Rudolph Stratz
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Rudolph Stratz

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XVI.

Es waren glühend heiße Tage zu Mitte Juli, und die Frau Amtsrichter Weigand, Georg Gisberts Schwester, fühlte sich durch die wenigen Stunden Eisenbahnfahrt von Magdeburg nach Berlin ganz erschöpft. Sie gehörte nicht zu den Stärksten. Sie war kaum mittelgroß und unheimlich mager. Auf ihrem klugen, spitzigen Gesicht wohnte die Sorge der viel geplagten Hausfrau, die jahraus jahrein in der Tretmühle schafft. Sie war nicht gern in Berlin, so nahe sie es hatte. Es sagte ihr zu viel. Es weckte mit seinem unruhigen Brausen und Leben manches in ihr auf, was besser schlief – womit sie sich allmählich im Einerlei an der Elbe abgefunden. Man dachte darüber nach, wie vieles anders sein könnte, wenn alles anders wäre, und hatte doch den Besorgungszettel für Tietz und Wertheim in der Tasche und ging an seine Pflicht. Diesmal aber ließ Frau Weigand, die in ihrem billigen Strohhut und ihrer einfachen Sommerbluse recht provinzmäßig aussah, Warenhaus Warenhaus sein, stieg sofort in einen Taxameter und fuhr durch die staubig flimmernden Straßen, deren Asphalt sich schon unter der Sonne erweichte und in deren Schattenstreifen längs der Häuser die Menschen wie matte Fliegen dahinkrochen, zum Wannseebahnhof und mit der Vorortbahn bis nach Zehlendorf.

Dort frug sie sich bis zu der Pension der von Pfennigreuterschen Damen durch, die schon außerhalb des Ortes in der Richtung nach der Klein-Machnower Forst als eine Backsteinvilla im Grünen dalag, und wandte sich an das auf ihr Klingeln öffnende Mädchen: »Ach bitte . . . ist Frau Vera von Vogt für mich zu sprechen? – Frau Weigand. Ich habe geschrieben, daß ich kommen würde!«

Das Mädchen ging und kehrte nach kurzem zurück: »Gnädige Frau läßt bitten!«

Das Herz der kleinen Frau Amtsrichter klopfte, als sie die Treppe hinaufstieg. Sie war ein paar Jahre älter als ihre ehemalige Schwägerin und hatte, in der Zeit, als sie miteinander verwandt gewesen, ein Gefühl von Gedrücktheit vor deren Eleganz und Hochmut nie völlig ablegen können. Sie mußte sich auch jetzt zusammennehmen, um unbefangen einzutreten. Vera erhob sich, als die Türe ging, vom Schreibtisch und blieb in der Mitte des Zimmers stehen. Die schwarze Trauer hob noch ihre blonde Schönheit, die ihre Besucherin verblüffte. Die hatte gedacht, sie abgehärmt und leidend zu finden, sechs Wochen nach dem Tode ihres Kindes, aber die Wangen der jungen Frau waren kaum merklich blasser, ihre großen, graublauen Augen lebhaft, ihre Bewegungen voll unterdrückter Spannkraft, während sie einen zweiten Stuhl herbeizog und sagte: »Bitte, setzen Sie sich, gnädige Frau! Sie wollen mich sprechen?«

Frau Weigand nahm Platz – in einer unbehaglichen Vorstellung: ›Ich seh' wie eine Motte neben ihr aus – in meiner Leinenbluse!‹ – und erwiderte schnell: »Vor allem, Vera, bitte: nicht ›Sie‹! Wir waren doch einmal Schwägerinnen und nannten uns ›du‹. Und wenn wir uns auch sieben Jahre nicht gesehen haben . . .«

Vera von Vogt überlegte und meinte dann ruhig: »Wie du willst!«

Sie kam der anderen in keiner Weise entgegen. Die holte Atem und hub an: »Glaub mir, die Reise hierher ist mir nicht leicht geworden. Ich hab' mich auf Herz und Nieren geprüft, ob ich denn gut tu', mich da einzumischen? Und schließlich hab' ich mir gesagt: Ja! . . . Sonst mach' ich mir nachher, wenn es zu spät ist, Vorwürfe, daß ich meine Pflicht gegen meinen Bruder nicht erfüllt hab' – gerade gegen meinen Lieblingsbruder Georg. Und da bin ich!«

»Ja, da bist du,« sagte Vera.

»Und ich lasse mich jetzt auch durch deinen Spott nicht abschrecken! . . . Darf ich dich etwas fragen?«

»Was du willst!«

Die Ruhe der jungen Frau war ihrer Besucherin unheimlich. Wenn man, wie Vera, vor kurzem erst sein Kind begraben hatte . . . Sie streckte ihre Hand aus und murmelte, da jene sie befremdet ansah: »Ich wollte dir nur noch nachträglich mein Beileid . . . Es hat mir das Herz geblutet, wie ich's gehört hab' . . . Es gibt doch nichts Schwereres – nicht wahr – als gerade das . . .«

Vera von Vogt ließ die Rechte der anderen aus der ihren gleiten. »Hast du eigentlich einmal ein Kind verloren?« frug sie.

»Gottlob, nein!«

»Nun, dann wollen wir auch nicht darüber reden. Erzähle mir lieber, weswegen du eigentlich hier bist.«

Die kleine Frau Amtsrichter aus Magdeburg fühlte ihre Befangenheit steigen. Sie hatte sich dies Zusammentreffen schon die ganzen letzten Wochen hindurch ausgemalt, aber sie hatte sich Vera dabei ganz anders vorgestellt – zerrissen – aus ihrem Kreise geworfen – ein Mensch, den man kaum berühren durfte, ohne daß man ihm weh tat, daß er aufschrie – und nun fand sie da eine Frau, die gelassener war als sie und sie gleichgültig, halb fragend, die Hände über den Knieen gefaltet, ansah . . . Sie begriff das nicht und fing zögernd und unsicher an: »Es ist eben wegen damals! Von da ab . . . seit dem Tod der armen kleinen Karla . . . Ihr habt euch doch dort in Schlesien getroffen – mein Bruder und du . . .?«

»Gewiß!«

»Ja. Und . . . und nun . . .«

»Was denn: ›und nun?‹« Vera wurde etwas ungeduldig. »Liebe Ida, wenn du schon aus Magdeburg hierher gekommen bist, dann tu doch wenigstens jetzt den Mund auf! Sonst ist dein Reisegeld doch ganz für die Katze . . .«

». . . nun höre ich von allen Seiten, daß ihr seitdem überhaupt nicht wieder auseinander gekommen seid!« fuhr es Frau Ida Weigand heraus, und in dem Augenblick, wo dies Wort gesprochen war, bekam sie auf einmal Mut, ihre Wangen röteten sich, es floß ihr von den Lippen: »Vera . . . ich hab' mich an den Kopf gegriffen und gefragt: ›Ja, Herr im Himmel . . . ist denn das möglich? Ich kann's ja nicht glauben! Ich muß es aus ihrem eigenen Munde hören‹ . . . Soll denn das wirklich wahr sein: Er wohnt am Kurfürstendamm bei seiner Familie und du hier draußen, und ihr seht euch jeden Tag, den Gott gibt, und geht miteinander aus und sitzt stundenlang beisammen . . .?«

». . . oder wir schreiben uns, wenn er zu viel Dienst hat!« sagte Vera und wies auf den angefangenen Brief, der auf dem Tische lag.

