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Napoleon und wir

Vortrag, gehalten im Sitzungssaal des Preußischen Abgeordnetenhauses am 29. Januar 1917

 

Am 18. Dezember 1916 hielt Lloyd George im englischen Unterhause eine auf das Friedensangebot Deutschlands und seiner Verbündeten bezügliche Rede, in der er u. a. folgendes ausführte:

»Es ist nicht das erste Mal, daß wir gegen einen mächtigen Militärdespotismus gekämpft haben, der Europa überschattete, und es würde nicht das erste Mal sein, daß wir dabei halfen, einen Militärdespotismus zu stürzen. Wir können an einen der größten dieser Despoten erinnern. Wenn es ihm bei der Ausführung seiner nichtswürdigen Pläne zweckmäßig erschien, war es ein beliebtes Mittel von ihm, in der Maske des Friedensengels zu erscheinen ... Der Appell wurde stets im Namen der Menschlichkeit unternommen. Er verlangte ein Ende des Blutvergießens, über das er sich entsetzt stellte ... Er benutzte die gewonnene Zeit, um seine Truppen für einen tödlicheren Angriff auf die Freiheit Europas als je zuvor zu reorganisieren.«

Diese Worte zielen auf Napoleon. Der Vorgang ist an sich seltsam. England und Frankreich sind miteinander in einem der blutigsten Kriege der Weltgeschichte verbündet. In dieser Zeit glaubt ein englischer Minister sich berechtigt, Schmähungen auf einen Mann zu häufen, der unzweifelhaft einer der größten Männer Frankreichs, ein Großer der Weltgeschichte ist. In Frankreich wurde er auch mindestens vor diesem Kriege als solcher empfunden. Der Dome des Invalides, seine Grabstätte, war ein nationales Heiligtum, wo die Trophäen aus siegreichen Schlachten vergangener Zeiten aufbewahrt wurden, wo die Kränze der Revanchepolitiker als Ausdruck der Hoffnung für die kommende Größe des Vaterlandes sich befanden. Wohin man in Frankreich schreitet, überall schreitet die Erinnerung an den großen Feldherrn und großen Kaiser mit. Jetzt diese Schmähung seines Andenkens seitens des führenden Ministers der verbündeten Mächte!

Und doch hat Lloyd George die historische Situation richtig erfaßt. Deutschland kann diesen Weltkrieg im Schatten Bismarcks kämpfen, Frankreich nicht im Schatten Napoleons. Für die Engländer der napoleonischen Zeit war Napoleon derselbe Gegner wie heute Deutschland. Er versinnbildlichte die stärkste kontinentale Macht, welche England gegenüberstand. Er hatte den Drang zur See, erstrebte den Ausbau des französischen Kolonialreichs, schuf eine französische Flotte, welche der englischen einstmals gewachsen sein sollte. Deshalb beschuldigte ihn England, die Freiheit Europas zu bedrohen. Es warb überall Völker und Truppen gegen ihn, finanzierte alle seine Verbündeten. Dieser Kampf endete mit dem Siege Englands; Napoleon auf St. Helena unter Houdson Lowe als Gefangenenwärter war der Ausgang dieses historischen Kampfes. So wie England heute die Seele der gegen uns gerichteten Weltverschwörung ist, so war England die Seele der gegen Napoleon kämpfenden Koalitionen. Wenn im Anfang des Krieges englische Zeitungen oft davon sprachen, daß man den deutschen Kaiser nach St. Helena verbannen müsse, so zeigt dies schlagend Ideenvorgänge, die uns ein Bild davon geben, wie diese Vorstellung auch in England ähnlich empfunden wird. Ein Napoleonschicksal möchte uns England bereiten. Wir kämpfen nochmals den Kampf gegen die Seetyrannei und Weltherrschaft Englands, dem Napoleons Lebensaufgabe galt.

Aber widerspricht diese Auffassung nicht der geschichtlichen Wahrheit? War Napoleon nicht wirklich der Würger der europäischen Freiheit? Preußen kennt ihn als den Korsen, der das Land aussog und unterdrückte, der die Monarchie Friedrichs des Großen zerstückelte. Unsere schönste Kriegspoesie ist gegen ihn gerichtet. Blücher und Gneisenau, seine Besieger, sind unsere Volkshelden. Nie flammte deutscher Zorn herrlicher auf als in den Versen, in denen Theodor Körner, Ernst Moritz Arndt und Heinrich v. Kleist gegen Napoleon die deutsche Freiheit verteidigten, nie ernster und sittlicher als in den Reden, mit denen Fichte das deutsche Volk zur Entwicklung seiner äußeren und inneren Freiheit aufrief. Wir lernen in unseren Schulen doch nur, daß unersättlicher Drang nach Eroberungen Napoleon nach Rußland und nach dem brennenden Moskau trieb, und wir jubelten im Innern über den Zusammenbruch seiner Macht in den russischen Eisgefilden: »Mit Mann und Roß und Wagen hat sie der Herr geschlagen!«

