Rudolph Stratz
Für Dich
Rudolph Stratz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XI.

Es wurde an diesem Tage im Hause des Hauptmanns Georg Gisbert etwas später als sonst zu Mittag gegessen, wie häufig, wenn ihn der Dienst über die Zeit hinaus im Reichskolonialamt festhielt. Als dabei die Wanduhr über dem Büfett drei schlug, sagte er sich plötzlich, in einer tiefen, seltsamen Ruhe: ›So. Jetzt ist meine erste Frau gestorben.‹

Er wußte, daß um diese Stunde Veras Trauung in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche – ganz nahe von hier – stattfinden sollte. Er wunderte sich sogar, daß man nicht durch die offenen Fenster das tiefe, feierliche Brummen der Glocken vernahm. Das kam wohl daher, daß der Wind vom Grunewald her wehte. Und er hielt in seiner Einbildung daran fest: ›Nun ist Vera von Vogt für mich abgeschieden! . . . Mag der Freiherr von Ulerici eine Frau haben – meine einstige Frau ist nicht mehr . . . sie ist ausgelöscht aus meinem Dasein und nur die Erinnerung geblieben – viel Glück – mehr Leid – und nun das Nichts . . .‹

Das hatte er sich so zurechtgedacht, sich mit Gewalt in diese Vorstellung hineingelebt, um endlich, endlich vor Vera Ruhe zu finden. Er wunderte sich selber, welchen Frieden ihm das brachte. Er fing an, im Laufe der nächsten Tage sich daran zu gewöhnen. Er fühlte, wie eine Hoffnungslosigkeit von ihm Besitz ergriff, die etwas Milderndes und Tröstendes hatte. Nun kam die Stille nach dem Sturm. Er genoß diese Schwermut – dies Träumen – dies schmerzliche Lächeln – eine trübe, letzte Dankbarkeit gegen sie, die es ihm auch nicht unnütz schwer gemacht, sondern ihn im Gegenteil immer und immer wieder zu seiner Pflicht zurückverwiesen, und ein wenig Stolz über sich, der schließlich den Kopf oben und den Nacken steif gehalten hatte . . .

So nahm er drei Tage später, als er und Otti zusammen am Frühstückstisch saßen, den Kopf seiner Frau zwischen beide Hände, sah ihr ernst in die dunkeln Augen und küßte sie auf die Stirne. Es war, als wolle er seine letzten Gedanken sühnen durch diesen Kuß, und sie, die in der Morgenzeitung und Briefen blätterte und nun, seit alles mit Vera zu Ende schien, ganz ihre rosige Laune wiedergefunden hatte, blickte heiter auf und lachte: »Männe . . . was hast du denn?«

Er schaute sie immer noch an und sagte nur langsam: »Du . . . du . . .« und dabei dachte er sich: ›Das ist die Mutter meiner Kinder. Das ist der Mensch, der mich liebt . . .‹

Die kleine Frau schmierte ihm inzwischen unbekümmert ein Butterbrötchen, und er setzte sich wieder und frug im leichten Alltagston: »Briefe?«

Jawohl – es waren welche da! Einer von der Mama aus Schlesien. Der kleinen Karla ging es soweit ganz gut. Sie hatte nur immer wieder Heimweh nach Berlin. Bei der Tante Otti sei es doch viel schöner! – Dann ein zweites Schreiben von Ottis Vater, dem Weingroßhändler. In dem stand nicht viel Neues. Hauptsächlich nur eine vertrauliche Anfrage, ob die Tochter auch wirklich in dem teuren Berlin mit dem Gelde auskäme – sonst ungeniert: – der rotversiegelte Monatsbrief aus Worms könne ruhig auch ein bißchen dicker gemacht werden, und Georg Gisbert lachte und sagte,: »Dein Papa ist klassisch! Er meint immer, wir verhungern! So einen Schwiegervater kann man sich wahrhaftig mit der Laterne suchen! Was hast du denn da noch?«

