen Strafe androht, der es unternimmt, einen anderen gegen seinen Willen zu einer Handlung oder zur Unterlassung einer Handlung zu zwingen. So selbstverständlich es an sich ist, so muß doch auch einmal festgestellt werden, daß der im Strafgesetzbuch gegebene Schutz gegen Nötigung auch für die Arbeiterkämpfe in Zukunft Anwendung finden kann.
Heftig umkämpft ist schließlich die Fassung des Programms, daß der neue Kanzler als Ministerpräsident für die loyale und baldige Durchführung der Wahlreform in Preußen eintreten möge. Man hat hierin ein Übergreifen auf die preußische Gesetzgebung gesehen und bitter beklagt, daß die Reichstagsfraktion hier in Angelegenheiten der preußischen Landtagsfraktion sich einmische. Aber man frage sich einmal, was denn sachlich in diesem Beschlusse gegenüber den bestehenden Tatsachen geändert wird? Glaubt man denn, daß der König von Preußen irgendeinen preußischen Ministerpräsidenten ernennen könnte, der, nachdem einmal die preußische Wahlreform in der Form des gleichen Wahlrechts vom König zugesagt worden ist, sich jetzt seinerseits gegen eine loyale und baldige Wahlreform erklären könne? Grollend wird, wie ich kürzlich an anderer Stelle ausgeführt habe, darauf hingewiesen, daß Herr Friedberg als Staatsminister nun auch für die Wahlvorlage des Königs eintreten würde, und daß das der Auffassung der Nationalliberalen Partei widerspräche, die niemals das gleiche Wahlrecht für Preußen als ein gerechtes gefordert hätte. Daß das gleiche Wahlrecht seine großen Schattenseiten hat, wird niemand übersehen. Bis zum heutigen Tage erscheint es mir seltsam, daß der geniale Baumeister des Deutschen Reiches dem deutschen Volke im Reiche das freieste Wahlrecht gab, ohne durch Schaffung eines Reichsoberhauses gleichzeitig eine gewisse Sicherheit gegenüber einem Überwiegen rein volkstümlicher Stimmungen in den Entscheidungen des Reichstages zu geben. Nach meiner persönlichen Auffassung würde ich für Preußen ein Pluralrecht für das gerechteste halten, wenn es auf derjenigen Grundlage aufgebaut würde, mit der man beispielsweise in Sachsen die glückliche Zusammensetzung des dortigen Parlaments geschaffen hat. Wenn das heute nicht mehr möglich ist, so liegt das neben der gekennzeichneten persönlichen Politik Bethmanns in den Julitagen, vor allem an der konservativen Partei, die lieber Bülow stürzte, als daß sie die damals von ihm gegebene Zusage der Reform des preußischen Wahlrechts in die Wirklichkeit umsetzte. Damals konnte die konservative Partei ein Pluralwahlrecht mit weitgehenden Kautelen gegen eine Demokratisierung des preußischen Abgeordnetenhauses haben. »Was du von der Minute ausgeschlagen, bringt keine Ewigkeit zurück.« Alle nationalliberalen Anregungen auf Reform des preußischen Wahlrechts wurden achtlos in den Wind geschlagen, bis mit dem Kriege selbst nicht nur der Gedanke der Aufrechterhaltung des Dreiklassenwahlrechts völlig zusammenbrach, sondern auch die Stimmung der öffentlichen Meinung über das Pluralwahlrecht hinauszugehen begann.
In der heutigen Situation ist das Wort des Königs für die Übertragung des gleichen Wahlrechts auf Preußen gegeben. Gewiß nimmt das an sich dem Abgeordnetenhause nicht die Bewegungsfreiheit. Aber daß der König bei Ablehnung der Vorlage zur Auflösung des Abgeordnetenhauses gezwungen sein würde, ist ebenso sicher. Was neue Landtagswahlen in der Kriegszeit bedeuten, braucht hier nicht dargelegt zu werden. Sie wären der Tod des Burgfrieden, wären der Auftakt zu den leidenschaftlichsten Kämpfen, die wir jemals gesehen hätten. Würde der neue Landtag das Wahlrecht abermals ablehnen, so wäre die Belastungsprobe, die sich daraus ergibt, äußerst schwer zu ertragen. Die Monarchie ist durch ihren Kanzler Bethmann in einer Weise in die vorderste Feuerzone des öffentlichen Kampfes gestellt worden, daß sie sich ohne schwerste Opfer für ihre einzigartige Stellung gegenüber dem deutschen Volke nicht aus dieser Feuerzone zurückziehen kann. Deshalb war es das monarchische Gefühl, das Friedberg in erster Linie bewog, über heftige Seelenkämpfe hinweg sich dem Rufe seines Königs nicht zu versagen, war es auch hier der Gedanke des Burgfriedens in Preußen, der den Ausschlag für die Stellung des Führers der preußischen Nationalliberalen gab.