Als Preußen und Deutsche haben wir ein Recht, Napoleon zu hassen und uns, nachdem die Dinge zum Kampf zwischen Napoleon und Preußen gekommen waren, seines Zusammenbruchs zu freuen. Im Völkerschlachtdenkmal in Leipzig dokumentieren wir in Stein den Sieg, den wir über ihn errungen haben. Aber im Rahmen der Weltgeschichte erscheint sein Bild in anderem Lichte. Haben wir denn überhaupt ein objektives Bild jener Zeit? England beherrschte die öffentliche Meinung schon damals meisterhaft. Wie ist denn das Bild, das die Welt da draußen heute von Kaiser Wilhelm II. hat und das sie, wenn sie nach englischen Geschichtsbüchern lernt, in hundert Jahren von unserem Kaiser haben wird? Nennt man denn nicht auch uns heute Barbaren, Vergewaltiger Belgiens? Spricht man nicht auch von Deutschland als von einer Militärdespotie, von einem deutschen Volk, das von einer Militärkaste regiert sei? Hat man nicht dem Kaiser in dem englischen Ausdruck » war-lord« einen Titel gegeben, der bei anderen Völkern genau so das Sinnbild des Welteroberers und Weltwürgers haben soll als die Ausdrücke über Napoleon? Beschuldigt man uns denn nicht auch, daß wir die Freiheit Europas erwürgen wollten? Hat man denn nicht immer und immer wieder erklärt, daß man Europa von der Herrschaft des deutschen Militarismus befreien müßte? Vergleicht nicht Lloyd George Deutschland ohne jede Einschränkung mit dem Napoleon der damaligen Zeit? Die alte Pilatusfrage »Was ist Wahrheit?« taucht auch in bezug auf Napoleon auf.

Napoleon selbst hat den Kampf gegen England als Hauptziel seines Lebens angesehen. Eine Unzahl seiner Äußerungen ließe sich dafür anführen. In seinen Memoiren spricht immer wieder der Haß gegen England: »Entsetzlich war für England der Gedanke, daß die französische Flotte sich wieder zum alten Glanz aufschwingen und ihm eines Tages die Herrschaft über die Meere bestreiten könnte. Ich verrannte mich keineswegs in blinde Leidenschaft, mein Ziel war Frieden mit England; dieses aber verschwendete seine Schätze, um Europas Heere gegen mich im Felde zu halten, nur durch Siege konnte ich hoffen, Englands Haß zu bändigen, indem ich seine Verbündeten niederwarf. So wurde ich ohne eigenen Antrieb zur Eroberung Europas und zur Kontinentalsperre fortgezogen.«

In immer neuen Ausführungen ergeht er sich über das Seerecht und über die Ansprüche Englands, dieses nach seinem eigenen Gutdünken zu gestalten. »Da England auf dem Meere keinen ihm gewachsenen Gegner mehr hatte, glaubte es den Augenblick gekommen, um zu erklären, daß auf allen Meeren nur sein Gebot zu gelten habe.« In Ägypten suchte er die Achillesferse dieses Gegners zu treffen, beschäftigte sich mit seinem Lieblingsplan, von dort aus nach Indien vorzustoßen und den zur See nicht besiegbaren Feind auf dem Lande in seinen Hauptkolonien niederzuwerfen. Auf St. Helena kommt er fortgesetzt auf diesen Kampf zurück, bedauert, daß er nicht anstatt nach Ägypten nach Irland gegangen sei, um einmal England von der Versorgung mit irischem Getreide abzuschneiden, die irische Bevölkerung zur Freiheit aufzurufen und auf diese Weise England zu treffen. In seinem System der Kontinentalsperre versucht er den Wirtschaftskampf gegen England durchzuführen, nachdem seine Flottenpolitik gegen England gescheitert war. Wenn er wiederholt den Wunsch aussprach, daß die Nachwelt ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen würde, so dachte er dabei sicher auch an eine gerechtere Abwägung der Schuldfrage, ob England oder er Europa in ein Chaos von Kriegen und seine Völker in ein Meer von Tränen gestürzt hätte.

Aber man kann ein Bild napoleonischer Denkungsweise nicht lediglich auf die eigenen Äußerungen des Betroffenen stützen. Sie sind ohne objektive Beweiskraft. Die Großen der Weltgeschichte haben in ihren Geschichtswerken stets die Verteidigung ihrer Politik betrieben. Das gilt von Napoleons Niederschrift ebenso wie von Bismarcks »Gedanken und Erinnerungen«, wie von Bülows »Deutscher Politik«. Immerhin ist es auch subjektiv nicht ohne Bedeutung, daß Napoleon in nie durchbrochener Konsequenz sich als Gegner Englands, England aber als den Friedensstörer der Welt betrachtet.

Gibt ihm die Geschichte hierin recht? Wenn wir unsere deutschen Geschichtsschreiber lesen, dann stehen Treitschke und Sybel vollkommen im Banne der weitverbreiteten deutschen Auffassung von Napoleon als dem ländergierigen Eroberertypus. Aber schon Leopold v. Ranke polemisiert gegen die »landläufige« Auffassung, wie er sie nennt, als habe Napoleon sich von vornherein mit dem Plane der Welteroberung getragen. »In der Auffassung deutscher Geschichtsschreiber«, so betont er seinerseits, »erscheine Napoleon als Eroberungsbestie, um die Nachbarn zu verschlingen.« Demgegenüber betont Ranke: » Das größte Weltverhältnis, in welchem sich Napoleon überhaupt bewegte, war der Kampf gegen England. Die kontinentalen Angelegenheiten sind in diesem Zusammenhange zu betrachten.« Professor Max Lenz schrieb in seiner im Jahre 1898 veröffentlichten Studie »Napoleon und Preußen« die Worte nieder: »Unsere patriotischen Historiker haben Erklärungen Napoleons (daß der Kampf seines Lebens England gelte) als Heuchelworte bezeichnet. Sie sollten uns nicht so ungereimt erscheinen, und wir möchten wohl eher die früher herrschende Meinung von dem Kampfe Englands für die Freiheit Europas als eine Legende bezeichnen.« Der bekannte Napoleon-Schriftsteller Conrad schreibt kurz und bündig: »Der rote Faden, der sich durch Napoleons zehnjährige Kaiserherrlichkeit hindurchzieht, ist der Kampf gegen England.«