Ihre Besucherin rang die mageren, häuslich abgearbeiteten Hände, an denen außer dem Trauring nur ein ganz kleiner, billiger Türkis leuchtete.

»Ja, und das sagst du so ruhig . . .«

»Ich bin ruhig.«

». . . und gibst ohne Scheu zu, daß ihr als geschiedene Leute tagtäglich . . .«

»Unser Verkehr braucht das Tageslicht nicht zu scheuen!«

»Das meine ich auch nicht . . . aber die bloße Tatsache, daß ihr überhaupt noch ein Wort miteinander sprechen könnt . . .«

»Viele Worte!«

». . . daß ihr derart alles herausfordert, – daß ihr der Welt direkt ins Gesicht schlagt . . . verzeih . . . das war ein Ausdruck so in der Hitze . . .«

»Es ist ganz gleich, ob du es so oder so nennst!«

». . . das ist alles so . . . so unbegreiflich! Es steht einem förmlich der Verstand still! Es muß doch einen Grund geben, warum sich zwei Menschen plötzlich wie die Unsinnigen benehmen und auf ihr Glück und das der Ihrigen losstürmen . . .«

»Wir tun's eben, Ida!«

Es war eine Weile still im Zimmer.

Dann sagte Vera noch einmal: »Wir tun's, weil wir müssen! Versteh du das nun oder versteh es nicht . . . da kann ich dir nicht helfen . . .«

Die kleine, spießbürgerlich gekleidete Frau ihr gegenüber war erschrocken. Aber in einer besonderen Art. In ihre Züge kam ein unbewußter, ängstlicher Respekt vor der Macht des Schicksals, das sich da enthüllte, und sie frug leise, mit klopfendem Herzen: »Ja, aber, Vera: verzeih die Frage: Wie denkst du dir denn da nun die Zukunft?«

»Gar nicht.«

»Wieso?«

»Ich denke überhaupt nicht!«

»Aber du mußt dir doch ein Bild machen, was . . .«

»Ich hab' mir schon viele Bilder im Leben gemacht, und nachher kam immer alles anders. Ich hab' offenbar kein Talent, die Dinge richtig zu sehen. Ich stoß' doch immer mit dem Kopf dagegen. Ich bin jetzt müde. Ich lege lieber die Hände in den Schoß. Stillstehen kann nichts auf der Welt. Also wird auch das alles geschehen, wie's werden muß.«

Die Magdeburgern war ganz entsetzt: »Also du kneifst einfach die Augen zu, gegen ein Verhängnis, das du dir selber einrührst . . . und sitzest da in deinem Schaukelstuhl . . . Ich bin ganz starr! Einmal, Vera – einmal kommt doch da ein Tag mit Schrecken!«

»Nun, dann kommt er!«

»Das ist freilich auch ein Standpunkt!«

Veras frühere Schwägerin stand auf. Sie empfand plötzlich eine blinde, hilflose Erbitterung gegen diese schöne, junge Frau, die da mit halbgeschlossenen Augen, das blonde Haupt etwas zurückgelehnt, die schlanke Gestalt in die fließenden Falten des schwarzen Trauerkleides gehüllt, scheinbar leidenschaftslos vor ihr saß, und sie versetzte: »Und an die andere denkst du nicht? Du bist schließlich frei. Du kannst mit dir machen, was du willst, und dem Urteil der Welt trotzen, wenn es dir Spaß macht. Aber mein Bruder hat eine Frau . . . Hast du denn kein Mitleid mit ihr?«

»Ich will dir einmal etwas sagen, Ida: sie hat Kinder, ich nicht mehr! Und trotzdem hat sie mir mein einziges Kind weggenommen gehabt, zu sich ins Haus, und wie ihr Eigentum betrachtet – das letzte, was ich armes Geschöpf noch auf der Welt besaß – und es mir ganz entfremdet . . . ›Tante Otti‹ – das waren seine letzten Worte! Warum soll ich denn ewig Mitleid mit den Leuten haben? Es hat doch auch niemand welches mit mir!«

Frau Ida Weigand setzte sich wieder.

»Gut!« sagte sie. »Du sollst recht haben! Ich hab' auch keine Legitimation, dir da hineinzureden. Ich bin nur wegen meinem Bruder da. Für den möcht' ich bitten: . . . Ruiniert euch doch nicht . . . so blindlings . . . so unvernünftig . . . ins Blaue hinein . . . habt doch Erbarmen mit euch selber, wenn ihr es schon mit uns nicht habt! Schau, liebe, gute Vera: Er ist doch so ein begabter Mensch. Er hat so eine schöne Karriere vor sich. Er ist Offizier. Er ist Ehemann und Vater . . . Muß denn das alles zerschlagen werden . . .? Denn daß das so nicht weiter geht, darüber sind sich nachgerade alle klar . . . seine Vorgesetzten  . . . die Schwiegereltern . . . die Seinen . . . seine Kameraden . . . wen du fragst . . . Vera . . . Vera . . . man möcht' ja rein aufschreien vor Angst . . . die Dinge treiben ja unaufhaltsam einer Katastrophe entgegen . . .«

»Laß sie treiben!«

»Vera . . . ich bin zuerst zu dir gegangen. Eine Frau zu der anderen! Ich hab' so sehr gehofft, ich würde irgend ein Wort finden, das zu deinem Herzen geht! Es ist ja schwer. Du siehst einen so kaltblütig an, als müsse alles so sein, wie es ist . . . Und das ist doch so eine verzweiflungsvolle, wahnsinnige Verblendung! . . . Kann man dir denn nicht die Binde von den Augen reißen?«

Vera von Vogt ließ ihre großen, blauen Augen auf der anderen ruhen.

»Ich trage keine!« sagte sie. »Im Gegenteil: ich bin ganz frei und seh' ganz klar. Ich hab' mehr durchgemacht als du! Glaub mir: Es muß sich alles im Leben erfüllen und man muß den Mut dazu haben. Den hab' ich. Andere nicht!«

Während sie sprach, steckte Fräulein von Pfennigreuter, die Tochter der Pensionsinhaberin, nach raschem Anklopfen ihren Kopf voll verblühter, altjüngferlich verwitterter Schönheit durch den Türspalt herein und zog ihn, da sie den Gast sah, mit einem hastigen: »O . . . Verzeihung!« wieder zurück, und Vera versetzte: »Sieh, das ist auch so eine! . . . Die stirbt mal und weiß nicht, warum sie gelebt hat. Sie hat den Anschluß ans Glück verpaßt. So viele von uns! Du auch! Es ist ein Verhängnis . . .«

Die kleine Frau aus Magdeburg rückte unruhig auf ihrem Stuhl. Sie hatte wieder Furcht vor Vera. Die aber nahm plötzlich ihre Hand und sagte, sie festhaltend: »Du hast mir gleich von Anfang an, wie ich dich damals kennen lernte, leid getan, Ida. Dein Mann mißfiel mir so rasch und so gründlich. Das wäre ja ganz egal gewesen. Aber ich hab' sofort bemerkt, daß er dir selber auch mißfiel. Und er mißfällt dir noch. Arme Ida!«