»Eine Postkarte von Albert.«

Georg Gisberts jüngster Bruder, der Kriegsakademiker, war vor einer Woche bei einem Spazierritt gestürzt und hatte sich das Bein gequetscht. Er mußte noch das Zimmer hüten. Auf der Karte standen nur ein paar Zeilen:

»Lieber Georg! Komm doch, wenn Du heute irgend kannst, einmal bei mir heran! Ich habe Dir etwas sehr Wichtiges zu erzählen! Gruß! Albert.«

»Was das Kerlchen nun wohl wieder für wichtig hält!« sagte der Hauptmann gutmütig und zerriß das Blatt. Er hegte gegenüber dem jungen Infanterieleutnant, den er sehr gern hatte und der ihm in vielem so ähnlich war, das dreifache Gefühl der Überlegenheit als Vorgesetzter, als älterer Bruder und als verheirateter Mann. Frau Otti meinte: »Das arm' Bürschle mopst sich halt! Gelt, Georgche, du schaust heut nach ihm! Grüß ihn von mir, und wenn er brav stilliegen tät', kriegt' er bald wieder von mir Quittenmarmelade!«

»Ich kann ja heute nach dem Dienst mal hin!« sagte ihr Mann.

Es war gegen ein Uhr mittags, als er in die möblierte Stube in der Luisenstraße trat, die der Leutnant Gisbert vom preußischen Infanterieregiment Nr. 300 bewohnte. Der junge Mensch, der brünett und dunkeläugig war wie sein Bruder, lag angekleidet, nur den verletzten Fuß weiß bandagiert, mit aufgestütztem Ellbogen auf dem Kanapee. Um ihn war alles voll von Karten und kriegswissenschaftlichen Werken. Er benützte die unfreiwillige Muße, um einmal gründlich den ersten Teil von Napoleons Donaufeldzug von 1805 und die Kapitulation von Ulm zu studieren, und sagte, den Kopf noch ganz heiß von Märschen und Gefechten, gleich nach der ersten Begrüßung: »Du – der Murat hat sich da doch am linken Donauufer höllisch verhauen! Wenn dieses neunmal vernagelte Mordsvieh, der General Mack, ein bißchen die Augen aufgesperrt hätte, dann könnt' er noch am letzten Tag bequem aus der Mausefalle 'raus! . . . Na – wie geht's dir denn, Georg?«

»Danke! Und dir?«

»Gott . . . draußen scheint die Sonne und die Spatzen piepen und man liegt hier krumm! . . . Wie ich das im Hörsaal nachholen werde . . . na . . . du, Georg . . . nu hör mal zu . . . nu kommt was ganz Verrücktes . . .«

Sein Bruder setzte sich, und der Leutnant fuhr fort: »Bei mir im Hörsaal ist doch einer von den 30. Ulanen, wo auch die beiden Vogts stehen. Der war nun neulich auch zu der Hochzeit – du weißt schon – geladen – und weißt du, was er da erzählt . . .? Heut hat mir's ein Kamerad mitgebracht!«

»Das ist mir ganz gleich!« sagte der Hauptmann Gisbert, indem er brüsk aufstand und den Stuhl zurückstieß. Da fingen die Geschichten schon wieder an! Er wollte nichts mehr davon hören. »Wenn du mich deswegen hierhersprengst! . . . Damit laß mich zufrieden! Die Hochzeit hat stattgefunden und damit ist . . .«

»Nein – sie hat eben nicht stattgefunden!« sprach der Leutnant auf dem Sofa. »Denk dir nur um Gottes willen, Georg: eine halbe Stunde vorher alles abgesagt! . . . Die Forellen schon im Kessel – die Tafel gedeckt – die Damen frisiert und angezogen – alles fix und fertig – und nun auf einmal . . . der Ulan sagt, sie wären im Kaiserhof durcheinandergelaufen wie die gescheuchten Hühner! . . . Eigentlich wär' es komisch gewesen! Und der alte Vogt, dein seliger Schwiegervater, hätte geflucht . . . geflucht, daß sich die Balken bogen! Endlich hätt' ihn der Pastor vorn an der Frackklappe genommen und gefragt: ›Herr – sind Sie ein Christ oder ein Heide?‹ . . . na . . . aber . . .«

»Aber wie ist denn das möglich?«

»Sie wollte auf einmal nicht mehr –nicht ums Totschlagen nicht! . . . Weiter weiß kein Mensch was!«

»Ja – und der Ulerici . . .?«

Der Leutnant lachte.