Meine eigene Auffassung ist nur die eines Laien, der Geschichtsforschung in dem Sinne, wie Historiker es tun, nicht betrieben hat. Aber meine Beschäftigung mit der Geschichte hat mich doch schon in Friedenszeiten zu der Auffassung von Ranke und Lenz hingeleitet. Wer einmal die napoleonische Zeit in ihrem Zusammenhang betrachtet, der muß zu der Überzeugung kommen, daß Napoleons Worte von seinem Kampf gegen England mit seinen Taten übereinstimmen, und er kommt in weiterem Nachforschen der damaligen geschichtlichen Zusammenhänge zu der vielleicht überraschenden, aber leider zutreffenden Tatsache, daß Englands bis zur Gegenwart aufrecht erhaltene weltbeherrschende Stellung auf der Niederringung Napoleons beruht, und daß in der Völkerschlacht bei Leipzig mit deutschem Blute Englands Weltherrschaft begründet worden ist.

Gegenüber dem von manchen Seiten festgehaltenen Gedanken, als ob Napoleon schon als Mensch gar nichts anderes gekonnt hatte, als Schlachten zu schlagen und Feldzüge zu führen, möchte ich zunächst darauf hinweisen, daß darüber doch gar kein Zweifel ist, daß Napoleon nicht nur Feldherr, sondern auch eines der größten Verwaltungsgenies der Welt gewesen ist. Sein Geist war rastlos tätig, aber nicht nur auf militärischem Gebiet. Seine Organisationsfähigkeit hat einmal in der Gegenwart einen deutschen Schriftsteller dazu veranlaßt, die Hypothese aufzustellen, daß ein Geist wie Napoleon sich heute an der Spitze eines großen Weltsyndikats am wohlsten fühlen würde. Wir wollen doch nicht vergessen, daß Napoleon überall, wo er Land okkupierte, sofort als Verwaltungsorganisator auftrat, gesetzgeberisch eingriff und vielfach eine Neuordnung der Dinge herbeiführte, die von den Betroffenen als weit erträglicher angesehen wurde als die Zustände, unter denen sie bisher dahinlebten. Die Zugehörigkeit des Rhein-Bundes zu dem napoleonischen Frankreich, die Abneigung gegen Preußen waren nicht zuletzt auf dieser Tatsache begründet. Der Urheber des Code Napoléon zeigte sein Talent zum Gesetzgeber ebenso wie der Verfasser der Memoiren seine Befähigung als Geschichtsschreiber. Der Gedanke der Wertzuwachssteuer, der uns als ein ganz moderner erscheint, ist zuerst von Napoleon angesichts der Verhältnisse in Paris angeregt worden. Daß er sein Land glänzend verwaltete, die Hauptstadt seines Landes nach jahrzehntelanger Zerrüttung zu altem Glanze erhoben hat, niemand wird es bestreiten, niemand, der sich mit seinem Leben näher beschäftigte, daran zweifeln können, daß in diesem Hirn genügende Gedankenreihen auch außerhalb der militärischen vorhanden waren, um ein Menschenleben auszufüllen.

Wichtiger aber ist doch ein Blick auf die Politik Napoleons selbst. Was ist der ganze ägyptische Feldzug Napoleons anderes als der Versuch der Bezwingung Englands als seines Hauptgegners? Als das Friedensziel des ägyptischen Feldzuges bezeichnete er schon damals, »die Freiheit der Meere zu begründen«. Der Fehlschlag dieses Feldzuges ist bekannt. Napoleon geht aber nicht davon ab, die Niederzwingung Englands weiter ins Auge zu fassen, und beschäftigt sich mit dem gigantischen Plane einer Landung auf englischem Boden. Es geht nicht gut an, an dem Ernste dieses Landungsversuches zu zweifeln, weil er sich zwei Jahre Zeit dazu ließ. Was mußte auch alles für diesen Landungsversuch herangeschafft werden! 1200 Fahrzeuge sollten gebaut werden, um 150- bis 160 000 Mann nebst 7- bis 8 000 Pferden herüberzuwerfen. Lebensmittel für ein bis zwei Monate mußten herübergeschafft, Schießbedarf für einen ganzen Feldzug mitgenommen werden. Über 6000 Handwerker ließ Napoleon damals aus der Armee herausholen, damit sie als Tischler, Zimmerleute, Stellmacher, Schlosser und Schmiede die Arbeiten ausführten, die für den Bau der Flotte und den Transport des Heeres notwendig waren. Die Zaghaftigkeit seines Admirals, der London angreifen oder mindestens den Übergang decken sollte, und eine neue Koalition unter Österreichs Führung machten den Plan unmöglich. In dem Armeebefehl an die im Lager von Boulogne stehenden Truppen sagt Napoleon: »Wir werden nicht nach England gehen, das Geld der Engländer hat den Kaiser von Österreich verführt, uns den Krieg zu erklären.« Von sich selbst sagt er, daß Schmerz, untermischt mit heftigen Zornesausbrüchen, ihn beseelt habe, als er von dieser Landung absehen mußte.