Gewiß kann man berechtigterweise fragen, ob denn die Einbringung des Arbeitskammergesetzes jetzt drängte, ob jetzt die Aufhebung des § 153 sich als notwendig erwiese, ob man denn jetzt der Sozialdemokratie Konzessionen machen müßte, für die ein praktischer Anlaß in den Verhältnissen kaum gegeben wäre. Aber abgesehen davon, daß diese Forderungen nicht nur Forderungen der Sozialdemokratie, sondern Forderungen auch des überwiegenden Teiles der nationalen Arbeiterverbände sind, möge man doch das eine nicht vergessen, daß es jetzt darauf ankam, die Sozialdemokratie in demjenigen Gefühl verantwortungsvoller Mitarbeit an den Staatsaufgaben zu erhalten, das sie, von ihren Kundgebungen in der Kriegszielfrage abgesehen, bisher gehalten hatten. Es ist leicht zu sagen, der Burgfrieden müsse ohne Gegenleistung gehalten werden. Tatsächlich liegen doch die Dinge so, daß die Sozialdemokratie bisher die Partei der Unzufriedenen war, die der Opposition der Unzufriedenen am lautesten Ausdruck gab. Die große Woge der Begeisterung des August 1914 schlug diese Unzufriedenheit zu Boden. Sie erhob sich aber wieder und wuchs mit den Anstrengungen des Krieges und mit den Entbehrungen, die ertragen werden mußten. Politische Reformen wurden verlangt, sozialpolitische Fortschritte gefordert. Gewiß kann mancher leicht grollend von Pressionspolitik sprechen und der Nationalliberalen Partei zurufen, sie solle nicht zu viel gewähren. Gerade aus den Kreisen der Großindustrie kommt diese Kritik. Aber hat denn die Großindustrie nicht selbst ihrerseits ihrer Arbeiterschaft während des Krieges manches gewährt, was sie innerlich auch nicht als berechtigt ansieht, nur um die Ruhe ihrer Betriebe während der Kriegszeit sicher aufrecht zu erhalten und die Munitionslieferungen nicht stocken zu lassen? Stehen die Dinge politisch nicht völlig gleich? Auch hier handelt es sich darum, die politische Ruhe aufrecht zu erhalten, damit wir in unseren Feinden nicht die Hoffnung erwachsen lassen, als könne die Uneinigkeit Deutschlands doch noch zu dem Erfolg führen, den sie sonst zu erringen wohl längst aufgegeben haben.
Überblicken wir die Gesamtsituation, so sehen wir den Kanzler Michaelis durch den Grafen Hertling ersetzt, eine unpolitische Natur durch den Führer einer großen Partei, der in seinem bisherigen verantwortungsvollen Wirken und Schaffen staatsmännische und diplomatische Fähigkeiten bewiesen hat. Soweit seine außenpolitische Haltung in Betracht kommt, ist er weniger durch die Verhältnisse eingeengt als sein Vorgänger. Der Druck der Mehrheit des 19. Juli ist ihm gegenüber nicht stärker, sondern schwächer. Soweit kulturelle Fragen in Betracht kommen, steht ihm in Preußen ein bewährter, mit staatsmännischen Eigenschaften begabter Führer der Nationalliberalen zur Seite. Seine politische Aufgabe im Reiche soll ihm durch den fortschrittlichen Führer als Vizekanzler des Reichs erleichtert werden. Dabei sind die Persönlichkeiten, die hier präsentiert worden sind, nicht etwa jungliberale oder demokratische Stürmer und Dränger, sondern der eine galt in seiner Partei Zeit seines Lebens als ein Führer auf dem Gebiet des maßvollen Liberalismus, gereift in seiner Erfahrung, kühl abwägend, sachlich überzeugend, allzu stürmisches Drängen nach Neuerungen eher hemmend als nachgebend. Auf der anderen Seite ist Herr von Payer ebenso wenig Anhänger der extremen Richtung seiner Partei, sondern seit Jahren mehr gouvernemental als oppositionell gerichtet. Man kann also nicht sagen, daß etwa in diesen Persönlichkeiten eine radikale Demokratisierung des öffentlichen Lebens in Deutschland sich ausprägte. In ihrer Gesamtheit sind die Repräsentanten der Kanzlerschaft und Stellvertretung im Reich und Preußen eher gemäßigt rechts als radikal links gerichtet. Dabei zeigt die Neuordnung der Dinge auch die Beobachtung des Grundsatzes, an dem die Nationalliberale Partei stets festgehalten hat, daß ein deutscher Parlamentarismus nicht dazu führen dürfte, Politiker, nur weil sie Politiker sind, als Leiter von Ministerien zu berufen, für die ihre fachliche Befähigung etwa nicht ausreiche. Der Deutsche wird stets verlangen, daß, wer den Anspruch erhebt, Staatssekretär oder Minister im Reich oder in Preußen zu sein, auch die sachliche Geeignetheit dazu mit sich bringt und nicht nur den politischen Befähigungsnachweis. Dieser Grundsatz ist auch diesmal aufrechterhalten worden. Kein Fachminister mußte einem nicht fachlich gebildeten Politiker weichen, aber zwei politische Stellen, bei denen es darauf ankam, den Zusammenhang mit dem Parlament aufrecht zu erhalten, um nicht Zusammenstöße oder Krisen hervorzurufen, sind mit hervorragenden maßvollen Politikern besetzt worden. Wer davon spricht, daß das Recht der Krone gebeugt wurde, daß das alte Preußen zugrunde gehe, daß das Reich radikaler Demokratisierung verfalle, der fälscht diese Tatsachen und leistet nur denjenigen Vorschub, die es gern so hinstellen möchten, als beständen die Grundlagen des Reiches und Preußens nicht mehr.