»Die Damen behaupten: Wie der alte Knabe sich ein bißchen von dem Schrecken erholt hatte – so etwa nach einer Stunde – da hätt' er im vertrauten Kreise auf einmal aus Herzensgrund ›Uff!‹ gesagt! Dem war schon lange unheimlich bei der Geschichte zu Mut! Ich glaube, der ist ganz froh, daß er mit guter Manier 'raus ist . . .«

»Ja – und wann soll denn nun die Hochzeit sein?«

Sein Bruder sah ihn verdutzt an.

»Bist du aber komisch!« meinte er dann. »Hochzeit? . . . Ich erzähl' dir doch eben: Es ist alles in die Brüche – unwiderruflich! Der Ulerici ist schon abgereist. Nach dem Süden. Er will sich erholen, nach all den Aufregungen! Hat ganz recht! Hier lachen sie ihn ja doch nur aus!«

Dabei gewann in dem Leutnant selber die Heiterkeit wieder die Oberhand.

»Weißt du, wen er sich zum Trost mitgenommen hat, damit er nicht ganz allein ist? Seine Schwester, das alte Stiftsfräulein! . . . Das ist 'ne Idee von Schiller: mit der macht er seine Hochzeitsreise, statt mit seiner Frau! . . . Furchtbar komischer Knopf . . . aber er kann einem doch leid tun – nicht?«

Georg Gisbert hatte sich etwas beruhigt. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirne und sagte: »Hör mal, Albert! . . . Du mußt noch 'n ganzes Ende dazulernen . . . da haben sie dir einen Bären aufgebunden, und du dummer Junge glaubst auch richtig daran, mit deinen fünfundzwanzig Jahren!«

Der Leutnant drehte sich mühsam auf seinem Lager zur Seite und suchte etwas zwischen den Plänen der Gefechte von Elchingen.

»Wo hab' ich's nur?« murmelte er. »Au! . . . Donnerwetter . . . das verfluchte Bein . . . so . . . da . . . da lies . . .«

Er zeigte ihm eine Zeitungsnummer. Die enthielt eine Rubrik: »Hof und Gesellschaft«. Da stand es schwarz auf weiß, daß die in letzter Stunde unterbliebene Trauung des Freiherrn von Ulerici das Tagesgespräch in den beteiligten Kreisen bilde. Der Hauptmann Gisbert ließ das Blatt sinken und frug mit trockener Kehle: »Und wo ist sie jetzt . . . meine frühere Frau?«

»Das weiß ich nicht! Ich hab' meine Nachrichten doch nur aus dem Ulericischen Lager!«

Georg Gisberts Bruder kannte seine ehemalige Schwägerin wenig. Zur Zeit dieser Ehe war er Primaner und Selektaner im Lichtelfelder Kadettenkorps gewesen und hatte nur zwei- oder dreimal im Hause der alten Exzellenz Vera gesehen. So ging ihm die Sache jetzt nicht so sehr nahe, wie es schien, und Georg Gisbert saß vor ihm und wunderte sich selber, wie ruhig auch er äußerlich blieb. Er war imstande, gelassen dem Leutnant zuzuhören, der ihm noch erzählte, der dicke Ulerici habe, vom Pech verfolgt, auch noch eine Förderung eines Vetters, eines verbummelten Kammerherrn, auf dem Halse gehabt, den Kerl aber durch genügend Pinke-Pinke – er machte dabei eine Bewegung mit der hohlen Hand – friedlich gestimmt, um nur von Berlin wegzukommen – und als der Bruder damit geendet, war es Georg Gisbert sogar möglich, das Gespräch noch auf ein paar gleichgültige Dinge zu bringen – noch einmal Napoleons Donaufeldzug, Ottis Marmelade, der verfluchte Schinder von Gaul, mit dem dem Leutnant neulich das Malheur passiert war – bis der Hauptmann aufstand, ihm sagte: »Ich danke dir schön für deine Mitteilungen! Gute Besserung!« und mit einem Händedruck hinausging.