»Bitte, rede nicht von mir! Ich bin ganz zufrieden . . .«

»Das heißt: Du hast dir ein bißchen Leben für dich beiseite gebracht . . . so ein windstilles Eckchen – du und deine Magdeburger Clique . . . Georg hat mir davon erzählt . . . da sitzt ihr und lest allerhand schöne Sachen und lullt euch übers Leben weg . . . Das sind eure Opiate! . . . Aber ich brauch' keine. Ich bin sehr wach, Ida.«

Sie gab der schöngeistigen kleinen Frau, die beklommen, wie schuldbewußt schwieg, einen Schlag auf die Schulter: »Sag mal selbst: Ist dir nicht manchmal in deinem Kämmerlein ein bißchen bang . . .? Du warst so ein hochherziger, hochfliegender kleiner Kerl! Nun haben sie dich glücklich platt am Boden. Nun jubeln sie alle was von erfüllter Pflicht! . . . Die Art Pflicht, die heißt Flügelbrechen! Ihr seid feige, Kinder! . . . Ihr duckt euch und denkt, das Leben geht vorüber wie 'ne Regenhusche draußen. Freilich geht's vorüber. Aber es war dann auch danach!«

Frau Ida Weigand war wieder aufgestanden. Ihr spitzes, kluges Gesichtchen war ganz blaß geworden.

»Laß doch das!« sagte sie mühsam, und Vera, die sich gleichfalls erhoben hatte und, beinahe einen Kopf größer, vor ihr stand, schüttelte den Kopf: »Ich weiß, man sollte dich lieber schlafen lassen. Aber du bist mir zu selbstgerecht . . . Hast du deine unglückliche Ehe nicht schon zehntausendmal verraten, in Gedanken, über deinen Büchern, in Träumereien? Und dann bist du stolz und dünkst dich über mir und kommst zu mir wie der Prediger in der Wüste! Geh lieber in dich, Ida!«

»Ja. Ich werde gehen!« sagte die kleine Frau.

»Und vergiß nicht, was ich sage: Es muß nicht immer ein ungelöster Rest in einem bleiben! Ihr lebt so, wie viele von uns Handarbeiten machen. Die Geschichte bleibt halbfertig liegen oder fremde Hände pfuschen sie zu Ende. Ich will selber zu Ende kommen!«

»Das ist aber kein Ende! Das ist wieder ein Anfang!«

»Ich kann nicht anders!«

Die beiden jungen Frauen verstummten und gaben sich nach kurzem Zögern doch die Hand zum Abschied. Vera stand an dem Fenster und sah, wie ihre Besucherin, das Kleid raffend, ohne den Kopf zu wenden, durch den Vorgarten dahin jagte. Frau Weigand floh förmlich aus diesem Hause, sie eilte mit hastigen Schritten, als würde sie von jemandem verfolgt, die Chaussee entlang und wurde erst etwas ruhiger, als der Zug sie wieder nach Berlin zurückbrachte.

Dort fuhr sie vom Bahnhof hinunter nach der Gisbertschen Wohnung. Gerade vor dem Hause in der Meinekestraße traf sie sich mit ihrer Schwägerin Otti, die von der anderen Seite her, von der Straßenbahnhaltestelle, zu Fuß kam, ein kleines, schwarzes Gebetbuch in der Hand. Sie sah sehr blaß aus. Auf ihrem schmalen, hübschen Kindergesicht war ein Ausdruck von Staunen. Der veränderte sich nicht, auch als sie nun die andere erkannte und ihr die Hand gab und dabei schwach lächelte. Es war eine Art Geistesabwesenheit, die hauptsächlich in ihren dunklen, sanften und tiefen Augen lag, diesen »katholischen Augen«, wie sie ihr Mann früher im Spaß genannt hatte.

»Ich bin so gesprunge, um noch vor dir retour zu komme!« sagte sie. »Es ist so ein arges Ende Weg! Ich war drinn' in der Stadt, in der Hedwigskirche!«

»Heute, am Wochentag?«

»Ich geh' jetzt jeden Tag in die Kirche!« sagte die blasse Rheinländerin, während sie zusammen die Treppe hinaufstiegen. »Ich mein' als, da gehört' ich jetzt mehr hin, als in mein Haus. Wenn es auch nix hilft! Ich beicht' da meine Sünden, und mein Mann begeht sie unterdes . . .«

Ihrer Schwägerin, der nüchternen Norddeutschen, waren diese Stimmungen fremd, die bei Otti Gisbert mit der Macht alter Jugendeindrücke, des Rauschens der Domglocken über Worms, über die Rebhügel unserer lieben Frau und den Spiegel des deutschen Stromes wirkten. Sie begriff nicht, warum ein ratloses Frauenherz zur Madonna floh und zu den sieben Schwertern in ihrer Brust, aber sie war froh, daß Otti gleich von dem Unglück wie von etwas Selbstverständlichem gesprochen hatte, und sie versetzte, kaum, daß sie oben in den Zimmern waren: »Ja, aber, Otti – armer Schatz – wie soll denn das um Gottes willen werden?«

»Das weiß kein Mensch!«

»Hast du denn gar keinen Einfluß mehr auf deinen Mann?«

»Ich hab' nie welchen gehabt.«

»Aber eure Ehe war doch so glücklich!«

»Ja. Ich war glücklich, daß ich den Georgche gehabt hab', und er hat sich von mir lieb haben lassen! . . . Jetzt ist das halt bei ihm aus . . .«

»Aber du mußt ihn doch einmal ins Gesicht fragen, was er sich eigentlich bei dem allem denkt!«

»Wir reden schon seit vierzehn Tagen nicht mehr miteinander. Wir sehen uns nicht mehr. Ich bin hinübergezogen ins Kinderzimmer! Da kann er drüben kommen und gehen, wie er will . . .«

»Und soll das so weitergehen?«

»Lang nit mehr, Ida! . . . das kannst du mir glauben! . . .«

»Und das sieht er selber nicht ein!«

»Nimm doch deinen Hut ab! . . . 's ist ja so schrecklich heiß! Ob er das einsieht? . . . Lieb's Kind: Der Georgche sieht nix mehr und hört nix mehr und weiß nix mehr und will nix mehr – den hat die da drüben verhext! Der is nur noch ein Schatten von einem Mann. Da laß du nur alle Hoffnung fahren! Ich hab's schon lang getan!«

Frau Ottis Augen waren tränenlos. Sie hatten einen trockenen, fieberigen Glanz. Sie sagte, mit einem verzweifelten Lächeln um die Lippen: »Guck, ich hab' schon 's Weinen verlernt! Das is jetzt schon 's letzte bei mir . . . jetzt geht's bald nimmer . . .«

Und plötzlich sagte sie mit einer leidenschaftlichen Entschlossenheit, die man ihrem sanften, kindlichen Wesen gar nicht zugetraut hätte: »Ich mach' ein End' – und bald! Das halt' ich nimmer aus! . . . Man kommt sich ja so dumm und kläglich vor. Warum ich dafür leiden muß, weil andere Leut' Pflicht und Ehre und Gewissen mit Füßen treten, das weiß ich nit! Das hab' ich satt bis daher!«

Sie machte dabei eine Handbewegung nach dem Hals und lachte zornig auf. Frau Ida Weigand zögerte. Sie, die das Leben und die Leidenschaft nur aus ihren Büchern kannte, fühlte sich unnütz hier unter all diesen entschlossenen und verzweifelten Menschen. Sie frug: »Kann ich dir nicht irgendwie helfen, Otti?«

Ihre Schwägerin schüttelte den Kopf.