Spricht aber nicht der Kampf gegen Preußen und der Zug nach Rußland für Napoleons Eroberungsgier? Der Kampf Preußens gegen Napoleon und Preußens Untergang sind eine Schmerzensgeschichte diplomatischer und militärischer Unfähigkeit auf unserer Seite. Nirgends findet man Anhaltspunkte dafür, daß es Napoleon darauf angekommen wäre, Preußen unter allen Umständen niederzuwerfen, oder daß es überhaupt im Rahmen seiner Politik gelegen hätte, mit Preußen anzubinden. Im Gegenteil. Napoleons großer Anteil an dem Reichsdeputationshauptbeschluß vom Jahre 1803 ist bekannt. Diese Neuordnung der Dinge, die unter den napoleonischen zentralistischen Ideen Deutschland ein neues Gefüge gab und zuerst mit den Hunderten von Grafschaften, Bistümern, freien Städten usw. aufräumte, ist bekanntlich Hauptgrundlage für die heutige bundesstaatliche Verfassung des Deutschen Reiches geworden und nur einmal noch durch die Ereignisse des Jahres 1867 geändert worden. Bei diesem Reichsdeputationshauptbeschluß, bei dem ein großer Austausch von Ländern und Völkern vor sich ging, gab Preußen 125 000 Einwohner auf und erhielt dafür neue Gebiete mit 500 000 Einwohnern. Wenn Napoleon sich mit Eroberungsgedanken getragen hätte, so würde er nicht zugelassen haben, daß dieser Gegner vorher eine solche Stärkung erführe. Der eigentliche Konflikt Napoleons mit Preußen entstand bekanntlich wegen der Besetzung von Hannover. Auch hier muß man das, was sonst als brutale Willkür erscheinen könnte, unter dem Gesichtspunkt des Kampfes gegen England betrachten; denn auch hier ordnete sich seine Kontinentalpolitik dem größeren Gesichtspunkte des englischen Kampfes unter. Hannover war ihm von größter Wichtigkeit, weil es die deutschen Flußmündungen beherrschte, weil er im Besitz Hannovers die Aus- und Einfuhr von Waren nach England zu sperren vermochte. Darüber kommt es zum Bruch, nachdem Preußen in der Hannover-Frage eine fortgesetzt hin und her schwankende Haltung eingenommen und sich durch den Nichthinzutritt zu der großen Koalition, die bei Austerlitz zusammenbrach, die vielleicht durch Preußens Eingreifen eine Bezwingung Napoleons herbeigeführt hätte, um jede seine Situation aussichtsreich gestaltende Chance gebracht hatte. Napoleon war seines Sieges über Preußen sicher. Er hoffte, daß er in wenigen Tagen in Berlin sein würde, und nahm deshalb keine Kriegskasse mit. Trotzdem versuchte er noch einmal in einem Schreiben an Friedrich Wilhelm III. vom 12. Oktober 1806, nachdem er bereits mitten in Sachsen stand und alles für seinen Sieg sprach, den Krieg zu vermeiden. »Ich bin durchaus nicht auf einen Sieg erpicht, der mit dem Leben einer guten Zahl meiner Kinder erkauft sein wird. Wenn ich am Beginn meiner militärischen Laufbahn stände und wenn ich die Zufälle des Schlachtenglücks fürchten könnte, wäre diese Sprache durchaus unangebracht. Sire, Eure Majestät wird besiegt werden; sie wird ohne den Schatten eines Vorwandes die Ruhe ihrer Tage, das Leben ihrer Untertanen aufs Spiel gesetzt haben ... Es steht in der Hand Eurer Majestät, ihren Untertanen die Verheerungen und Leiden des Krieges zu ersparen. Kaum daß er begonnen hat, kann sie ihn beendigen und wird etwas tun, wofür Europa ihr Dank wissen wird. Wenn sie auf die Bramarbasse hört, die vor vierzehn Jahren Paris erobern wollten und die sie heute zu einem Krieg und unmittelbar nachher zu ebenso unbegreiflichen Angriffsplänen gedrängt haben, so wird sie ihrem Volk ein Unheil antun, das ihr ganzes übriges Leben nicht wieder gut machen kann. Sire, ich habe gegen Eure Majestät nichts zu gewinnen. Ich will nichts von ihr und habe nie etwas von ihr gewollt. Der gegenwärtige Krieg ist ein unpolitischer Krieg ... Eure Majestät erlaube mir es zu sagen: es ist keine große Entdeckung für Europa, wenn man die Erfahrung macht, daß Frankreichs Bevölkerung dreimal so stark und ebenso tapfer und kriegerisch ist wie die Staaten Eurer Majestät ... Ich bitte Eure Majestät, in diesem Briefe nichts anderes als meinen Wunsch zu finden, das Blut der Menschen zu sparen und einer Nation, die geographisch nicht der Feind meiner Nation sein kann, die bittere Reue zu ersparen, zuviel auf vergängliche Empfindungen gehört zu haben, die sich zwischen den Völkern so leicht erregen und besänftigen.«

Ob eine Beantwortung dieses Briefes – Napoleon beschwerte sich noch auf St. Helena darüber, daß er nie eine Antwort erhalten hätte – die kriegerischen Ereignisse noch hätte aufhalten können, sei dahingestellt. Jedenfalls ist an der Tatsache nicht zu zweifeln, daß Napoleon ein Bündnis mit Preußen lieber gesehen hätte als einen Krieg, daß die Konflikte mit Preußen aus seiner Englandspolitik sich ergaben und daß während der ganzen Zeit, in der nach unserem Schulunterricht Napoleon sich mit dem Kampfe gegen Preußen beschäftigte, ihm der Kampf gegen England viel näher stand.