Aber draußen auf der Straße, im Gerassel der Wagen, im Gewimmel gleichgültiger Leute, packte es ihn mit voller Macht. Er schritt wie im Traum seines Weges, die Karlstraße hinunter, am Lessingtheater vorbei dem Tiergarten zu. Er glaubte immer noch nicht an das, was er gehört. Er konnte es sich nicht im Kopf zurechtlegen. Denn in dem war doch schon eine ganz andere Ordnung der Dinge – alles an seine Stelle gerückt, alles mit ängstlicher Gewissenhaftigkeit aufgeräumt, um jede Spur des Früheren zu verwischen, und nun stürzte das wieder jäh in sich zusammen – die alte Not war da.

Er war so aufgeregt, daß er seine Hand krampfhaft zittern fühlte, die er mechanisch beim Begegnen von Offizieren zum Gruß an den Mützenrand hob, er hatte Mühe, wenigstens seine Gesichtszüge einigermaßen in der Gewalt zu behalten, immer wieder bäumte sich in ihm der Gedanke auf: ›Was ist nur in sie gefahren? . . . Warum hat sie das getan?‹ – und er ging rascher, mit angstvollen Augen, als könnte er so der Antwort auf diese Frage entfliehen . . .

Ohne darauf zu achten, hatte er den Tiergarten schräg durchquert und die Friedrich-Wilhelm-Straße hinter sich gelassen. Das war der nächste Weg nach seiner Wohnung. Aber da war der Lützowplatz. An einem der vordersten Häuser blinkte neben dem Eingang ein weißes Schild. Er wußte genau, was darauf stand, aber er trat, von einem inneren Zwang getrieben, näher, um es noch einmal zu lesen: »Frau von Borchersheide, Pensionat ersten Ranges für In- und Ausländer, drei Treppen.« Er war nie da oben gewesen. Aber wer da oben wohnte, das war ihm wohlbekannt. Ganz plötzlich kam ihm der Einfall, hinaufzugehen und Vera einfach zu fragen, was denn eigentlich geschehen sei!

Über diesen wahnsinnigen Gedanken erschrak er so, daß er sich umwandte und mit großen Schritten davoneilte. An dem Brunnen inmitten des Platzes blieb er stehen. Er sagte sich: ›Das ist ja Unsinn, was du da vorhast!‹ Aber er fühlte zugleich: ›Du hast ja doch keine ruhige Stunde und Minute mehr, bis du nicht weißt, wem diese Absage am Traualtar gegolten hat!‹ – und er schritt wieder zögernd auf das Haus zu, wich zur Seite, nahm sich vor, nun einfach rasch am Kanal hinunter bis zum Kurfürstendamm zu gehen, ohne noch einmal den Kopf zu drehen, und blieb doch stehen und starrte geistesabwesend auf das schmutzige Wasser, die Orangenschalen und Holzstücke, die da langsam, unendlich langsam vorbeitrieben, und war auf einmal wieder an der Türe mit dem Schild und sein Herz hämmerte, seine Nerven bebten, irgend etwas in ihm befahl ihm: ›Du mußt! Du mußt!‹ und er klingelte und eilte so hastig die drei Treppen hinauf, daß er ganz atemlos oben ankam.

Der Eingang zu der Pension war offen. Ein paar Männer von der Paketfahrt waren eben beschäftigt, große Koffer wegzubringen. Auf jedem von diesen war eine kleine Krone und ein V. v. V. Er erkannte Veras Initialen und frug ohne Einleitung eine ältere Dame, die beaufsichtigend daneben stand: »Reist Frau von Vogt denn ab?«

Die Dame sah ihn sehr reserviert an und sagte nur: »Ja.«

»Wohin?«

»Zu ihrem Vater, auf das Gut Neetzow.«

»Kann ich sie sprechen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Frau von Vogt ist für niemanden zu sprechen!«

Er stieß zornig seinen Säbel auf den Boden.