»Dank schön! Hier kann nur noch ein Wunder helfen; daß der Georgche plötzlich vor mich hintritt und sagt: ›So. Ich bin wieder gesund!‹ Bei mir daheim erzählen sie von Wundern. Hier in Berlin lachen sie drüber. Ich fürcht', die Berliner behalten recht! . . .«

Sie machte wenig Versuche, ihre Verwandte aus Magdeburg zurückzuhalten, als die sich bald darauf, nach einem behutsamen Blick in die Kinderstube, in der die beiden Kleinen schlummerten, in einer beklommenen und unbehaglichen Stimmung empfahl. Sie war das fünfte Rad am Wagen, mit ihrer Reise nach Berlin. Das merkte Frau Weigand nun wohl. Aber sie war jetzt einmal da, das Geld für die Fahrt bezahlt, und sie sagte, als sie eine Stunde später mit ihren Brüdern, dem Spandauer Artilleriehauptmann und dem Leutnant von der Kriegsakademie in einer Weinstube in der Friedrichstadt zusammensaß: »Ich reise nicht ab, bis ich nicht den Georg gesehen und gesprochen hab'! Ich schicke ihm jetzt den Brief da durch einen Dienstmann. Er soll selbst bestimmen, wann und wo ich ihn treffen kann . . .«

»Dann wirst du einen Verrückten finden!« erklärte ihr Bruder Richard, mit beiden Backen kauend. Sein breites, rotes Gesicht glänzte vor Schweiß. Er litt als starker Biertrinker sehr unter der Hitze. »Ich hab' einmal bei ihm angetippt, wie mir's zu toll wurde – vor vierzehn Tagen! Na, Prost, Kinder – ich danke! . . . Das nächste mal geh' ich lieber in einen Tigerkäfig als zu meinem verehrten Herrn Bruder in die gute Stube . . .«

»Ich hab' auch ihm mal davon angefangen!« versetzte Albert, der hübsche, dunkelhaarige Mensch mit den träumerischen Augen, die denen Georgs glichen.

»Na – und?«

»Er sagte sofort: ›Sei still, du Dachs! Setze du dich im Hörsaal auf den Hosenboden und lern da was und red hier nicht von Dingen, die du nicht verstehst.‹ Da hab' ich meine Mütze genommen und bin gegangen!«

Seine Schwester seufzte. Ottis letzte Worte beim Abschied klangen ihr im Ohr: ›Mir ist's wie ein böser Traum! Ich mein' als noch, ich müßt' des Morgens aufwachen und hätt' mein Georgche wieder!‹ – und sie blickte trübe vor sich hin. Neben ihr sagte der Leutnant Albert halblaut: »Neulich hab' ich die beiden beisammen gesehen!«

»Wo denn?«

»Draußen im Grunewald! Ich war mit einem Kameraden gegen Abend hinausgeradelt. Bei Paulsborn schoben wir die Räder, weil Sand war, und da kamen sie uns auf dem Weg zwischen den Kiefern entgegen – ganz gemütlich und ruhig nebeneinander, genau wie ein Ehepaar, das spazieren geht. Sie ist ja eine bildschöne Person. Das muß ihr der Neid lassen. Sie hat mich auch gleich erkannt – ich merkt' es wohl – und mich ganz ruhig aus der Entfernung angesehen . . .«

»Bist du denn nicht an ihnen vorbei?«

»Nein. Ich bin rasch abgebogen. Es war mir zu toll. Ich schämt' mich förmlich vor dem Kameraden. Es wird ja schon überall davon geredet. Die Bombe ist am Platzen! Mit Georgs schönem Kommando hierher hat's nächstens auch geschnappt. Und was die beiden wahnsinnigen Menschen dann anfangen werden, wenn er von Berlin fort muß, das weiß der Kuckuck. Sie kann ihn doch nicht auch in die neue Garnison begleiten . . .«

»Na, vorderhand sind sie ja noch beisammen!« sagte der Hauptmann Richard und rauchte.

»Ja, fortwährend! . . . In jeder dienstfreien Stunde steckt er bei ihr draußen in Zehlendorf. Er hat auch schon mit seinem ewigen Ziviltragen Unannehmlichkeiten gehabt – er ist ein paarmal Vorgesetzten begegnet . . . es ist, als ob den Leuten alles auf der Welt egal wäre, wenn sie nur so miteinander herumschlendern können . . .! Da kommt der Dienstmann mit der Antwort, Ida!«

Frau Weigand öffnete den Umschlag. Georg schrieb kurz:

»Liebe Ida!

Wenn ich einen Rat nötig habe, werde ich es Dich wissen lassen. Vorläufig ist das nicht der Fall. Grüße Deinen Mann und Deine Kinder.

Dein Bruder Georg.«

Frau Amtsrichter Weigand las das Zettelchen zweimal durch, dann steckte sie es in ihre Tasche und sagte: »Das soll mir eine Lehre sein! . . . Ein andermal verbrenne ich mir nicht wieder die Finger!«

Sie hatte auf einmal Sehnsucht nach Magdeburg, nach ihrem großen Gefängnis, wie sie es sonst nannte – sie wollte zu ihren Kindern – beinahe zu ihrem Mann. Sie war verdrießlich. Auch das viele Fahrgeld reute sie. Sie schämte sich vor ihren Brüdern, daß sie so gar nichts ausgerichtet, und ließ sich ein Kursbuch geben, und als sie fand, daß jetzt eben ein Zug ging, sagte sie eilig den Geschwistern Adieu und stieg in eine Droschke und fuhr nach dem Bahnhof. Die zwei Offiziere blieben noch einen Augenblick sitzen, um zu zahlen. Der Hauptmann lachte nachträglich und meinte: »Die beiden sind ja viel zu hartgesotten! Denen könnte die Ida lang klug schwätzen, das Schaf . . . die hörten doch nicht darauf . . .«

»Auf uns doch ebensowenig!«

»Freilich!« Der Artillerist gab dem Kellner sein Trinkgeld und griff nach seinen Handschuhen, um aufzubrechen: »Der Kerl, der Georg, ist komplett närrisch! . . . nichts zu wollen. Ist nun schon der einzige Reichmeier unter uns vieren, könnte leben wie der Herrgott in Frankreich – nee – muß das Jungchen wieder seine Dummheiten machen! Und immer die Weiber! Nimm du dir's nur zum warnenden Exempel, Albert! Du hast auch so samtene Augen im Kopf! Verplempere dich nicht! Es wär' ja zum Lachen mit dem Georg, wenn es nicht zum Weinen wäre! Na – Mahlzeit!«

Damit schritt er davon und fluchte über die Hitze, die bleiern über Berlin brütete. Kein Gewitter unterbrach sie in den langen, wolkenlosen Tagen, die diesem folgten. Jeden Morgen stieg die Sonne wieder an einem tiefblauen Himmel empor, und spät am Nachmittag noch waren ihre Strahlen stechend, als Georg Gisbert und Vera gegen Ende der Woche gleich hinter der Station Wannsee, bis zu der sie von dem nahen Zehlendorf aus mit der Bahn gefahren waren, das schützende Blätterdach des Dreilindener Forstes erreichten. Da war es still und dämmerig. Nur wenig Menschen, denen man jetzt in der Sommerzeit in der Umgebung Berlins sonst nirgends entging. Es war ihnen eigentlich auch gleich, ob sie jemandem begegneten – selbst Bekannten – oder nicht.