Grollend aber weisen schließlich einige darauf hin, daß die Partei Schaden nähme. So wie die Vaterlandspartei Hunderttausende von neuen Mitgliedern in allen Landesteilen erhält, wie das ungetrübte Siegesgefühl des Volkes aufjubelt, wenn es zum siegreichen Durchhalten aufgefordert wird, wie es versteht, daß es darauf ankomme, gegen den Verzichtfrieden Stellung zu nehmen, so hätte nach Meinung einiger Politiker die Nationalliberale Fraktion vom 19. Juli ab Stellung nehmen müssen. Aus einigen Blättern, aus einigen Reden schallte dies ja auch bald heraus. Man sprach von einer vaterlandslosen Parteigruppierung im Deutschen Reichstag. Man rief die Parteien auf gegen die damalige Entschließung. Ein tiefer Spalt zwischen zwei gleichstarken Gruppen im deutschen Volk schien sich aufzutun. Man verstand die Sprache des anderen nicht mehr, man fühlte sich in die hitzigste Zeit früherer Parteikämpfe hineinversetzt.
Gewiß wäre es falsch, hier nur einem Teil die Schuld aufbürden zu wollen. Was auf der anderen Seite an Verleumdungen geleistet worden ist, indem man die Parteien, die gegen die Entschließung stimmten, als Kriegsverlängerer, Schwerindustrielle oder öde Ideologen hinstellte, konnte manchem, der nicht Fischblut hatte, das Blut in die Wangen treiben. Aber andererseits sollte man doch das eine nicht vergessen, daß es ja der tiefste Niederbruch unseres ganzen Gefühls wäre, wenn man sich einbilden wollte, als gäbe es in Deutschland eine Mehrheit des Reichstages, die überhaupt innerlich auf einen guten Frieden verzichten wollte. Abgesehen davon, daß die Entschließung des 19. Juli die verschiedenfachste Auslegung erfahren hat, daß ihre eigenen Anhänger wiederholt zum Ausdruck gebracht haben, daß sie sehr wohl Gebietserweiterungen damit für vereinbar und wünschenswert erachteten, muß man sich doch das eine vor Augen halten, daß man von Vaterlandslosigkeit solange überhaupt nicht sprechen kann, solange die Söhne des ganzen Landes, solange die Anhänger aller Parteien die Marken Deutschlands vom Feinde freihalten. Seine Vaterlandsliebe beweist man doch letzten Endes am reinsten und hellsten damit, daß man seinen Leib dem Feinde darbietet, um das eigene Land zu schützen. Keine Partei hat bis heute diese Pflicht verletzt. Alle ihre Anhänger bluteten und stritten für Deutschland. Solange das so ist, solange hat keiner das Recht, irgendeiner Partei die Vaterlandsliebe in Deutschland absprechen zu wollen, mögen die Wege, auf denen man zum Ziele zu gelangen sucht, auch noch so verschiedene sein.