»Ach was, für mich schon!« versetzte er barsch. »Bitte – hier ist meine Karte!«

Die Dame ihm gegenüber nahm sie nicht, warf auch keinen Blick darauf, sondern sagte kühl: »Ich bin Frau Major a. D. von Borchersheide, Herr Hauptmann! – die Inhaberin der Pension. Ich halte mich strikt an Frau von Vogts Wünsche. Es waren in den letzten Tagen eine Masse Leute da. Sie hat niemanden empfangen. Sie will unbedingte Ruhe!«

Georg Gisbert nahm, als ihm klar war, daß er einer Dame der Gesellschaft gegenüberstand, unwillkürlich eine andere Haltung an.

»Verzeihen Sie, gnädige Frau!« versetzte er höflich. »Aber ich glaube – ich mache eine Ausnahme! . . . Ich weiß nicht . . . ob Sie über die Lage der Dinge orientiert sind . . .«

»Ziemlich genau, Herr Hauptmann!«

»Nun gut: ich bin der Hauptmann Gisbert – meine Beziehung zu Frau von Vogt ist Ihnen also vielleicht bekannt . . .«

Die andere trat überrascht zurück und musterte ihn mit einem Blick unbewußter Neugier.

»Sie werden es mir ja nicht glauben!« sagte sie dann. »Aber Frau von Vogt ist wirklich nicht zu Hause. Sie ist zu einem Juwelier gefahren. Und selbst wenn sie daheim wäre – ich dürfte Sie doch nicht vorlassen!«

»Nun – dann werde ich hier im Flur auf sie warten!« Georg Gisbert fiel es ein, daß das ja so viel besser sei. Vera hätte ihn ja doch vielleicht auf seine Anmeldung hin abgewiesen. Nun entging sie ihm nicht. Indem er sich neben die Tür stellte, versetzte er: »Nein, gnädige Frau – Sie vertreiben mich von hier nicht! Die Sache ist mir zu wichtig . . .«

Dabei fühlte er doch in sich ein Zittern – eine Reue: Was tust du denn hier, wo aus allen Türspalten neugierige Gesichter auf dich lugen? Wo diese magere Majorin unschlüssig vor dir steht und dich am liebsten eigenhändig an die Luft setzen möchte? Ist das eine Lage, die deiner würdig ist?' – Aber er war willenlos. Er blieb, wo er war, und ehe Frau von Borchersheide sich ihrerseits entschlossen hatte, was sie tun solle, klangen auf der Treppe rasche Schritte – er hob den Kopf – er kannte diesen straffen, leicht wiegenden Gang – Vera kam die Stufen hinauf.

Sie sah ganz aus wie sonst, um keine Spur bleicher. Sie trug den Kopf hochmütig im Nacken. Sie bemerkte Georg Gisbert erst, als er bei ihrem Eintritt dicht vor ihr stand, und machte halt und warf, ohne seinen Gruß zu beachten, einen Blick auf Frau von Borchersheide, der deutlich hieß: ›Warum hast du ihn hereingelassen?‹ Die zuckte die Schultern und zog sich stumm zurück.

Er war gereizt und gedemütigt durch diesen Empfang. Er hatte sich Vera auch ganz anders vorgestellt. Nun sagte er schroff und aufgeregt: »Ich muß Sie sprechen!«

Sie schaute ihn an. Dann meinte sie: »Ich verstehe nicht . . . Sie haben mir doch neulich gerade das Gegenteil geschrieben . . . wir sollten uns nicht mehr sprechen . . .«

Es klang wie ein kaum merklicher Spott in ihren Worten. Sie hatte ihm damals auf dem Spaziergang ihr Innerstes gebeichtet. Tags drauf war jener Brief gekommen. Die Wunde blutete in ihr.