Das Laub wölbte sich über ihren Häuptern, goldene Lichter blitzten durch, der Fuß versank in weichem Moos. Ihre Schritte waren fast unhörbar, wie sie da langsam nebeneinander schlenderten. Sie sprachen nichts miteinander. Das kam oft bei ihnen vor. Sie waren zufrieden, beisammen zu sein. Nach einer langen Pause sagte er: »Gib mir deine Hand!«

Sie überließ sie ihm. Sie gingen weiter, dicht nebeneinander, Hand in Hand, die Arme leise schwenkend. Niemand sah sie. Der Wald schwieg. Zur Linken tauchte aus seinem Dämmern das alte Jagdschloß von Dreilinden auf, grau, verwittert, von Erinnerungen an den Prinzen Friedrich Karl und seine Tafelrunde umwoben. Vera sah hin. Er folgte ihrem Blick von der Seite. Dann meinte er langsam: »Was du für schöne Augen hast!«

Und wieder nach einer Weile: »Das Blau darin ist immer wechselnd! . . . mal wie Stahl . . . mal wie das Meer . . . ich glaube, da spiegelt sich alles darin, was du denkst!«

»Dann spiegelst du dich darin!« sagte sie. »Weiter nichts!«

Ihre Züge waren weich geworden in diesen letzten Wochen. Wenn sie zu ihm sprach, lag ein sanftes Lächeln darauf. Und auf beider Antlitz eine Versonnenheit . . . eine Versunkenheit . . . ein Träumen – es gab nichts außer ihnen . . .

Zwei Radlerinnen kamen um die Ecke und warfen im Vorüberrollen einen flüchtigen Blick auf die große, schlanke Frau, deren tiefes Trauerschwarz mit dem hinten wallenden Flor so seltsam vom Grün des Waldes und ihrem rosig getönten und lebhaft bewegten Gesicht abstach. Er sah ihnen nach und meinte: »Ich begreife die Leute immer nicht!«

»Wieso?«

»Daß sie nicht gleich am Wege stehen bleiben, wenn du kommst, und dich anstaunen. Du bist doch so wunderschön. Es gibt doch nichts Schöneres als dich . . .«

Sie lächelte nur, in einer leisen, hingebenden Art. Es war Demut in ihren Augen, Glück, während sie den Kopf etwas abwandte und zur Seite schaute, über die Klein-Machnower Haide jenseits des Bahndammes hin, auf der der Abendschein schon blutrot mit gespenstigen langen Schatten lag und das Rehwild scheu zwischen Kiefernstümpfen und Buschwerk herüberäugte. Er schritt neben ihr. Er sah, wie die untergehende Sonne das feine Blondhaar in ihrem Nacken in gesponnenes Gold verwandelte, wie sie vor einer Wurzel am Boden das Kleid raffte und sich im Gehen elastisch hob. Alles an ihr war ihm eine Offenbarung. Ein Wunder. Er hätte dem einzelnen Herrn, der ihnen da entgegenkam, zurufen mögen: ›Da sieh hin! Das ist sie! . . .– Aber der Unbekannte, ein bebrillter, vollbärtiger kleiner Mann, der den Eindruck eines Oberlehrers machte, stapfte achtlos vorbei, und nun waren sie wieder allein und setzten sich unter den Bäumen am Rand der Sandböschung nieder, und er sagte andächtig, in einer Stimmung wie in der Kirche, statt deren sich über ihnen die weite, blaßblaue Himmelskuppel spannte: »Du bist wunder-, wunderschön!«

Sie neigte ihm ihr blondes Haupt zu. Die beiden küßten sich, heiß, inbrünstig. Es dauerte lange Zeit – die Abendschatten wurden immer länger, das Wild kam wie neugierig näher und näher, bis sie Lippe von Lippe ließen. Dann fuhren sie auseinander. Irgend etwas hatte sie plötzlich erschreckt. Kam jemand? Nein! Und doch pochte ihr Herz in der Abendstille. Nichts bewegte sich als eine weiße Birke da drüben, die im Winde seltsam als ein schneeiger Schein schwankte. Es war beinahe unheimlich. Er spähte noch einmal die leere Straße hinab und in den Wald, aus dem nur ein einzelner Vogelschrei klagend durch das Dämmern scholl, und sagte: »Und wenn es jemand gesehen hätte – warum sollen wir uns nicht küssen? Wir sind doch Mann und Frau!«

»Und sind es nicht!«

In beiden war ein plötzliches Bangen. Dumpfe Angst vor Tageshelle und Wahrheit. Ja, wenn nun jemand früge: ›Wer seid ihr, die ihr da, wie ganz junge verliebte Leute, euch so stürmisch und verschwiegen umarmt? Seid ihr Todsünder – seid ihr's nicht? . . .‹ Sie blickten sich an und küßten sich wieder – sie rückten nicht in bösem Gewissen auseinander, sondern noch enger zusammen, als wieder eine Schar von Ausflüglern vorbeikam, und er sagte, wie um sie beide von jeder Schuld freizusprechen: »Morgen müssen wir wieder auf den Invalidenkirchhof, Vera!«

Sie nickte. Der frisch aufgeworfene, kleine Hügel dort war überreich mit Blumen und Kränzen geschmückt. Erst gestern hatten sie Hand in Hand davor gestanden. Aber es zog sie immer wieder hin. Das war der Ort, der alle Zweifel versöhnte. Dort gehörten sie wirklich vor Gott und der Welt zueinander, die Eltern am Grab ihres einzigen Kindes, und nahmen dies Gefühl als Trotz und Trost wie eine Waffe mit sich hinaus ins Leben. Vera sagte: »Ich weiß nicht, ich hatte deine Mutter so gebeten, wegen der paar Andenken an Karla! Ich hab' sie jetzt noch nicht!«

Er zuckte die Achseln: »Mich darfst du nicht fragen! Meine Mutter schreibt mir schon lange nicht mehr!«

Sie schmiegte sich eng an ihn. Ihre Wange lehnte an seiner Schulter. Nach einer Weile meinte er: »Frag doch mal in Neetzow an, ob die Sachen etwa dort sind!«

»Papa antwortet mir nicht! Für den existiere ich doch nicht mehr seit vier Wochen!«

Beide lächelten schwach, träumerisch. Verstoßen . . . verfemt . . . die Menschen waren doch zu seltsam. Man wollte nur ein bißchen Glück, und sie gönnten es einem nicht. Vera sprach mit schleppender, schläfriger Stimme und halbgeschlossenen Augen: »Neulich lief mein Bruder, der Kuno, Unter den Linden an mir vorbei und grüßte nur ganz verlegen und steif aus der Ferne! So wie der dumme Junge machen sie's nun alle!«

»Es ist ja auch ganz gleich!«

»Ganz gleich!«

Ihre Hand spielte mit dem weißen Sand zu ihren Füßen. Sie schlug die Augen zu ihm auf.