Dafür spricht auch die weitere Entwicklung dieses Krieges. Was ist das erste, was Napoleon tut, als er nach dem Siege von Jena in Berlin einzieht? Ist es etwa die Aufteilung Preußens, sind es neue Eroberungsgedanken? Nein, das erste ist die Verhängung der Kontinentalsperre über England, die bekanntlich von Berlin aus dekretiert worden ist. Am 14. Oktober war die Schlacht bei Jena, am 21. November erläßt Napoleon aus der Hauptstadt des besiegten Feindes das Edikt über die Kontinentalsperre.

Wie ein Klang aus unserer Gegenwart klingen die Worte dieses Ediktes:

 

»England verletzt das Völkerrecht, wie es von den anderen Völkern allgemein anerkannt wird;

England sieht jeden Untertanen des feindlichen Landes als Feind an und erklärt demgemäß nicht nur die Mannschaften der Kriegsschiffe, sondern auch die der Handels- und Kauffahrteischiffe, die Handelsagenten und Kaufleute als kriegsgefangen;

England erstreckt seine Eroberungsrechte, die nur auf Staatseigentum anwendbar sind, auf die Schiffe, die Waren und den Besitz von Privateigentümern;

England mißbraucht das Blockaderecht, das nach der Ansicht aller anderen Völker nur auf befestigte Plätze anwendbar ist, indem es dasselbe auf Städte, Handelshäfen und Flußmündungen, die nicht befestigt sind, ausdehnt und Plätze für blockiert erklärt, vor denen es nicht ein einziges Kriegsschiff unterhält, während doch die Blockade eines Ortes nur dann effektiv ist, wenn er so eingeschlossen ist, daß man sich ihm nicht ohne drohende Gefahr nähern kann;

England erklärt selbst ganze Küsten und Länder für blockiert, die so ausgedehnt sind, daß seine ganzen vereinigten Seestreitkräfte nicht hinreichen würden, die Blockade durchzuführen.

Diese mißbräuchliche Auslegung des Blockaderechts hat nur den einen Zweck, den Verkehr zwischen den anderen Völkern zu beeinträchtigen und dem englischen Handel auf Kosten des Handels aller Völker des Kontinents Vorteile zu verschaffen.

Da dies offenbar der Zweck Englands ist, so macht sich jeder, der auf dem Kontinent englische Waren vertreibt, zu seinem Mitschuldigen.

Das Verhalten Englands, das an die fernsten Zeiten der Barbarei erinnert, hat dieser Macht zum Schaden der anderen ungeheueren Vorteil verschafft.

Dem Feinde muß man mit denselben Waffen beizukommen suchen, wenn er alle Ideen von Gerechtigkeit und alle freisinnigen Gefühle, das Ergebnis der menschlichen Zivilisation, mit Füßen tritt.

Wir beschließen daher, auf England dieselben Gebräuche anzuwenden, die es in seinem Seerecht aufgenommen hat, solange England nicht ein und dasselbe Kriegsrecht für Land und See anerkennt, das sich auf Staatseigentum beschränkt und Privateigentum schützt, und verfügen wie folgt ...«

 

Darauf folgt der eigentliche Inhalt der napoleonischen Gegenmaßregeln.

Klingt die ganze Sprache dieses Ediktes nicht wie eine amtliche deutsche Denkschrift aus diesem Weltkrieg, wenn man daran denkt, daß England auch in diesem Kriege gegen Recht und Gesetz dazu übergegangen ist, nicht nur Staatseigentum, sondern Privateigentum zu beschlagnahmen und zu vernichten, daß es durch seine Festsetzung von deutschen Zivilgefangenen sich genau derjenigen Übergriffe schuldig gemacht hat, deren Napoleon es hier zur Begründung seiner Gegenmaßregeln anklagt, daß es den Begriff der Bannware willkürlich erweitert, daß es zu seinem Nutzen und zum Schaden aller Neutralen den Weltkrieg sofort als Wirtschaftskrieg geführt hat?

Das Edikt über die Kontinentalsperre ist vom 21. November 1806 datiert. Zwei Tage vorher hatte Napoleon eine Botschaft an den Senat in Paris gerichtet, in der er die Kontinentalsperre verteidigt und die Gedanken eines Friedensschlusses mit England zum Ausdruck bringt, ein Zeichen, wie ihn auch inmitten der feindlichen Hauptstadt der Gedanke an seinen Hauptfeind nicht verließ.