Er runzelte die Stirne und versetzte, indem er alle Kraft zusammennahm, um ruhig zu erscheinen: »Damals waren Sie nicht frei – im Gegenteil – Sie standen im Begriff, sich für immer zu binden . . . da hielt ich es für meine Pflicht . . . aber nun höre ich zu meinem Erstaunen, daß Sie doch noch frei sind . . . und es vorläufig bleiben . . .«

Er sprach gedämpft. In solch einem Pensionat hatten die Wände Ohren. Ebenso halblaut erwiderte sie: »Nun – und was ist mit Karla?«

Er blickte sie verständnislos an. Sie fuhr fort: »Ich nehme natürlich an, daß Sie gekommen sind, um mir etwas wegen des Kindes zu sagen. Andere Dinge haben wir nicht miteinander zu besprechen. Darin sind wir doch beide einig . . .«

Die Türe ihnen schräg gegenüber öffnete sich leise, wie zufällig. Einen Moment sah man ein weibliches Gesicht – zwei Augen, die neugierig das Paar musterten – dann schnappte die Klinke wieder in das Schloß, und Vera sagte nervös zusammenzuckend: »Wenn ich doch schon in Neetzow wäre! . . . Es ist gräßlich, wie sie mich ausspionieren – in diesen Tagen . . .«

»Ja eben . . . hier stehen bleiben können wir doch nicht! Und weggehen tue ich nicht, Vera – da seien Sie sicher . . .«

Sie überlegte. Dann öffnete sie die Türe zu ihrem Wohnzimmer, trat ein und sagte, indem sie ihm überließ, ihr zu folgen: »Also in Gottes Namen! Es geht nun schon alles in einem hin!«

Er hatte die Schwelle überschritten und schloß die Türe hinter sich. Sie bot ihm keinen Stuhl an. Stumm blieb er am Eingang stehen und sah ihr zu, wie sie die Nadel aus dem Haar nahm, den Hut absetzte und sich glättend vor dem Spiegel mit der Hand über das blonde Haupt fuhr. In ihren Bewegungen war Leben und Jugend. Sie war ungebrochen – eher elastischer als bisher.

Sie kramte noch einen Augenblick an einem Tischchen, schloß sorgfältig eine kleine, graue Ledertasche, die sie in der Hand mitgebracht, in eine Schublade – dann drehte sie sich plötzlich zu ihm herum. Eine ganz leise Röte war auf ihren Wangen.

»Nun?« sagte sie und schlug die Fingerspitzen ineinander. »Ihre Nachricht muß doch sehr wichtig sein, da Sie sie durchaus persönlich überbringen wollen, statt sie dem Papier anzuvertrauen, was an sich zwischen uns gewiß besser wäre! Also bitte!«

»Ich komme nicht mit einer Nachricht, sondern mit einer Frage.«

»An mich?«

»Ja. Warum haben Sie Ihre Verlobung gelöst?«

Da sie betroffen den Kopf hob, machte er ein paar Schritte in das Zimmer hinein und setzte hinzu: »Vera – wir wollen doch einander keine Komödie vorspielen! Vom ersten Augenblick ab, wo Sie mich sahen, haben Sie genau gewußt, daß ich Sie das fragen würde . . .«

»Und mit welchem Recht?«

Sie legte die Arme auf den Rücken und sah ihn fest an. Beide standen einander wie Feinde gegenüber und blieben eine Sekunde stumm. Dann hub sie wieder an: »Ich möchte wirklich wissen, inwiefern ich Ihnen eine Erklärung über irgend etwas schuldig bin, was ich tu' oder lasse!«

»Nur insoweit, als es mich betrifft . . .«

»Sie? . . . Wenn ich Herrn von Ulerici? . . . ich verstehe Sie nicht . . .«

»Sie verstehen mich wohl, Vera!« Er trat noch näher zu ihr heran und dämpfte seine Summe, um nicht nebenan gehört zu werden. »Die Nachricht hat mich so erschüttert, weil ich das Gefühl nicht loswerden kann: Ihre Entlobung hängt damit zusammen, daß das Schicksal uns beide wieder zusammengeführt hat! . . . Darüber mach' ich mir Vorwürfe. Sie waren doch im Begriff, sich ein neues Leben einzurichten, nachdem unser erstes . . . Sagen Sie mir nur das eine: ›meine Entlobung hat nichts mit unserem Zusammentreffen zu tun – das sind andere Dinge‹ – so frage ich kein Wort mehr und geh'!«

Vera schwieg.

