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Bei Gisberts waren Gäste zum Abendbrot, ein paar befreundete Offiziere mit ihren Damen. Er, der Hausherr, atmete auf, als sie zeitig gingen. Er hatte gefürchtet, es würde sich im Rauchzimmer, wo die Herren nach Tisch beisammen saßen, allmählich eine dauerhafte Bier- und Skatecke zusammenfinden und bis nach Mitternacht bleiben. Aber der zum Großen Generalstab kommandierte Oberleutnant Harold hatte statt dessen die letzte, vom Chef gestellte strategische Aufgabe in die Debatte geworfen. Er begriff das einfach nicht: wenn eine starke rote Armee nicht nur östlich der Elbe stand, sondern sogar schon, nach Meldungen der blauen Aufklärungskavallerie, den Strom oberhalb von Magdeburg überschritten hatte, ja – wie sollte dann um Gottes willen Blau noch dem Berliner Befehl gerecht werden und seinerseits angriffsweise über die Elbe gehen? Darüber stritten sich alle mit roten Köpfen, und in eine Pause ihres Wortwechsels klang vom Salon her die eifrige Stimme einer Dame: »Nein . . . ich mache sie nur mit Zucker ein!« – und endlich waren sie von der Fachsimpelei so müde, daß sie an den morgigen Dienst dachten, ihre Frauen von drüben holten und im Flur nach Mütze und Säbel griffen. Und kaum hatten sich die letzten empfohlen, rief Georg Gisbert in das Speisezimmer, wo seine Frau war: »Otti! . . . Otti! . . .«
»Gleich! Ich muß nur das Silber . . .«
»Du kannst dein Silber nachher zählen! Ich muß jetzt über etwas mit dir reden. Vor der Gesellschaft warst du zu aufgeregt dazu!«
Sie kam, mit immer noch erhitztem Gesicht, noch etwas von Wein und Lachen in den schwarzen Augen, die dunklen Löckchen unordentlich über der Stirne. Sie sah wunderhübsch aus. Ehe er noch zu Worte kommen konnte, meinte sie, in der Siegesstimmung einer jungen Hausfrau nach einem gelungenen Abend: »Du . . . 's war fein, nit? Ich mein', der Fasan hat sich sehe lasse könne! . . . Und getrunke habe sie! . . . Geh nur mal nach hinten und guck dir die leeren Bouteillen an!«
Er zuckte die Achseln. Lieber Gott ja – wenn der Schwiegerpapa Weinhändler war . . .
Frau Otti berichtete weiter: »Du – und der Weisach, der doch immer so dick tut, hat der Luise einen Taler Trinkgeld gegeben! Ich denk', ich seh' nit recht, wie ihn mir das Mädche zeigt! Das ist doch . . .«
»Jetzt laß einmal den Kram!« sagte er ungeduldig. »Unsere Gäste sind wirklich nicht so interessant! Diese Nachkritik können wir uns schenken! Setze dich einmal dahin!«
Sie nahm fügsam neben ihm Platz, strich sich mit der einen Hand eine Falte ihrer geschlossenen himbeerfarbenen Abendtoilette glatt und führte mit der anderen die brennende Zigarette zum Munde. Es sah drollig aus, wenn sie rauchte, aber sie tat es mit großem Ernst, und er versetzte: »Dieses Ehepaar Muthardt leidet an chronischer Taktlosigkeit! Damals die Geschichte, daß sie mich und Frau von Vogt zusammen einluden, und heute fragt sie, die Muthardt, mich nach Tische mit großen Augen: Ihr Töchterchen erster Ehe bleibt nun wohl ganz hier im Hause? – ich möchte wissen, was das sie angeht! . . . Otti: – schiele doch nicht immer nach deinem Silber hinein . . . es fliegt nicht weg . . .«
»Aber Zachariä trinkt die Weinreste aus!«
»Dann laß den Burschen heute schon in Gottes Namen . . . es kommt gerade bei uns doch nicht so darauf an! Hör mir jetzt zu, Otti, ich bitte dich!«
Sie seufzte und setzte sich bereit. Er fuhr fort: »Es betrifft eben Karla! . . . Ich war seinerzeit so froh, daß du sie so lieb hast gewinnen können . . . wie du so mit ihr warst, da konnte man denken, es wär' dein eigenes Kind . . . aber ich fürchte . . . ich fürchte: es hat sich da bei dir eine Änderung vollzogen! Du magst Karla nicht mehr so! Du gibst dir alle Mühe, es zu verhehlen – o, ich weiß . . . aber du siehst eben in ihr doch wieder das Stiefkind . . . es ist ja eigentlich auch ganz natürlich.«
Frau Otti sah zur Seite.
»Geh, Georgche: seit wann wär' denn das?« frug sie.
»Seit deiner Rückkehr aus Worms! . . . In der Zwischenzeit ist sie, Karlas Mutter, hier gewesen! Du hast dich so aufgeregt über die Spuren ihrer Anwesenheit! Seitdem werde ich den Eindruck nicht los, daß dir das Kind entfremdet ist . . .«
Sie schwieg. Endlich nickte sie trotzig.
Er frug: »Also hast du Karla wirklich nicht mehr lieb?«
Da schaute sie ihn an.
»Doch! Ich hab' sie lieb, weil sie dein Kind ist und weil ich alles liebhaben muß, was von dir kommt! Du weißt ja gar nicht, Georgche, wie lieb ich dich hab'!« . . .