Über die Beweggründe der Kontinentalsperre hat sich Napoleon folgendermaßen ausgesprochen:

»Der Streit zwischen Frankreich und England hatte sich allmählich zu einem wahren Kampf auf Leben und Tod gestaltet. Die Wut von ganz England gegen mich hatte den Höhepunkt erreicht. Die englischen Minister sorgten für die Erregung der Leidenschaften, indem sie sich aller nur denkbaren Mittel der Fälschung und des Betruges bedienten, um den Streit populär zu machen. In voller Parlamentssitzung wurde der ewige Krieg oder wenigstens der lebenslängliche proklamiert. 25 Jahre lang stand Europa in Brand, alle Länder wurden zerrüttet und verwüstet, Ströme von Blut mußten fließen. England, das dies alles bezahlt hat, lud eine ungeheuerliche Schuldenlast auf sich; wie eine Pest verbreitete sich das System der Anleihen, das jetzt allen Ländern das Mark aussaugt. Gewiß war Pitt (der englische Minister) überzeugt, daß er nur das Gute wollte und täte, was aber die Nachwelt vor allem Pitt vorwerfen wird, das ist die abscheuliche Schule, die er hinterlassen hat: ihr unverschämter Machiavellismus, ihre tiefe Unmoralität, ihr kalter Eigennutz, ihre Verachtung menschlicher Verhältnisse und einer gerechten Weltanschauung

Und dann der Frieden von Tilsit. Es ist bekannt, daß nach der Schlacht bei Eylau nicht nur das preußische, sondern auch das russische Heer niedergebrochen war. Alexander wußte sein Leben bedroht, wenn er den Frieden nicht geschlossen hätte. Sein Niederbruch war demjenigen seines Verbündeten im Augenblick gleich, wenn auch seine Verteidigungskräfte im Innern des Landes noch da waren. Kein Zweifel, daß Napoleon in Tilsit auf der Höhe seiner Macht stand und durchsetzen konnte, was er durchsetzen wollte. Was aber forderte er von Alexander im Frieden von Tilsit? Er forderte weder eine Kriegsentschädigung, noch ein Stück Land, sondern er gab ihm noch ein Stück des früheren preußisch-polnischen Besitzes. Das einzige, was er von ihm fordert, ist der Beitritt zum Wirtschaftsbund gegen England. Als das große Ergebnis von Tilsit sieht er an, daß er die Kontinentalsperre nunmehr gegen ganz England durchzuführen vermag. Das besiegte Rußland sollte ihm der Bundesgenosse gegen das zu besiegende England sein. Eine »Eroberungsbestie« hätte in Tilsit nicht auf diese Bedingung hin haltgemacht, sondern damals den Zug nach Rußland unternommen und den niedergebrochenen Feind in anderer Weise gedemütigt. Der Napoleon des Tilsiter Friedens ließ deutlich erkennen, daß der Friede von Tilsit ihm nur Episode war in der großen Auseinandersetzung zwischen Frankreich und England.

Wir wissen heute, daß ein geheimer Bündnisvertrag mit dem Zaren bestand, der einen etwaigen Frieden mit England vorsah. England sollte seine Kolonialeroberungen seit 1805 herausgeben und die Freiheit der Meere für die Flaggen aller Nationen anerkennen. England hat bekanntlich nicht daran gedacht, auf solche Bedingungen hin Frieden zu schließen. Wo es auf dem Meere herrschte, da übte es diese Herrschaft mit der größten Brutalität aus. Das Bombardement von Kopenhagen und die Vernichtung einer neutralen Flotte nennt Lenz mit Recht eine »ärgere Gewalttat, als sie Napoleon in seinem ganzen Leben getan hätte«. In völliger Mißverkennung des großen französisch-englischen Gegensatzes gehen die europäischen Geschichtsschreiber an diesen Dingen vorbei, während sie alle Gewalttaten Napoleons in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellen, so wie die Geschichtsschreibung unserer Feinde von der Verletzung der Neutralität Belgiens spricht, die Griechenlands aber nicht erwähnt.

Es ist interessant, sich gerade unter dem Gesichtspunkt des heutigen Wirtschaftskampfes die Frage vorzulegen, wer in dem Kampf zwischen Kontinentalsystem und Beherrschung der Meere siegreich gewesen wäre, wenn Napoleons Zusammenbruch nicht erfolgte. Pflug-Hartung glaubt, daß die Kontinentalsperre letzten Endes ihr Ziel erreicht hätte, zumal England im Jahre 1812 zum zweiten Male vor einer Hungersnot stehe. Die Preise der Rohprodukte waren in England auf das Vierfache gestiegen. Die Frachten hatten Entwicklungen angenommen, die phantastisch erschienen; für eine 100-Tonnen-Ladung von London nach Calais wurden 50 000 Pfund gefordert. Zudem verlor England durch den Kampf, der gegen seine Schiffe auch von Napoleon und den von ihm abhängigen Staaten geführt wurde, jährlich 624 Schiffe. Wie tief die Kontinentalsperre in Deutschland eingegriffen hat, ist bekannt. Lächerlich aber ist es, sie nur unter dem Gesichtspunkt der Bedrückung der Verbraucher hinzustellen, die auf beliebte Genußmittel verzichten mußten, ohne daran zu denken, daß sie anderseits auch zur Entwicklung von Industrien führte, welche ohne diese Kontinentalsperre niemals wettbewerbsfähig gewesen wären. Berühmte sächsische Spinnereien sind in jener Zeit in Deutschland entstanden, ebenso wie die französische Industrie sich unter dem Ausschluß des englischen Wettbewerbs ausdehnen konnte. So wie wir heute im Zeichen der Ersatzstoffe stehen, so sehen wir damals Napoleon bemüht, seine Chemie zu veranlassen, einen Ersatzstoff für Zucker zu finden und sehen insgesamt England unter den Verhältnissen mehr leiden als seine Gegner.