Es ist aber auch sonst falsch, nun lediglich im Kampf gegen die Mehrheit den Inbegriff des politischen Lebens der Gegenwart sehen zu wollen. Denn würde man mit aller Wucht und dem Vorwurf der Vaterlandslosigkeit diese Mehrheit im heftigsten Kampfe angreifen, dann hätte man zwar Aussicht auf jubelnde Zustimmung über die Kreise der Partei hinaus, aber auf der anderen Seite die naturgemäße Reaktion einer solchen Angriffspolitik in einem Zusammenschweißen des angegriffenen Blocks und damit die Stabilisierung einer Mehrheit in Fragen der Außenpolitik, in der das Wirken dieser Mehrheit von uns für schädlich angesehen wird. Wir wissen aus der Geschichte der Parteien, daß nichts so sehr zusammenhält als heftige Angriffe der Gegner. Ich erinnere nur an die Angriffe gegen die konservative Partei bei der Erbschaftssteuer. Weit ging in die eigenen Reihen hinein damals die Zerrissenheit der konservativen Partei. Konservative Bürger in der Stadt, evangelische Pfarrer auf dem Lande, erregten sich über die Kurzsichtigkeit konservativer Führung. Aber die Wut, mit der die Konservativen von allen Seiten angegriffen wurden, ließ sie am ehesten zum Schließen ihrer Reihen kommen. Genau so wäre es diesmal gekommen. Während weite Teile, namentlich des Zentrums, sich jetzt ihrer alten Stellung zu den deutschen Kriegszielen wieder bewußt werden und Annäherung und Fühlung mit denen suchen, die auf gleichem Boden für solche Kriegsziele eintreten, hätten wir auf andere Weise den Block des 19. Juli zusammengeschmiedet, der parlamentarisch in seiner Stärke nicht zu erschüttern war und der die nationalliberale Fraktion in einer Isolierung mit den Konservativen doch auch in eine wenig einflußreiche Lage gebracht hätte. Niemals wäre Aussicht vorhanden gewesen, daß die beiden Fraktionen allein die Mehrheit im Reichstag bildeten. Künftige Wahlen hätten bei einem Zusammenschluß des Blocks vom 19. Juli alsdann dessen Übergewicht dauernd erhalten und vor allem eine vom 19. Juli abweichende Verständigung mindestens mit den bürgerlichen Parteien über erreichbare deutsche Kriegsziele unmöglich gemacht. Wenn Blätter wie die »Tägliche Rundschau« und die »Hamburger Nachrichten«, die wirklich nicht in dem Verdacht linksliberaler demokratischer Gesinnung stehen, die Taktik der nationalliberalen Reichstagsfraktion, die auf Aufrechterhaltung der Fühlungnahme mit allen Fraktionen hinausging, anerkannt haben, dann mögen auch die Freunde im Reich dessen gewiß sein, daß die Führung erst nach heftigen inneren Kämpfen von der sehr einfachen Konstruktur des Kampfes gegen den 19. Juli absah und auf dem viel dornenvolleren Weg des Zusammenarbeitens mit diesen Parteien zu dem Ziele zu kommen suchte, außenpolitisch uns nicht einer Politik der Resignation zuführen zu lassen, innenpolitisch maßlose Forderungen durch Beschränkung auf ein Programm einzudämmen, von dem ein Sozialdemokrat etwas ironisch sagte, es sei so geschickt aufgebaut, daß es auch Herr von Tirpitz unterschreiben könnte, und dadurch zum mindesten den Versuch zu machen, eine Politik des Burgfriedens herbeizuführen, die unserem Reiche innere Erschütterungen fernhalten sollte.
Die Heftigkeit, mit der einige nationalliberale Blätter, darunter auch solche, deren nationalliberale Gesinnung erst recht jungen Datums ist, den Speer in die Brust der eigenen Partei senken und gegen diejenigen, die diese Politik gemacht haben, mit einer Gehässigkeit wüten, die sie bei bestem Einsatz ihres Temperaments und ihres Geistes gegen andere Parteien nie aufgebracht haben, zeigen bedauerliche Erscheinungen, deren Duldung eines Tages innerhalb der Partei zu Ende gehen dürfte. Man mag sachlich kritisieren, man mag die Ansicht vertreten, daß ein Kampf gegen die Parteien des 19. Juli zu einer Spaltung in der Zentrumspartei, zu einem Herüberziehen weiter Kreise auf die Seite der Nationalliberalen und Konservativen geführt hätte – als wenn nicht die Zentrumsfraktion die durch Disziplin festgefügteste im Reiche wäre –, man mag sachlich und taktisch andere Wege vorgezogen haben als diejenigen, welche die Fraktion gegangen ist, aber man wird nicht in der Lage sein, einen anderen Weg zu weisen, der uns zu dem Ziel führt, das unserem Land jetzt vor allem nottut: krisenloses ruhiges Arbeiten im Innern, damit das Vaterland Hindenburg und Ludendorff wenigstens das gibt, was sie zum mindesten verlangen können: Ruhe daheim, wenn sie draußen für unser Vaterland siegen.