Unwillkürlich neigte sie ihm ein wenig ihren dunklen Scheitel entgegen. Er legte den Arm um sie und küßte sie stumm auf die Lippen. Dann sagte er: »Ich weiß, Otti: du bist gut und rein! Du bist viel besser als ich! . . . Wegen dir könnte Karla hier im Hause bleiben . . . Auch wenn es dich Überwindung kostet!«
»Ja, Georgche!«
»Du würdest Mutterstelle an ihr vertreten?«
»Ganz gewiß!«
»Aber nun hat sie doch eine Mutter!«
»Ich tu' meine Pflicht an der Karla grad' so gut wie die. Besser, als die 's getan hat! Dazu gehört nicht viel! . . .«
»Wir wollen die alten Geschichten nicht aufrühren, Otti, die du doch auch nur vom Hörensagen kennst. Wie dem auch war: sie ist schwer genug gestraft. Und sie ist in sich gegangen. Sie liebt Karla jetzt leidenschaftlich!«
Frau Otti zuckte die Achseln.
»Ich bring' es nicht über das Herz, Otti, ihr den Anblick ihrer Tochter ganz zu entziehen! . . . Und sie hier zu dem Kinde zu lassen oder das Kind zu ihr – ja . . . ich zerbreche mir schon die ganze Zeit den Kopf – aber ich weiß nicht, wie ich es machen soll, ohne daß es furchtbar peinlich für uns alle wird. Außerdem heiratet Frau von Vogt doch nächstens. Ich kann mein Kind doch nicht ihrem zweiten Mann ins Haus schicken! Das widerstrebt mir nun schon ganz!«
»Mir auch!«
»Und daß sie zu uns ins Haus kommt, ist doch noch unmöglicher! – Zu was für Unzuträglichkeiten solch ein Zustand führt, haben wir doch eben erst erlebt. Und etwas Ähnliches kann sich jeden Augenblick wiederholen! Was dann? Ich kann sie nicht im Regen drunten vor dem Hause stehen lassen, wenn ihr Kind hier oben krank liegt . . .«
Frau Otti hielt den Kopf gesenkt und antwortete nicht. Er endete: »Deswegen will ich ihr die Möglichkeit geben, es an einem dritten Ort zu treffen – wie bisher – in Schlesien. Das hat sich doch ganz gut bewährt, und ich hab' mich entschlossen, Karla jetzt zu meiner Mutter zurückzuschicken! Beim Arzt hier war sie lange genug. Er sagt es selbst. So ist es für alle Teile vorläufig das beste! Dir aber danke ich, Otti, daß du sie mir ins Haus gebracht hast!«
Frau Otti lächelte nur trübe.
»Was denkst du darüber?« sagte er leise.
»Ja, wenn es sein muß, Georgche, so geb' ich die Karla auch wieder her, wenn auch mit schwerem Herzen. Ich hab' das Gefühl, das ich da immer hab' . . . ich darf mich da nicht zwischen euch drängen!«
Es klang doch wie ein Ton der Erleichterung aus ihren Worten. Nach einer Pause sagte er: »Willst du mir nun noch einen Vertrauensbeweis geben, Otti? Es ist ein großes Opfer, um das ich dich bitte! Erlaube mir, daß ich noch einmal wegen Karlas mit ihrer Mutter Rücksprache nehme. Ich will, daß das nun alles vor deren Heirat endgültig geregelt wird! Es würde die letzte Begegnung sein, die Frau von Vogt und ich je miteinander haben!«
Er wartete mit Herzklopfen auf ihre Antwort. Er sah, wie sie angstvoll mit sich rang. Sie gab sich Mühe, nicht kleinlich zu sein, gerade weil sie selber immer fühlte, daß das zwei Menschen seien, ihr Mann und jene, die ihr in vielen Dingen über den Kopf ragten, deren Empfindung sie nicht ganz verstand. Endlich war sie tapfer genug. Als er noch einmal murmelte: »Schlag es mir nicht ab! Ich kann es dir nicht so erklären! Aber glaub mir, ich werde nachher viel ruhiger sein als jetzt!« – da nahm sie seine Hand und sagte: »Du bist mein Georgche, ich hab' dich und sonst nix! . . . Ich bau' auf dich wie auf unseren Herrgott im Himmel! . . . Tu du, was du meinst! Es wird schon das richtige sein! . . .«
Er drückte ihr die Rechte wie einem Kameraden und hatte das Gesicht abgewandt und wollte ihr nicht in die Augen sehen. Er fühlte einen bitteren Schmerz. Sie war so gut. So ein einfacher, anständiger Mensch. Auf sie konnte man sich verlassen. Sie versagte nie. Sie war für ihn immer da, und ihr Urquell von Liebe. Und eine Verzweiflung war in ihm: warum bin ich denn nicht zufrieden, wo ich doch genug vom Schicksal habe? Warum muß dieses unselige alte Sehnen wieder aufleben – der Irrlichterglanz, der mich in Unrast und Unglück gelockt hat? Warum kann ich nicht vergessen und mich bescheiden wie andere?
Frau Ottis Stimmungen und Gedanken waren flink wie die Eidechsen. Sie blieben nie lange am selben Ort. Ein Geräusch von nebenan brachte sie in das Reich der Alltäglichkeit zurück, und sie glitt schnell aus dem Arm ihres Mannes. »Alleweil hab' ich ihn aber deutlich gluckse höre!« rief sie entrüstet und schoß in das Eßzimmer, wo sie in der Tat den Burschen mit einer Moselflasche am Mund ertappte, und er hörte noch den Anfang ihrer empörten Strafpredigt, ehe er hinüber an seinen Arbeitstisch ging.