An dem Kampfe gegen England geht Napoleon schließlich zugrunde. Er kommt mit seinem Bruder in die heftigsten Auseinandersetzungen, weil dieser als König von Holland das System der Abschließung Englands nicht scharf genug ausführt. Die Einverleibung Hollands in Frankreich ist wieder Ausfluß dieses Systems der Bekämpfung Englands. Napoleons Biograph Fournier schrieb von den Kämpfen in Spanien, daß das französische Heer immer erwartet habe, daß sein großer Feldherr in Spanien erscheinen würde, um es zum Siege zu führen, daß aber Napoleon in dieser Zeit in seiner Hauptstadt nur mit dem Gedanken eines Handelskrieges gegen England beschäftigt gewesen wäre. Der Gedanke der Besiegung Englands führt zum Feldzug des Jahres 1812, in dem Napoleon scheiterte. Pflug-Hartung schreibt darüber, daß das verbissene Bestreben, England zu vernichten, ihn in den Krieg mit Rußland stürzte und daß, von diesem Gesichtspunkt angesehen, dieser Kampf hinauswächst über die französische Macht und welthistorisch wird. Der Rücktritt Alexanders von der Kontinentalsperre war der letzte Grund zu der großen Auseinandersetzung. Wie gern hätte er jeden Frieden von Alexander entgegengenommen, der ihm irgendeine Aussicht bot, den Wirtschaftskampf gegen England weiterzuführen. Er hatte die Empfindung, daß hinter allen neuen Feinden, die gegen ihn aufstanden, England stände. Als er die preußische Denkschrift des Jahres 1806 erhält, da nennt er sie die Abschrift einer »englischen Rhapsodie«, in der Annahme, daß der Text in England gemacht sei. Als er im Befreiungskriege Metternich empfängt, mit diesem hart über die Friedensbedingungen aneinandergerät, da entfährt ihm in der Erregung das Wort: »Metternich, wieviel hat Ihnen England dafür geboten, daß Sie diese Sprache führen?« Als er die Schlacht bei Belle-Alliance verloren hat, die nicht der englische Feldherr, sondern Blüchers strategisches Genie gewann, und als er, von seinem Volke und seiner Regierung verlassen, am Strande einherirrt und schließlich ein Schiff besteigt, um in England Zuflucht zu suchen, da schreibt er an den König von England: »Ich komme wie Themistokles, um mich am Herde des britischen Volkes niederzulassen, ich stelle mich unter den Schutz des mächtigsten und beharrlichsten meiner Gegner.« Immer wieder hat er auf St. Helena den Gegensatz England-Napoleon in seinen Gesprächen erörtert. »England«, so sagt er, »ist in allen Dingen unersättlich. Aber wenn man mehr fabriziert, als man absetzt, so häufen sich zu große Vorräte auf. Dadurch gewöhnt sich das Volk an ein gemächliches Leben, und wenn nachher für die Waren keine Absatzwege mehr vorhanden sind, so gibt es Kampf. Ich habe den Nationen des europäischen Festlandes gezeigt, daß es auch ohne England fertig werden kann.« »Alles hätten mir die Engländer verziehen,« betont er ein anderes Mal, »aber daß ich Antwerpen besaß, diese auf England gedrückte Pistole, das haben sie mir nie verziehen.« In seinen Fieberphantasien auf dem Sterbebette träumte und sprach er noch über die Landung in England.

In Deutschland hat man es Goethe vorgeworfen, daß er kein Verständnis für das Wesen der Befreiungskriege gehabt habe. Allein aus dem Gesichtswinkel der preußischen Befreiung hat er sie allerdings nicht gesehen. Auch war ihm die mit Hilfe Rußlands erstrittene Freiheit zu kosakisch. Wie er Napoleon ansah und wie er in dessen Kämpfen den großen welthistorischen Gegensatz zwischen Seemacht und Kontinentalmacht über die Jahrhunderte blickend sah, das zeigt uns eine Stelle seiner sonst dichterisch und sachlich sehr anfechtbaren Karlsbader Gedichte, in denen er Napoleons Kampf gewissermaßen als den Kampf zwischen Meer und Erde ansieht und mit den Worten schließt:

»Ist jenem erst das Ufer abgewonnen,
Daß sich daran die stolze Woge bricht,
So tritt durch weisen Schluß, durch Machtgefechte
Das feste Land in alle seine Rechte.«

Dem Niederbruch der napoleonischen Herrschaft folgt der Wiener Kongreß. Er besiegelt Englands Weltherrschaft. Die zweitstärkste Flottenmacht war zusammengebrochen und kam als Gegner Englands nicht mehr in Betracht. Preußen erhielt kaum seine alten Gebiete wieder und lag finanziell so darnieder, daß noch bis in die letzten Jahrzehnte hinein ostpreußische Städte die Schulden abgezahlt haben, die sie während der Napoleonzeit machen mußten. Rußland war ohne Expansionsdrang, der England hätte gefährlich werden können. So war ganz Europa todeswund von den blutigen Zeiten der napoleonischen Epoche, die auf europäischem Boden die Schlachten ausgefochten sah. England aber hatte zwar, wie sein Schatzkanzler im Parlament mitteilte, 16½ Milliarden Mark – eine für damalige Verhältnisse unerhörte Ziffer – für Subsidien an Napoleons Gegner ausgegeben, aber die Ziffer hatte sich reichlich gelohnt; Blutopfer hatte es fast gar nicht gebracht, den Handel der Welt an sich gerissen, es war die große Werkstätte der Welt geworden, das nun auch das warenhungrige Europa von sich aus versorgte, und dem in seinem Weltexpansionsdrange kein Gegner mehr gegenüberstand.