Er war so erregt geworden, daß er kaum mehr zusammenhängend hatte sprechen können. Jetzt atmete er schwer auf. Das Zimmer um ihn war in der vollen Unordnung der bevorstehenden Abreise. Halbfertiges Handgepäck lag und stand regellos herum, und der Gedanke, daß sie in wenigen Stunden fern von ihm sein, ihr Geheimnis mit sich nehmen würde, brachte ihn in eine leidenschaftliche Ungeduld. Angstvoll stieß er hervor: »Vera . . .«

Sie machte sich scheinbar mechanisch an einem Handtäschchen zu schaffen und drückte das Schloß zu. Dabei vermied sie seinen Blick.

»Warum haben Sie es getan?«

Sie zuckte nur die Achseln. Er drängte: »Vera . . . Sie mußten sich doch klargemacht haben, was Sie da preisgeben!«

Nun sah sie ihn an und sagte ruhig: »Wieso denn? Ich geh' einfach wieder aufs Gut und lebe, wie ich die letzten sechs Jahre auch gelebt hab'! Dort ist's ganz schön – oder wenigstens . . .«

Er wurde zornig.

»Schön? Herrgott . . . ich kenn' doch Neetzow!«

»Wenigstens hat man doch sein eigenes Dach über dem Kopf. Denn dies elende Pensionsstübchen hier . . .« Sie machte mit der Hand eine Bewegung des Widerwillens durch das Zimmer. ». . . Sorgen Sie sich nur nicht um mich! Ich krieche einfach bei meinem Vater unter! . . . Gut . . .«

Sie wurden unterbrochen. Ein Bursche kam mit einem Paket. Sie zahlte und sagte: »Stellen Sie die Stiefelchen da in die Ecke!« und schaute dann, als der Bote sich entfernt hatte, Georg Gisbert mit einem Blick an, in dem deutlich lag: ›Nun – gehst nicht auch du?‹ – und er blieb stehen und frug hartnäckig wieder – es war bei ihm wie zu einer fixen Idee geworden, gegen die er selber nicht mehr ankonnte: »Vera – warum haben Sie's getan?«

Er sah die Gereiztheit über ihr Gesicht zucken, aber sie beherrschte sich und erwiderte gleichmütig: »Ist es denn wirklich solch ein Wunder, wenn man noch zwischen Tür' und Angel schließlich zur Vernunft kommt?«

»Daß es eine Vernunftheirat war, das wußten Sie doch von vornherein!«

»Ganz macht man sich die Folgen doch erst im letzten Augenblick klar!«

Veras Jungfer kam in das Zimmer. Es war irgend etwas in ihr Büchlein mit den Versicherungsmarken hineinzuschreiben. Ihre Herrin tat es und sagte, als jene gegangen: »Schade! Eine so brauchbare Person! Aber ich hab' sie entlassen müssen . . .«

»Warum?«

». . . Sonderbare Frage . . . sie ist mir nun zu teuer . . .«

Er fuhr auf: »Eben! Sehen Sie! . . . Sie ruinieren sich alles . . . Sie machen sich Ihr Leben ganz jämmerlich! Das kann doch nicht der reine Mutwillen sein! . . . Sie müssen doch einen Grund für solch einen Akt der Selbstvernichtung besitzen!«

Er merkte, wie ihre Augen zornig aufleuchteten. Aber er mußte Gewißheit haben und bat, die Hände ineinanderschlingend, zwischen den Zähnen: »Vera . . . geben Sie mir doch Antwort!«

Nun war es auch mit ihrer Selbstbeherrschung zu Ende. Sie warf den Kopf zurück. Sie stampfte mit dem Fuß auf: »Quälen Sie mich nicht! . . . Ich hab' es satt! . . . Ich bin wahrhaftig schon elend genug! . . . Was dringen Sie hier ein? Was belästigen Sie mich mit Fragen, die Sie nichts angehen? Wieso soll ich Ihnen auf einmal Red' und Antwort stehen, als hätten Sie noch irgend ein Recht auf mich? . . . Gar keines haben Sie! Niemand auf der Welt!«

Sie ging um ihn herum zur Türe und legte die Hand auf die Klinke, als ob sie sie öffnen wollte.