Dort setzte er sich hin und schrieb in der Stille der Nacht an Vera – ohne eine Anrede – denn er wußte keine – nur ihre Adresse brachte er wie früher oben über dem Briefe an, und dann begann er unvermittelt:
»Ich hatte das Gefühl, daß, als wir uns jetzt an Karlas Krankenlager trennten, etwas zwischen uns ungelöst und unausgesprochen geblieben ist. Wir beide haben uns in jener schrecklichen Nacht und den Tagen darauf anders gesehen als bisher. Wir wurden nicht wie sonst seit Jahren dessen eingedenk, was uns trennt, sondern dessen, was uns trotz alledem gemeinsam ist.
Viel Schmerz ist uns gemeinsam. Die Vergangenheit steht still. Von ihr können wir uns nicht erlösen. Aber wir können sie mildern – indem wir von ihr das abstreifen, was an Haß und Bitterkeit an ihr haftet. Ich glaube, das sollte für uns die Lehre jener schweren Stunden sein. Wir werden dann um so ruhiger durch das Leben gehen. Und gerade für Sie beginnt doch in nächster Zeit ein neues Leben.
Ich wünsche, mich nur einmal, zum ersten und letzten Male, mit Ihnen auszusprechen. Ich weiß nicht, ob auch Sie so denken! Aber um meinetwillen schlagen Sie mir diese Bitte um diese Zusammenkunft nicht ab, in der ich Ihnen auch Wichtiges über Karlas Zukunft mitzuteilen habe! Ich schicke das Kind zu seiner Großmutter zurück, damit Sie es dort ungehindert besuchen und mit ihm verkehren können. Sie sehen, ich komme Ihnen entgegen. Ich hätte, um eine Aussprache herbeizuführen, ja nur dies als Vorwand zu nehmen gebraucht – aber ich wollte ganz ehrlich sein. Das hätten wir schließlich auch schriftlich erledigen können. Aber dies Gefühl, endlich unseren Frieden miteinander gemacht zu haben, das können wir uns nur Aug' in Auge geben . . .«
Er mußte sich zwei Tage gedulden, bis die Antwort kam. Sie enttäuschte ihn. Sie lautete kurz:
»Als Karlas Mutter – und vor allem als ihre rechtlose Mutter – bin ich verpflichtet, alle Mitteilungen, die Sie mir über sie zu machen haben, entgegenzunehmen und den Weg, der Ihnen dazu der richtige erscheint, sei es nun der mündliche oder der schriftliche, gutzuheißen. Ich danke Ihnen von Herzen, daß Sie mir die Möglichkeit gewähren, künftighin wieder Karla zu sehen. Sollte zur Festsetzung des Näheren eine persönliche Besprechung unbedingt nötig sein, so finden Sie mich morgen nachmittag zwischen vier und sieben bei meiner Verwandten, Fräulein von der Wersenz, in der Matthäikirche 189, zu ebener Erde, da ich eine Begegnung in meiner Pension aus begreiflichen Gründen nicht wünsche. Ich setze jedoch voraus, daß unser Gespräch sich ausschließlich nur um Karlas Angelegenheiten drehen und mit deren Erledigung sein Ende finden wird. Zu weiteren Erörterungen kann ich mich nicht verstehen, und nur unter dieser ausdrücklichen Annahme erwarte ich Ihren Besuch.«
Das hieß: ›Komme nicht, sondern schreibe, was du zu sagen hast! Es ist ja mit ein paar Sätzen abgetan und ein Widerspruch von meiner Seite ausgeschlossen!‹ Georg Gisbert las das wohl aus dieser großen, steilen, kräftigen Schrift. Finster hielt er den Brief in seiner Hand. Nächstens heiratete sie. Dies hier, das war die einzige, die letzte Möglichkeit, sie noch einmal zu sehen und zu sprechen, solange sie noch nicht die Frau eines anderen war. Er kämpfte schwer mit sich. Er sagte sich, daß es seiner unwürdig sei, auf dieses Schreiben hin ihr seine Nähe aufzudrängen. Aber die unbestimmte Hoffnung, dadurch irgendwie zur Ruhe zu gelangen, die Sehnsucht nach ihr war stärker als alles andere. Er ging doch am nächsten Nachmittag in Helm und Überrock in die Matthäikirchstraße und harrte da mit pochendem Herzen in dem kleinen, muffigen Salon, den Veras Verwandte, das achtzigjährige, alte Fräulein als die letzte aus dem Geschlecht derer von der Wersenz mit tausenderlei Plunder und Moder und Urväterhausrat angefüllt hatte – hier ein alter Stammbaum, in der Franzosenzeit zerhauen und zerstochen, da silberne Rennpreise, die ein längst unter dem Rasen ruhender Wersenz sich einst erritten, da Daguerrotypen von anderen Wersenz in Dreispitz und Zopf, Elfenbeinminiaturen von Frauen mit hohen Perücken, ein verrosteter Sponton des Friderizianischen Bataillons »Garde zu Fuß«, – und er betrachtete müßig und geistesabwesend diese Überbleibsel des Einst, bis Vera über die Schwelle trat.