Doch beruht Deutschlands große Entwicklung mit auf den Ergebnissen jener schweren Zeit. Jena war nicht nur Niederbruch, sondern Auferstehung. Ein in der Hand kleiner Geister verkümmertes Volk reckte sich durch Unglück zur Größe auf. Stein – von Napoleon zuerst empfohlen – ward Preußens Reorganisator. Gewerbefreiheit, Städteordnung und eine Freimachung des Bauernstandes – wenn auch unter zu weitgehender Landhingabe – waren die Ergebnisse seiner Anregungen, der Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht setzte sich durch, die Entschädigung Preußens für die verlorenen polnischen Gebiete mit der Rheinprovinz lenkte die Augen Preußens nach dem Westen und machte ihm die Wacht am Rhein zur historischen Aufgabe. Nach der Auseinandersetzung mit Österreich und dem Kampf mit Österreich ersteht die alte Kaiserkrone neu unter Preußens Führung. Wie groß die Entwicklung Deutschlands seitdem ist, zeigt der Vergleich, daß Frankreich heute uns gegenüber doch so klein ist, daß es allein einen Waffengang mit uns überhaupt nicht wagen würde. Heute sind wir die zweite Flottenmacht, heute haben wir den Drang zur See, heute haben wir Pläne eines Kolonialreiches, heute arbeiteten unsere Industrien im Wettbewerb mit England, und deshalb richteten sich auch Englands Zorn, Haß und die Zähigkeit seines Vernichtungswillens so gegen Deutschland, wie sie sich einst gegen Napoleon richteten. Die Weltgeschichte liebt Wiederholungen. Wie einst Napoleon, so kämpfen wir heute für die Freiheit der Meere. Einst konnte England nur mit silbernen Kugeln kämpfen und seinen Anteil mit 16 Milliarden bestreiten. Heute haben wir es zu Blutopfern gezwungen, die ihm schwer genug fallen. Wie es einst vor Jahrhunderten in Europa keinen Frieden werden ließ, so hetzt es jetzt ein Volk nach dem anderen zum Kampfe gegen uns auf, möchte auch uns ein Napoleonschicksal bereiten, muß sich aber zähneknirschend schon heute im Innern eingestehen, daß sein Spiel verloren ist.

Denn Napoleon ging in diesem Kampfe zugrunde, weil seine Flotte der englischen nicht ebenbürtig war. Über der Napoleon-Epoche stehen die Worte »Abukir« und »Trafalgar«, über dem Weltkriege »Skagerrak« und »deutsche U-Boote«. Napoleon hatte einen Fulton, der ihm Dampfschiffe und Unterseeboote bauen wollte, als einen verrückten Utopisten zurückgewiesen (»Der Mann schlug mir vor, ich sollte mit geheizten Kochtöpfen nach England herüberfahren«). Das damals Erträumte ist heute Tat, Tat, ausgeführt durch deutschen Stahl und deutsche stahlharte Herzen. Hunderttausende von Tonnen sinken monatlich darnieder. Wohl dringen neutrale Einsprüche auf uns ein. Wie Worte einer deutschen Note dringt Napoleons Stimme aus dem Grab zu uns, wenn wir ihn über amerikanische Neutralität so sprechen hören: »Herr von Champigny, antworten Sie dem amerikanischen Gesandten: Wenn Amerika duldet, daß seine Schiffe untersucht werden, wenn es das Prinzip anerkennt, daß die Flagge die Ware nicht deckt, wenn es die unsinnigen Blockadegesetze anerkennt, warum wollen die Amerikaner die französische Blockade nicht dulden? Gewiß erkennt Frankreich an, daß diese Maßregeln ungerecht sind, aber es ist Sache der Völker, ihre Zuflucht zur Gewalt zu nehmen und sich gegen Dinge zu wehren, die sie entehren und ihre Unabhängigkeit aufs schändlichste kränken.«

Atemlos lauscht die Welt dem Ringen, das heute die Völker Europas zerfleischt. Die Erkenntnis, daß England unser Hauptfeind in diesem Ringen ist, ist Allgemeingut. »Auf deiner Insel, neidisches England, du bist der Urfeind.« Das ist die Gesinnung, die uns alle durchdringt. Lloyd George vergleicht uns mit Napoleon. Wohl sehen wir manche Berührungspunkte, manche Parallele wird Sie überrascht haben, doch wollen wir das Wesentliche des Unterschiedes nicht vergessen.

Heute kämpft nicht ein Mann ohne innere Heimat, heute kämpfen Völker mit ihrem tiefsten Empfinden den Kampf gegen England. Nirgends wird aber dieser Kampf tiefer empfunden als in Deutschland. Daß wir damit die Lebensarbeit des Großen eines anderen Volkes zu Ende führen, ist eine Ironie der Weltgeschichte, wenn man es nicht als größere Ironie ansehen muß, daß das Frankreich Napoleons sich für England verblutet. Napoleon vergleicht einmal England mit Carthago. Carthago sank von seiner Höhe herab. Auch England kann sinken und wird sinken. Denn auf unserer Seite ist das sittliche Recht und auf unserer Seite die Macht, den Stoß in sein Herz zu führen, wenn wir die Stunde zu nützen verstehen.



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