»Du Lieber!« sagte sie leise. »Du Guter!«

Er beugte sich nieder und legte den Arm um sie und wieder blieben sie Mund an Mund. Dann saßen sie stumm da und sahen in die undeutliche Röte des Sonnenballs zwischen den Föhren und versanken in Träumen. Das Leben war ein Traum. Ein kurzes Wetterleuchten im leeren Raum und wieder das Dunkel . . . Sie genossen diese Schmerzlosigkeit, diese wunschlose Stille, und auf einmal sagte Vera aus ihren Gedanken heraus mit erstickter Stimme: »Ich glaube, ich war wahnsinnig . . . damals . . .«

»Wann?«

»Wie ich dich verlassen hab'!«

Sie klammerte sich förmlich an ihn, als könnte ihr ihn jemand entreißen, und so flüsterte sie: »Wenn ich denke, daß wir hätten zusammen sein können, die ganze Zeit, und so glücklich sein! . . . Es war meine Schuld . . . Ich war so schlecht! Du mußt mich besser machen, Georg, versprich es mir!«

»Und du mich auch!«

In ihrer beider Augen war die Hoffnung. Der Glaube an das Glück. Er sagte: »Wir haben so viel verfehlt! Aber nun kommt alles zurück!«

»Ja, nicht wahr . . . nun fangen wir von vorn an zu leben . . . wir sind ja noch jung . . .«

Sie lehnte sich in seinen Arm zurück, so daß sie gerade in die rotbeschienenen Abendwölkchen des Himmels hinaufsah, und murmelte und zählte: »Du bist fünfunddreißig . . . ich dreißig . . . da lohnt es sich schon noch, es nachzuholen! Und wenn wir es nicht verscherzt hätten, dann hätten wir es jetzt auch nicht. Dann wüßten wir gar nicht, wer wir wären!«

»Du bist mein ganzes Glück auf Erden, Vera!«

»Und du bist der beste, liebste aller Menschen. Wenn ich nur deine Stimme hör', dann möcht' ich immer fromm sein! Dann möcht' ich meinem Schöpfer danken, daß er dich geschaffen hat!«

Sie stand auf. Er half ihr auf die Füße. Dabei sagte er: »Ich glaube, Vera, so lieb wie wir hat sich keines mehr auf der Welt!«

»Keines!«

Sie sanken sich in die Arme. Er fühlte ihren schweren Atem an seiner Brust, ihre heißen Lippen. Ein Windstoß rauschte über die Haide und kühlte ihnen das Gesicht. Sie stiegen auf die Straße hinab, den Schein eines geheimnisvollen Glücks auf den Zügen. Unten frug er: »Wohin gehen wir weiter?«

»Wo du willst!« sagte sie. Sie hatte keinen eigenen Willen mehr. Sie tat, was er befahl. So schritten sie die Straße gegen Klein-Machnow zu. Sie hing sich in seinen Arm und ging in gleichem Tritt mit ihm wie ein Kamerad mit dem anderen. Er sagte: »Es ist wundersam! Manche Dinge erlebt man zweimal! Wie ich in Afrika fieberkrank lag, da hatte ich das ganz deutliche Bild, ich ginge noch einmal im Leben mit dir wie jetzt Arm in Arm durch einen deutschen Wald. Und dabei warst du in der Altmark und ich am Kilimandscharo und gab keinen Pfifferling mehr für mein Leben . . .«

Sie zitterte.

»Du darfst nicht sterben!«

»Da bin ich ja!«

»Ja, Gott sei Dank. Aber ich hab's nicht verdient, daß du je an mich gedacht hast! Und wenn, dann hast du mich hassen müssen!«

Da sagte er ruhig: »Ich hab' nie aufgehört, dich zu lieben! Ich hab's nicht gekonnt! Ich hab' es dir ja jetzt oft gesagt! . . . Es war eine Zeit, ganz im Anfang unserer Ehe, da hab' ich dich wahnsinnig geliebt! Aber es ist nichts dagegen, wie ich dich jetzt liebe!«

»Und ich dich!«

Sie gingen rasch dahin und sie sagte nach einem Schweigen: »Wir waren blind. Uns hat der Schmerz erst sehend gemacht!«

Und er erwiderte, plötzlich hart und schroff: »Da halt' ich dich!«

Dabei gingen die Augen in seinem dunklen, sonnengebräunten Kopf düster in der Runde, als sähe er irgendwo einen Feind. Aber es war nur harmloses Ausflüglervolk in der Nähe und wurde immer mehr, als sie nach Klein-Machnow kamen und um den See herumgingen, die alte Allee entlang, wo das steinerne Wappen über dem Portal prangte und im Herrenhof dahinter sich das mittelalterliche, verfallene Gemäuer der Hakeburg erhob. Hier, um das graue Dorfkirchlein herum, wimmelte es von Menschen, die von Stahnsdorf oder von der Machnower Schleuse kamen. Die beiden eilten sich, um hindurch zu gelangen; da hörte er plötzlich vor sich eine lachende Baßstimme: »Herrjeses, Gisbert! Sind Sie das oder Ihr Geist?«

Vor ihm stand, sein Spazierstöckchen schwingend, ein riesiger Herr in grauem Sommeranzug, mit aufgedrehtem kleinem Schnurrbart. Er hatte den ersten grauen Schein in den Haaren und lachte über das ganze Gesicht: »Na – ich denke, Sie kennen Ihren ollen ostafrikanischen Kriegskameraden noch!«

»Aber gewiß, Herr Major . . . Verzeihung . . . jetzt darf ich wohl Herr Oberst sagen!«

»Ja . . . ich bin Regimentskommandeur . . . in Schlesien! Mal wieder ein Stück Friedensarbeit . . . langsamer Schritt . . . Schuh- und Stiefelappell . . . all die Chosen . . . na . . . wir haben uns wenigstens 'ne Zeitlang gelüftet . . . da draußen . . .« Der Riese warf einen fragenden Blick auf Vera, als erwartete er, vorgestellt zu werden, und Georg murmelte: »Herr Oberst von Schefflenz!« und Vera kannte den vielgenannten Namen des afrikanischen Truppenführers. Der lachte: »Gratuliere, gnädige Frau, daß Sie Ihren Gatten gesund neben sich haben! Er hat sich manchmal 'n bißchen doll exponiert da draußen! . . . Ich hab' ihn öfters direkt andonnern müssen im Gefecht, wenn er wieder ungedeckt dastand: ›Herrrr! . . . wollen Sie denn partout, daß Sie der Deubel holt?‹ . . . Na . . . ich freu' mich von Herzen, lieber Gisbert!« Er schlug dem Jüngeren kräftig auf die Schulter. ». . . ich hab' Ihre Laufbahn wohl verfolgt . . . geheiratet . . . schönes Kommando nach Berlin . . . Hauptmann geworden . . . nun machen Sie nur mal so weiter!«

Ein paar Damen waren während dieses Gesprächs in einiger Entfernung stehen geblieben. Sie gehörten offenbar zu dem Oberst von Schefflenz, und der schmunzelte: »Ich bin nämlich mit versammeltem Kriegsvolk zur Stelle. Familienrat . . . Besichtigung der neuen Bauterrains hier . . . gibt vielleicht 'ne nette Villa für meine alten Tage. Na . . . wie ist's? . . . Wollen wir nicht noch ein bißchen gemütlich beisammen sein? . . . Darf ich Sie nicht mit den Meinigen bekannt machen, gnädige Frau?«