Sie war ganz gelassen. Wenn sie erstaunt über seinen Besuch war, so zeigte sie das nicht. Gerade dadurch fühlte er sich plötzlich gedemütigt. Er bereute jetzt, gekommen zu sein. Er hatte Angst, sie könne ihm irgend etwas ansehen – Dinge, die er vor sich selber nicht wahrhaben wollte – aber nun war es zu spät, und sie sagte ruhig: »Bitte . . . nehmen Sie doch Platz . . . wollen Sie nicht ablegen?«
Sie wies auf seinen Helm. Er stellte ihn neben sich auf den verschossenen Smyrnateppich, während er sich niederließ. Vera setzte sich ihm gegenüber und wartete. Es war still. Nur von der Matthäikirche her klangen eintönige schwere Glockenschläge. Dann fing er stockend an und entwickelte ihr seine Pläne wegen Karla. Eigentlich war darüber fast nichts zu sagen. Es blieb alles beim alten, so wie es gewesen, ehe das Kind nach Berlin gekommen war. Und während er sprach, hatte er wieder das Unbehagen: warum bist du überhaupt hier?
Vera von Vogt hatte schweigend zugehört und nur zuweilen in Beistimmung den Kopf gesenkt. Sie bewahrte die Haltung einer, die nichts zu fordern, sondern nur zu empfangen hat, und nun sagte sie, beinahe mit denselben Worten wie in ihrem Brief: »Ich danke Ihnen herzlich, daß ich auch weiterhin Karla sehen darf!«
Es entstand eine Pause. Schließlich versetzte er: »Ich glaube, ich bin es Karla selber schuldig.«
Er sagte das eigentlich bloß, um nicht stumm zu bleiben. Sie erwiderte nichts. Ihre graublauen Augen ruhten auf ihm. Es war wie eine Frage: ›Nun – und? . . . Gehst du jetzt?‹ und ihm dünkte, daß er weiter auch wirklich nichts mehr tun könne, als aufzustehen und seine Abschiedsverbeugung zu machen. Und dann war auch dies letzte für immer aus, und ihm graute plötzlich vor seinem künftigen Dasein. Aber während er sich anschickte, sich nach dem Helm zu bücken, sagte Vera, die, die Hände im Schoß, aufrecht vor ihm saß: »Ich habe noch eine Bitte!«
»Wollen Sie sie nennen!« versetzte er möglichst kühl. Sein Herz klopfte. Er war froh, daß er noch eine Minute länger bleiben konnte.
Sie zögerte und suchte nach Worten.
»Ich bin so dankbar für diese . . . diese Vergünstigungen, muß ich wohl sagen, die mir hinsichtlich Karlas zuteil werden. Ich möchte nun gerne für mein Teil auch etwas dazu tun . . .«
»Ich verstehe nicht!«
Sie schaute vor sich zu Boden.
»Das Kind kostet doch schließlich eine Menge! Schon allein jetzt wieder die Ärzte! Ich trage dazu nichts bei!«
»Das ist auch gar nicht nötig!«
»Bisher hätte ich es auch nicht gekonnt, da ich ja finanziell ganz von meinem Vater abhängig war. Aber nun – wo ich bald selbständig über gewisse Summen zu verfügen haben werde . . .«
Ihre Stimme hatte einen scheuen Klang. Er versetzte schroff: »Das ist ausgeschlossen!«
»Und warum soll ich denn nicht auch mein Scherflein beitragen?«
»Weil diese gewissen Summen, von denen Sie sprechen, doch nur von Ihrem künftigen Gatten kommen können! Ich brauche das Geld Fremder zur Erziehung meiner Tochter nicht!«
Nun blickte sie jäh auf und frug: »Und wovon bestreiten Sie jetzt diese Erziehung?«
Es war wie eine Rache, wie ein Nadelstich ins Herz: ›Tue nicht so, als ob ich mich allein verkaufte! Du gabst mir das Beispiel!‹ . . . Er wußte nicht gleich etwas darauf zu entgegnen. Es war ja wahr: sie waren beide aneinander so matt und müde geworden, daß sie ihren Stolz dem Leben gegenüber verloren hatten! . . . Sie wollten bloß noch da sein und einen warmen Unterschlupf haben wie andere Menschen . . .
Wieder fühlte er einen Zorn, daß es so hatte kommen müssen – durch sie! Warum hatte sie ihn so arm gemacht? Ohne Not! Und sich dazu! In diesem Augenblick haßte er sie wieder bitter. Sie war ihm wieder der Mensch, in dem sich für ihn alles Unglück verkörperte. Und seltsam: in ihrem rasch aufleuchtenden, auf ihn gerichteten Blick glaubte er denselben Haß zu spüren. Der brannte sich ihm förmlich in die Seele. Sie saßen sich wieder als Feinde gegenüber.