»Da!« sagte sie. »Da ist Ihr Weg. Gehen Sie zu Ihrer Frau!«

Und da er zurücktrat, verblüfft, daß dieser Name aus ihrem Munde klang, wiederholte sie: »Gehen Sie zu Ihrer Frau! . . . Es ist eine gute Frau . . . ich hab' sie gern! . . . Sie verdienen sie gar nicht . . . Sie sollten froh sein, daß Sie sie haben! . . . ja . . . schauen Sie mich nur so an . . . das ist die Wahrheit . . . ich bin nicht kleinlich . . .«

Er wußte nicht, was er ihr erwidern sollte, aber er rührte keinen Fuß. Vera stand immer noch an der Türe und versetzte ruhiger, mit dem Ton leiser Ironie wie zu Anfang: »Ihre Frau wartet mit dem Essen auf Sie! Lassen Sie die Suppe nicht kalt werden! Was stehen Sie denn noch hier herum? Was wollen Sie denn von mir?«

»Die Wahrheit!«

»Was für eine Wahrheit? Ich hab' Ihnen keine zu sagen! . . . Ich habe gar nichts in Ihrem Leben zu tun . . .«

»Aber ich vielleicht in Ihrem . . .«

Da war es heraus. Ein plötzlicher Schrecken machte die beiden verstummen. Er hub leise wieder an: »Ich habe die Angst, daß ich Ihnen, ohne es zu wollen, das alles zerstört hab'! Es ist mir furchtbar, daß ich immer wieder Ihr Schicksal sein soll! Sie haben mehr als genug an mir und durch mich gelitten!«

Sie blieb an die Türe gelehnt. Er merkte, wie sie mit sich kämpfte, um den Kopf oben zu behalten. Dann sagte sie in einer fast geringschätzigen Art: »Woher wissen Sie, daß das so ist . . .?«

»Ich weiß es ja nicht . . . ich will ja nur das Gegenteil von Ihnen hören . . .«

»Und selbst wenn es so wäre – seinem Schicksal entgeht keiner! Aber stärker als das Schicksal kann man immer sein! Ich verstehe nicht, warum Sie nicht höher von mir denken, Georg! . . . Ich bin doch schließlich ein anständiger Mensch! Es ist doch ganz gleich, aus welchem Grund ich dies oder jenes tu' oder lasse! Das soll keinen anderen beunruhigen . . . Ich sage Ihnen noch einmal: Ihre Suppe wird kalt . . .«

Er wollte sprechen, aber sie schnitt ihm ungestüm das Wort ab: »Lassen Sie's! . . . Das hat alles gar keinen Zweck! . . . Sie hatten ganz recht, als Sie neulich schrieben, daß wir uns nie mehr sehen sollten! Warum befolgen Sie denn Ihre eigenen Ratschläge so schlecht?«

». . . Weil sich alles inzwischen wieder geändert hat!«

Sie schüttelte ungeduldig den schönen Kopf.

»Ach was! Das war nur ein Zwischenakt . . . Daß ich mich verlobt und entlobt hab' – daß wir uns wiedergesehen haben – das geht vorüber . . . und Sie . . . gehen Sie zu Ihrer Frau . . .«

Nun öffnete sie ihm wirklich die Türe und sagte leise, um nicht draußen gehört zu werden: »Gehen Sie! . . . Nein . . . geben Sie mir nicht die Hand! . . . Versprechen Sie mir lieber, stark zu sein – ja?«

»Ich will es versuchen!«

»Und nun leben Sie wohl für den Rest unserer Tage!«

»Leben Sie wohl!«



 << zurück weiter >>