Er hatte Georg Gisbert und Vera Arm in Arm kommen sehen. Es war ganz natürlich, daß er sie für ein Ehepaar hielt. Seine Frau näherte sich auch schon mit jenem behaglichen Lächeln, mit dem eine dicke, ältere Dame einer neuen Bekanntschaft entgegensieht. Vera hatte nichts geantwortet. Sie war einen Schritt zur Seite getreten. Sie wurde plötzlich etwas blaß, und Georg Gisbert sagte laut zu seinem afrikanischen Vorgesetzten: »Verzeihung, Herr Oberst! . . . Ich möchte kein Mißverständnis aufkommen lassen . . . Ich bin hier wohl mit meiner Frau, aber mit meiner früheren . . .«

Der große, breitschultrige Mann vor ihm riß die Augen auf. Er entsann sich wohl, daß der damalige Leutnant Gisbert geschieden und deswegen um seine Verwendung im Kolonialdienst eingekommen war, aber weiter verstand er auch nichts und meinte: »Ja . . . aber wie ist mir denn . . .? Sie haben mir doch selbst vor ein paar Jahren Ihre neue Vermählungsanzeige geschickt . . .«

»Jawohl!«

»Ja, hatten Sie denn da Unglück? . . . Todesfall? . . . Sind Sie denn nicht mehr verheiratet?«

»Doch!«

»Eben! Ich hörte doch neulich erst von dem Dingsda, Sie lebten mit Frau und Kindern in Berlin!«

»Ja.«

»Na . . . aber dann . . .«

Der riesige Feldsoldat warf einen ratlosen Blick erst auf Vera, dann auf ihn. Die Sache war ihm zu hoch. Sie war ihm vor allem unheimlich. Irgend etwas stimmte da nicht. Das sah er namentlich auch an den beiden Gesichtern vor ihm. Er wurde plötzlich sehr kühl und mißtrauisch und trat einen halben Schritt zurück. So reichte er Georg Gisbert die Fingerspitzen.

»So? . . . Na . . . hat mich sehr gefreut, Herr Hauptmann! . . . Lassen Sie es sich gut gehen!«

Er machte Vera eine steife und förmliche Verbeugung und gesellte sich wieder zu den Seinen. Die beiden sahen, wie er denen kopfschüttelnd etwas zuraunte, dann setzten sie in einer gedrückten und beklommenen Stimmung ihren Weg fort.

Sie gaben sich jetzt nicht mehr den Arm. Eine Zeitlang gingen sie längs der niederen Kätnerhäuser auf der Chaussee nach Zehlendorf hin, ohne daß ein Wort zwischen ihnen fiel. Jeder hing seinen Gedanken nach. Die waren unbehaglich. Eine Art Erwachen. Ein Stück Wirklichkeit. Diese Begegnung hatte sie aus dem Traumleben aufgeschreckt, das sie miteinander, Hand in Hand führten. Es waren ja schon oft solche Mene Tekel dagewesen, aber gerade dieses heute empfanden sie schonungslos deutlich – besonders Georg Gisbert. Der Oberst von Schefflenz war einer seiner wenigen Vorgesetzten, die er wirklich verehrt und bewundert hatte. Er wußte auch, daß jener ihm besonders wohl wollte. Die Auszeichnung seines Kommandos nach Berlin, in das Reichskolonialamt, hatte er in erster Linie dessen Fürsprache zu verdanken. Und wieder sah er vor sich, wie vorhin langsam ein Schatten über das Gesicht des anderen lief, wie eine unbestimmte Abwehr sich darauf malte, so ein: ›Ach nee – mit schmuddeligen Geschichten bleiben Sie mir vom Leibe!‹ . . . und der Stachel stak in seinem Herzen.

Schließlich brach er das Schweigen und sagte mehr zu sich als zu Vera: ». . . und wenn man sich in seine Lage versetzt, kann man es ihm nicht einmal übelnehmen . . .«

Sie meinte nur: »Das kann uns noch oft passieren!«

Es klang ruhig, fast verächtlich. Aber ihnen beiden war doch nicht wohl zumute. Sie waren aus ihren Himmeln gerissen. Die Erde hatte sie, wieder, mit ihren Zweifeln und ihrem Zwang. Einmal mußten einem ja die Augen aufgehen, wenn man sie auch noch so gewaltsam gegen die Tatsachen schloß. Falls nicht heute, dann morgen. Georg Gisbert sagte sich das wohl. Aber er empfand es so bitter, beinahe wie eine Beschämung, daß ihn gerade dieser rauhe Degen, für den er bisher im Felde, vor dem Feind, Mann neben Mann gewesen war, jetzt so steuerlos gesehen hatte – zwischen zwei Frauen – hilflos wie ein treibendes Wrack . . .

»Der erzählt es natürlich auch wieder überall herum!« sagte er nach einer Weile. Sie zuckte die Achseln.

»Es wissen's doch schon genug! Darein müssen wir uns auch finden!«

Jawohl – den Kopf in den Sand stecken, das half nichts mehr. Den Blick am Boden gingen sie weiter, in einem leichten Frösteln. Die Straße nach Zehlendorf dehnte sich einförmig zwischen Sandböschungen und Kieferwäldern. Es dunkelte schon stark. Er meinte: »Wir hätten den Weg umgekehrt gehen sollen!«

Sie seufzte und sagte: »Wir hätten wahrscheinlich überhaupt vieles umgekehrt machen sollen im Leben!«

Plötzlich überwog in ihm der Ärger über diese jähe Mutlosigkeit alles andere. Er richtete sich auf und versetzte: »Gib mir mal vor allem deinen Arm! So! . . . Ob sich da Hinz und Kunz darüber aufregt, das geht nun schon in einem!«

Als er sie wieder dicht neben sich, an ihn geschmiegt, fühlte und sie, sofort elastischer, in gleichem Schritt und Tritt dahinwanderten, fuhr er fort: »Vor allem müssen wir Mut haben, Vera!«

Sie lachte nur: »Ich hab' für drei!«

»Und dann müssen wir uns sagen: So geht das nicht weiter!«

»Nein. So geht das auch nicht weiter!«

Sie waren stehen geblieben und nickten sich zu. Im Fortmarschieren versetzte er erregt: »Weißt du, es ist ja wunderschön, wenn man so hinduselt, wie wir es jetzt tun . . . ich wollt', ich könnte mein ganzes Leben nichts anderes, als so mit dir sein – womöglich auf irgend einer wüsten Insel, wo einen kein Kuckuck stört . . . aber vorläufig müssen wir uns unserer Haut wehren . . .! Ich muß dir mal was sagen, Vera . . . aber erschrecke nicht! . . .«

»Ich erschrecke über nichts mehr!«

»Ich krieg' in den nächsten Tagen meine Versetzung, Gott weiß wohin!«

»Das dacht' ich mir schon!«

»Und auf meinem Tisch liegt ein Brief meines Schwiegervaters! Er kündigt mir an, daß er vom nächsten Ersten ab mir meine Zulage sperrt und seine Tochter und seine Enkel zu sich in sein Haus zurückruft, wenn bis dahin keine Änderung eintritt. Also auch das bricht in wenigen Tagen zusammen!«

Es war ein kurzes Schweigen zwischen ihnen. Über Otti und die Kinder vermieden sie beide, sonst auch nur eine Silbe zu sprechen. Davor hatten sie Angst. Endlich versetzte Vera: »Jetzt will ich dir auch was erzählen! Gestern hat mich Frau von Pfennigreuter ins Gebet genommen. Sie sei ja froh, daß ich bei ihr abgestiegen sei und sie hätte mich auch die ersten vier Wochen nach dem Tod meines Kindes nicht unter fremde Menschen schicken wollen – aber nun müsse sie es mir doch einmal sagen: Die Pension käme durch mich in ein schiefes Licht! Es würde schon überall in der Nachbarschaft davon geredet! Das schade ihr! Und kurz und gut: Ob ich nicht wo andershin wolle?«