Endlich sagte er rauh: »Sie spielen auf meine günstige finanzielle Lage an, wie sie durch meine zweite Ehe geschaffen ist. Eben deswegen soll unser Kind nicht unter meinem eigenen Dache bleiben. Den Aufwand für Karla bei meiner Mutter bestreite ich von jeher von meinem bescheidenen Hauptmannsgehalt. Also in dieser Hinsicht ist mein Gewissen rein!«
»Aber ich bin doch schließlich die Mutter, und . . .«
Auf dies Wort hatte er gewartet. Es kam ihm so gelegen, um dem Grimm, der in ihm kochte, Luft zu machen, und ungestüm unterbrach er sie: »Fahren Sie doch fort: ›Ich bin die Mutter, die ihr Kind verlassen hat! . . . die sich jahrelang nicht um das Kind gekümmert hat!‹ . . . ja . . . sehen Sie mich nur so an! Es ist doch wahr . . . Sie haben die Mutterpflicht mit Füßen getreten! Ich die meinige als Vater nicht! Das ist der Unterschied zwischen uns beiden!«
Sie war unter seinen Worten zusammengezuckt. Ihr Gesicht wurde ganz fahl. Sie preßte die Lippen aufeinander, um sich zu beherrschen, und stand langsam auf. Eine Sekunde bereute er seine Heftigkeit. Er war doch nicht gekommen, um ihr weh zu tun! Aber es war zu viel auf seiner Seele. Er hatte keine Macht mehr darüber und fuhr blindlings fort, während er sich auch erhob: »Ich habe alles andere eher begriffen, was zwischen uns gewesen ist, als das! . . . Ich begreife es jetzt noch nicht! . . . Sie wissen nicht, wie die Wohnung an dem Mittag aussah . . . nach Ihrer Flucht . . . Alle Türen und Schränke offen – die Leute weg – und mitten in dem unordentlichen Zimmer saß ich und hatte das arme zweijährige, kläglich schreiende Wurm auf dem Schoß . . . Ja . . . ich erwähne absichtlich alle diese lächerlichen Einzelheiten . . . ich vergesse diese Stunden nicht, wo ich die Beschämung so weit treiben und bei den Regimentsdamen herumlaufen und sie bitten mußte, sich meines Kindes anzunehmen, bis meine Mutter kam! Ich wundere mich jetzt noch, wie ich das über die Lippen gebracht, wie ich überhaupt den ersten Abend in der leeren Wohnung ausgehalten hab' . . .«
Sie erwiderte nichts. Sie stand mit einem starren Gesichtsausdruck vor ihm. Er schloß: »Und nun kommen Sie auf einmal und sagen: ›ich bin doch die Mutter!‹ Nun werfen Sie mir vor, daß ich mit fremdem Gelde für Karla sorge! . . . Nein . . . so wollen wir doch nicht spielen! Es gibt doch noch eine Gerechtigkeit, und die ist, weiß Gott, auf meiner Seite!«
Sie blieb stumm. Er sah sie finster an. Nach einer Weile frug er: »Haben meine Worte gar keinen Eindruck auf Sie gemacht? Haben Sie gar nichts darauf zu erwidern?«
Und nun versetzte sie leise: »Ja, damals war ich so! Jetzt bin ich anders!«
»Und das ist alles?«
»Weiter kann ich nichts sagen! Weiter weiß ich nichts!«
Es verletzte ihn, daß sie kein Wort von Reue sprach. Er meinte hart – es machte ihm beinahe Freude, gegen sie grausam zu sein: »Jetzt ist's zu spät! Sie haben eine schwere Schuld auf sich geladen! Die werden Sie Ihr Leben lang nicht mehr los. Das müssen Sie vor allem einsehen lernen, um eine richtige Stellung zu den Dingen zu bekommen!«
Sie rang die Hände ineinander. Sie zitterte.
»Also soll ich ewig als Bettlerin dastehen! Wissen Sie denn, was das für mich heißt? Ich hab' doch auch noch meinen Stolz, wenn er auch im Leben Schiffbruch gelitten hat! Ich will nicht immer gedemütigt sein!«
»Es demütigt Sie niemand!«
»Jeder Mensch! Von überall her bekomm' ich Almosen – von Ihnen, von Ihrer Frau, die für Karla sorgt, von Ihrer Mutter, die es auch tut, von meinem Bräutigam, von meinem Vater . . . überall bin ich das fünfte Rad am Wagen! . . . Ich bin wie ausgeschaltet . . . ich werd' nur so mit durchgeschleppt . . . Herrgott, wenn ich gefehlt hab', dann hab' ich wahrhaftig genug gebüßt! . . . Einmal muß es doch ein Ende haben . . .«
Er beugte sich nieder und nahm seinen Helm vom Boden. Er wollte jetzt wirklich gehen. Sie folgte mit den Augen seiner Bewegung und sagte aus trockener Kehle: »Lassen Sie Ihren Helm noch stehen! Ich rede noch! . . . Sie tun immer, als sei ich damals in dulci jubilo von Mann und Kind weg ins Weite gefahren! . . . An dem Abend, von dem Sie eben sprachen, da hab' ich vor meinem Vater an der Türe in Neetzow gestanden, und er hat mich angeschrien: ›Woher kommst du? . . . Wo hast du dein Kind? . . . Wegen wem bist du fort?‹ – und hat mich über die Schwelle gejagt . . . er hat mir nicht geglaubt, daß ich keinen Liebhaber hätte . . . er hat sich das alles ganz anders vorgestellt . . . ja . . . und da stand ich . . . und es regnete und wurde dunkel . . . und ich war den Weg von der Station zu Fuß gelaufen . . . Da hab' ich die ganze Nacht im Dorfkrug am Ofen gesessen und gezittert . . . früh morgens kam dann Mama und holte mich heimlich ins Haus und schickte gleich nach dem Arzt . . . ich hab' wochenlang krank gelegen von der Nacht . . . Ganz werd' ich mich von dem allem nie erholen, das weiß ich. Ich bleib' zeitlebens ein geknickter Mensch! Und wenn ich mich dann ein bißchen aufrichten will, einmal ein wenig geben, statt immer bloß zu nehmen . . . Ich meinte es gut mit meiner Bitte wegen Karla . . .«
»Sie hatten auch Gelegenheit, mir eine Bitte zu gewähren!« sagte er schroff. »Es war mir so viel daran gelegen, – in der Stimmung, in der ich jetzt bin –, daß wir uns hier aussprechen und in Versöhnung voneinander trennen sollten. Aber Sie schlugen es mir ja von vornherein ab!«
Sie lachte auf.
»Das ist doch wundervoll! Sie kommen hierher zu mir, wie um sich – ja, ich finde wirklich kein anderes Wort – um sich von mir trösten zu lassen! . . . Gerade von mir! Das begreife, wer mag! . . . Sie haben sich doch wirklich rasch genug getröstet. Kaum drei Jahre waren vergangen, da las ich Ihre Verlobung in der Zeitung! . . . Nun haben Sie eine nette Frau, blühende Kinder, viel Geld, sind gesund, machen Karriere – ja, was wollen Sie denn noch?«
»Es liegt trotz alledem ein Schatten über meinem Leben . . .«
»Wenn der das schlechte Gewissen heißt – von dem kann ich Sie nicht befreien! Sie reden so viel von meiner Schuld! . . . Natürlich: die ist klar! Die ist genau in den Ehescheidungsakten verzeichnet! Aber was an mir gesündigt worden ist . . .« Ihr Atem ging rascher, ihre Augen leuchteten auf, sie trat mit einer jähen Bewegung vor ihn hin. »Schlägt Ihnen jetzt manchmal das Herz bei dem Gedanken, was Sie aus mir gemacht haben? Ich hab' mir mein Leben nicht wieder so hübsch zurecht gezimmert wie Sie. Dazu war ich viel zu sehr ins innerste Mark getroffen. Ich hab' die sechs Jahre vertrauert und vergähnt . . . wissen Sie, was das heißt: die zweite Hälfte der zwanzig für eine junge Frau ganz einsam in unserem elenden Kasten da unten an der Elbe – halb verfemt von der Familie und der Nachbarschaft – ohne einen Menschen – meine Mutter immer krank – Papa den ganzen Tag auf dem Feld, abends still wie das Grab – ach . . . diese Abende . . . o Gott . . . und ein Tag wie der andere! Ich begreif' nicht, wie ich es ausgehalten hab' . . . Der Mensch ist furchtbar elastisch . . . Ich bin ja jetzt auch wieder so weit . . . Aber daß Sie da auf einmal kommen und mir Ihre Reue ins Haus tragen . . .«
»Von Reue habe ich nicht gesprochen!«
»Nennen Sie's, wie Sie wollen! Ich danke dafür! Es ist zu spät! Ich kann kaum mehr eine Genugtuung darüber fühlen! Ich bin zu erstickt von dem allem . . .«
Sie wandte sich ab. Georg Gisbert hatte jetzt erst nachträglich bemerkt, wie furchtbar erregt sie war. Ihre anfängliche Ruhe bei seinem Empfang war nur Selbstbeherrschung gewesen.
»Geben Sie mir doch die verlorenen Jahre wieder!« sagte sie wild auflachend. »Geben Sie mir doch meinen Mut zum Leben wieder – meinen Glauben an meinen Stern! Lieber Gott – was hatt' ich als junges Ding an Träumen im Kopf! Jetzt bin ich sehr vernünftig geworden! Und daraus leiten Sie sich das Recht ab, sich dahin zu setzen und mit mir ein bißchen in herbstlicher Wehmut zu schwelgen! Ach nein! Ich habe leider gar keinen Sinn für Sentimentalität! . . . Die Mühe ist verloren . . .«
Sie durchmaß mit ein paar raschen Schritten das Zimmer. Ein matter Abendschein umfloß vom Fenster her ihre schlanke Gestalt. Ihr Blondhaar leuchtete über dem blassen Gesicht. Er dachte sich: wie schön ist sie – wie schön . . . Allmählich wurde sie ruhiger. Sie deutete auf seinen Stuhl. »Setzen wir uns doch wieder!« sagte sie. »Wozu das aufgeregte Herumstehen? . . . Sie brauchen mir auch gar nichts mehr zu erzählen. Ich weiß es alles selber schon lange. Es war mein Unglück, daß ich, der ich trotz meines Temperamentes Verstandesmensch bin, gerade an Sie gekommen bin, bei dem die Phantasie die Hauptrolle spielte! Ich weiß nicht, wie Sie jetzt sind. Aber damals war das Leben außer Dienst für Sie ein Traum. Sie träumten auf Ihrer Geige – Sie träumten von fernen Ländern und Abenteuern, was Ihnen inzwischen ja auch beschieden worden ist – Sie träumten Ihre künftige Frau. Die war schon fix und fertig, ehe Sie sie je mit Augen gesehen hatten. Dieser Traumgestalt mußte ich armes Wesen von Fleisch und Blut nun entsprechen. Sie maßen mich an einem Ideal, das ich gar nicht kannte . . .«
»Von alledem weiß ich nichts!« sagte Georg Gisbert.