»Das kannst du doch!«

»Anderswo ist es doch dasselbe – nach acht Tagen! . . . Gott weiß, wo man da schließlich endet! Zu solch einem Herumzigeunern hab' ich keine Lust!«

»Und dann das Geld!« sagte sie noch. »Das Geld! Ich hab' ja noch die paar tausend Mark für meinen Schmuck . . . aber ich weiß nicht . . . es schmilzt zusammen wie Butter an der Sonne. Ich bin doch jetzt so sparsam! Aber das Geld und ich – wir sind einander nun mal gram . . .«

»Kurzum, Weltuntergang, wohin man sieht!« sagte er und ließ den Blick im Umkreis über die weiten, nachtdunklen Felder der Mark schweifen, auf die sie jetzt aus dem Walde hinaustraten. Vor ihnen, in der Ferne, glänzten schon die Lichter von Zehlendorf. »Da gibt es nur eines, Vera: einen befreienden Entschluß!«

»Ich bin frei!«

Freilich. Er verstand sie wohl. Sie hatte ihr Verlöbnis aufgelöst, sie hatte ihren Vater verlassen, sie hatte ihr Kind begraben – nun war es an ihm, seine Fesseln zu sprengen. Sie fügte hinzu: »Tu du, was du willst! Ich bin zu allem bereit!«

In dem Schweigen darauf, in dem der Nachtwind ihnen in das Gesicht blies und ihre raschen, gleichförmigen Tritte durch die Stille widerhallten, summte sie, wie aus einer halb unbewußten Erinnerung heraus eine Melodie:

»Ich will dir folgen durch Länder und Meer,
Eisen und Kerker und feindliches Heer!«

Durch Länder und Meer! Er hob jäh das Haupt und sagte: »Siehst du, das ist das Glück, Vera, daß ich kein bloßer Kommißknopf und Stubenhocker gewesen bin! Wenn du solche Kameraden von mir in die weite Welt hinauswirfst, dann schwimmen sie wie die bleiernen Enten! . . . Im Handumdrehen sind sie auf dem Grund! Aber ich war draußen! Ich kenne drei Weltteile. Ich weiß, wo und wie sich ein tüchtiger Kerl durchs Leben schlagen kann!«

Er redete sich in Erregung hinein, während sie ihm gläubig zuhörte: »Herrgott ja . . . man hat doch seinen Kopf und seine Fäuste – und vor allem Courage! . . . Da können einem hier die verehrten Leute sämtlich gewogen bleiben! Wenn es nach denen geht, freilich: da heißt es immer nur: ›Duck dich und sei still!‹ Die sind immer großartig, auf Kosten anderer! Aber jetzt leben wir nur noch für uns!«

Sie nickte, fanatisch wie er, und er wiederholte zornig: »Nur für uns! . . . Ich bin jetzt in einer Verfassung . . . ich erkenne kein Hindernis mehr an . . . ich setze mich über alles hinweg . . . ich will nur dich . . . ich möchte doch sehen, wenn man etwas so wahnsinnig entschlossen will, wie ich, ob es einem dann nicht gelingt.«

Nach einem kurzen Schweigen setzte er zwischen den Zähnen hinzu: »Ich mache mich frei! . . . Koste es, was es wolle! Da verlasse dich darauf!«

Sie waren stehen geblieben. Sie umarmten sich auf der offenen Landstraße, leidenschaftlich und lang. So blieben sie eng aneinandergepreßt, schweratmend, ohne daß ein Wort zwischen ihnen fiel. Sie hörten in der Stille ihr Herz klopfen, und es war ihnen in der tiefen Dunkelheit und Menschenleere umher, als seien sie ganz allein auf der Welt – abgetrennt von allem anderen, in freiem Raum. Es war ein Gefühl von Körperlosigkeit, von Schweben. Endlich fanden sie sich wieder auf der Erde und begannen, während sie weitergingen, hastig und halblaut von ihrer Zukunft zu plaudern, und er sagte, erregt auflachend: »Zunächst gibt es natürlich den allgemeinen Kladderadatsch! Da heißt es eben: die Augen zu und durch! . . . Aber dann . . .«

Beide schlossen wirklich eine Sekunde unwillkürlich die Augen. Es war da etwas – an das dachten sie lieber nicht – dies Haus in der Meinekestraße – was ihn da hielt und nicht von heute auf morgen losließ. Er übersprang das in seinen fieberigen Gedanken.

»Aber dann, wenn ich ganz frei bin . . . dann steht uns die Welt offen. Wir könnten zuerst nach London gehen. Da ist auch eine Ehe rasch geschlossen. Und von da . . . Gott . . . die Erde ist ja so groß und so schön! Du kennst ja noch so wenig von ihr!«

Sie konnte nur zuhören und bejahen. Sie wußte ja freilich nichts von da draußen. Was war denn ihr Leben gewesen? Die stillen Mädchenjahre auf dem Lande, die Ehe in der kleinen Garnison und wieder die lange Art von Witwenzeit in Neetzow. Er berauschte sie und sich mit all den tausend Möglichkeiten, die sich einem boten, wenn man nur erst einmal hier heraus war.

»Die Gesellschaft hier macht einen so mattherzig,« sagte er. »Ich pfeif' jetzt auf das alles! Begreiflich machen werden wir den Menschen doch nie, was wir tun und warum wir's tun – also mögen sie uns in Gottes Namen verdammen!«

Er begann ihr von seinen Kriegsfahrten draußen zu erzählen. Wie er da und dort Leute gefunden, die fabelhaft rasch zu Reichtum gekommen waren. Zu beneiden waren sie, diese Kerle – wenn man auch ihr früheres Leben nicht gerade unter die Lupe zu nehmen brauchte. Was andere konnten, das konnte er auch! Warum sollte es gerade ihm nicht glücken! Und vor allem, wie es auch in Zukunft war: sie hatten sich! Diese Vorstellung machte sie so überglücklich. Die verdrängte alles andere. Sie gerieten in eine übermütige, kraftgeschwellte Stimmung. Sie vergaßen ihr totes Kind und lachten. Sie waren wie trunken. In ihrem Jubel war eine gelassene Grausamkeit gegen die, die zurückblieben – die am Boden blieben. Sie konnten denen nicht helfen. Sie breiteten die Flügel aus und flogen davon . . . bald . . . bald . . . in den nächsten Tagen drohte ja schon der Zusammenbruch – und dabei stand ihnen einen Moment das Herz still – das alles war so unheimlich nahe – man sah schon das Weiße im Auge des Schicksals – aber gleichviel – sie umschlangen sich noch einmal inbrünstig an der stillen Straßenecke, die zu der Pension Pfennigreuter führte – sie sahen sich in die Augen, in einem festen Gelöbnis, und er sagte: »Umbringen kann uns niemand! Unser Glück uns rauben kann niemand, Vera! Und alles andere ist Plunder!« – da tönten Schritte auf dem Pflaster – es kam jemand – er machte sich hastig von Vera los, gab ihr noch einen Abschiedskuß und ging die Straße hinab, dem Bahnhof zu.



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