»Das glaube ich gerne, daß Sie das unbewußt getan haben! Mir ist das alles auch erst nachträglich, nach Jahren klar geworden. Jede Frau ist anpassungsfähig, und wenn sie liebt, ist sie es zehnfach. Ich bin nicht so biegsam von Natur wie andere – aber dafür hab' ich Sie zehnmal mehr geliebt, als andere ihren Mann! Durchs Feuer wäre ich für Sie gegangen. Ich hab' mir alle Mühe gegeben, so zu werden, wie Sie mich nun einmal sahen. Aber das schwankte ja ewig, je nach Ihren Launen und Stimmungen. Ich konnte es nie recht begreifen und mir sagen: ›So! Also das bist künftig du!‹ Es gab immer wieder Mißverständnisse und Enttäuschungen! Ich war nie so, wie ich sein sollte! Ich hab' mich aufgerieben im Kampf mit meinem eigenen Doppelwesen!«
Sie stand in ihrer unterdrückten Erregung wieder auf und schob den Stuhl zurück.
»Da hab' ich schließlich nur noch das Gefühl gehabt: ›Wie ich bin, bin ich genug! . . . Wenn dir das zu wenig ist . . .‹ O . . . ich will mich gar nicht beschönigen! Ich war damals wild und launisch und verzogen! Ich hatte eine viel zu hohe Meinung von mir! Man hatte mir wie anderen Mädchen die dumme Idee beigebracht, daß ich dazu da sei, einen Mann so glücklich zu machen, daß er weiter gar nichts vom Schicksal verlangte. Das schien mir damals ein leichtes! . . . Mit Stolz im Herzen, mit vollen Händen bin ich in dein Haus getreten! Und dann diese Ernüchterung – diese Demütigung, als unzulänglich empfunden zu werden – zu klein und zu dürftig zu sein. Da konnte man sein Bestes geben . . . da hätte ein Engel vom Himmel herunterkommen können – er hätte dir nicht genügt! . . . O Gott . . . was hab' ich gelitten in der Zeit . . .«
»Glaubst du, ich nicht?«
Plötzlich merkten sie beide, daß sie in der Aufregung in das »Du« von einst zurückverfallen waren. Sie verstummten. Es war schon so dämmerig, daß sie nur undeutlich die leise, rasche Röte erkennen konnten, die ihre Gesichter überflog und wieder verschwand. Dann begann Vera: »O, das weiß ich, daß Sie gelitten haben! Das hoffte ich damals. Ich war grausam geworden – rachsüchtig. Da sagte ich mir: ›Er soll auch leiden!‹ Man hat ja tausend Nadelstiche bei der Hand. Aber auf die Dauer ist dabei der Mann immer der Stärkere. Er hat ja draußen das Leben. Und als Sie anfingen, nicht mehr an mir herumzumäkeln und mich zu quälen und immer neue Mankos an mir zu entdecken, sondern mich ganz einfach vernachlässigten, als hoffnungslos aufgaben – als Sie die Abende im Kasino zubrachten, kaum von der Jagd und dem Dienst nach Hause kamen . . . und ich hatte Sie gegen den Willen der Meinen geheiratet . . . es war reinste, heißeste Liebe bei mir gewesen – und wie stand ich nun da . . .? verschmäht und verlassen . . .? Ihre fortgesetzte Schuld an mir, die hat keiner aufgeschrieben! Und was war schließlich mein Verbrechen? Ich war Ich und nicht Ihr Traumbild! . . . Und dies Traumbild haben Sie auch späterhin nicht im Leben verwirklicht. Ihre jetzige Frau ist sehr nett und lieb, aber auch ein Mensch! Die hat es gut, weil sie bei Ihnen die zweite ist. Ich als erste mußte dran glauben . . .«
Es dämmerte immer stärker in dem Zimmer. Eine Weile herrschte Schweigen, Georg Gisbert hatte das Haupt gesenkt und sah vor sich zu Boden. Endlich sagte er: »Ich habe mir gewiß nachher Vorwürfe genug gemacht. Mich hat das Leben inzwischen auch in die Schule genommen und mich gelehrt, daß nicht alle Blütenträume reifen. Ich hab' jetzt wohl erkannt, daß ich zuviel von Ihnen verlangt habe. Aber ich hab' das damals aus viel zu großer, aus ungerecht und anspruchsvoll machender Liebe getan! Das ist meine einzige Entschuldigung . . .«
»Also das geben Sie doch zu, daß ich damals Unmögliches leisten sollte?«
»Ich glaube, ja!«
Sie seufzte.
»Jetzt, nach sechs Jahren, ist das alles ja gleichgültig!« sagte sie. »Aber schließlich ist es mir doch lieb, daß ich das einmal aus Ihrem Munde gehört habe! Es beruhigt mich doch! Ich danke Ihnen dafür! Denn im gewissen Sinn bleiben wir doch immer gegenseitig unsere einzigen Richter! Was wissen Dritte von alledem . . .?«
Die Schatten im Zimmer hatten sich vertieft. Im Nebengemach kreischte ein Kakadu. Die Stimme einer alten Dame, die selber etwas Papageienartiges im Klang hatte, beruhigte ihn. Vera meinte: »Das ist nur meine Urgroßtante, die da nebenan herumgeistert! . . . Sie stört uns nicht. Sie ist über achtzig und stocktaub. Aber eine Lampe könnte sie uns nun schon hereinschicken! Es wird bald Nacht.«
Er machte eine abwehrende Handbewegung.
»Lassen Sie es doch!« sagte er. »Es sitzt sich doch so gut hier im Zwielicht!«
Beide schwiegen. Es war kein Laut in dem altmodischen Zimmer, in dem alles voll war von den Spuren verschollener Geschlechter, von Andenken an Menschen, die niemand mehr kannte, von Dingen, an deren geheimem Sinn einst ein Herz gehangen und die nun kalt und tot geworden waren – und den beiden, die sich da stumm, die Hände über den Knieen gefaltet, gegenübersaßen, war das wie ein Gleichnis ihres eigenen Seins.
Es war eine lange Pause. Ihre beiden Gestalten zeichneten sich nur noch undeutlich im Halbdunkel ab. Dann sagte Vera, mehr zu sich als zu ihm: »So – jetzt hab' ich glücklich mein Wort gebrochen . . .«
Er hob den Kopf. Sie fuhr fort: »Wir wollten uns doch nicht über das unterhalten, was einmal zwischen uns war. Ich hatte es . . . meinem Bräutigam versprochen. Aber es ist einerlei! Es ist so ganz gut! Es reden einem so viele ins Leben hinein und man lebt's doch schließlich selber . . . Kein anderer hilft einem dabei . . .«
Er saß dicht vor ihr. Die Finsternis war ihm willkommen. Da konnte er sie ansehen, so lange er wollte – diese unbestimmten Umrisse ihres Schattens . . . den Rausch ihrer Nähe fühlen. Endlich versetzte er: »Ich bin Ihnen dankbar dafür. Im Schweigen liegt etwas so furchtbar Hartes. Mit ein paar Worten kann man die Dinge mildern . . . Sie haben uns beiden die Sentimentalität verboten. Ich will auch gar nicht mit einer billigen Wehmut kommen. Ich meine nur: den Schmerz, den wir uns einmal zugefügt haben – den sollten wir uns in der Erinnerung wenigstens läutern . . .«
Wie er so sprach, übermannte ihn doch beinahe die Ergriffenheit. Er kämpfte mit sich. So bat er gedämpft, sich im Stuhl vorbeugend, in das Dunkel hinein: »Vera . . . wollen wir uns nicht verzeihen, ehe wir auseinandergehen?«
Es kam keine Antwort von dem Schatten vor ihm.
Und wieder kam das schwere Schweigen.
Dann sagte er leise: »Sie heiraten nun nächstens?«
»Ja«
»Wann?«
»Donnerstag über acht Tage!«
»Ich wünsche Ihnen von Herzen Glück für Ihr weiteres Leben!«
Von drüben klang ein seltsamer Ton. Es war wie ein unterdrücktes Aufseufzen. Dann erwiderte sie ruhig: »Danke.«
»Bleiben Sie in Berlin wohnen?«
»Den Winter in Berlin, den Sommer auf unserem Gut.«
»Ich bin auch an Berlin gebannt. Ich weiß nicht, wie lange mein Kommando hier dauern wird. Es kann sich noch sehr hinziehen . . .«
»Ich weiß, daß Sie sich Ihren Aufenthaltsort nicht wählen können!«
Sie schien seine Worte als eine Entschuldigung aufzufassen, daß er mit ihr in derselben Stadt blieb. Er fuhr fort: »Es ist jeden Tag die Möglichkeit gegeben, daß wir uns durch Zufall wieder treffen. Vera . . . wollen wir da nicht dem für uns Peinlichsten von vornherein die Spitze abbrechen – an allem Äußerlichen ändert das ja nichts – und uns die Hand geben und zueinander sagen: ›Und vergib uns unsere Schuld‹ . . .? Es wäre so viel besser . . . so viel schöner . . . mich wenigstens würde es zu einem ganz anderen Menschen machen – viel lebensfroher und mit mir einiger als bisher . . .«
Er streckte ihr seine Rechte hin. Er hatte kaum gehofft, daß sie sie nehmen würde. Aber sie legte stumm und zögernd ihre Hand in die seine, mehr, wie es schien, um diesem unheimlichen Flüstern im Dunkeln, dieser schwülen Stimmung zwischen ihnen beiden ein Ende zu machen, als aus innerem Trieb. Er fühlte die Berührung ihrer Hand. Die Erregung übermannte ihn. Er preßte sie mit einem so leidenschaftlichen Druck, daß Vera sie hastig zurückzog und aufstand und mit einer, vor Schrecken ganz tonlosen Stimme sagte: »Es ist wirklich unglaublich . . . die alte Wersenz läßt einen hier einfach im Dunkeln sitzen!«
Zugleich schellte sie und beorderte, als eine alte Magd ihren Kopf durch die Türe steckte, ungeduldig: »Bitte, Licht! Der Herr Hauptmann will gehen und kann nicht einmal seine Sachen finden! Man sieht nicht mehr die Hand vor den Augen . . .«
Die Lampe kam, und bei ihrem Schein merkte er wohl: er hatte sich verraten. Vera hatte Augen für das bekommen, was in ihm war. Sie war ganz fahl geworden und atmete schwer. Sie vermied seinen Blick. Sie hielt sich stets drei Schritte von ihm. Aber sie gab sich alle Mühe, zu tun, als wäre nichts geschehen, und frug, während er Helm und Handschuhe nahm: »Wann reist Karla?«
»Übermorgen mit dem Mittagszug! Vom Zoologischen Garten!«
»Bringen Sie sie an die Bahn?«
»Ich kann nicht. Ich habe Dienst!«
Nun sagte sie schüchtern, in bittendem Ton: »Darf ich dann das Kind nach Schlesien bringen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich hab' schon meine Frau gebeten, es zu tun . . .«
Während sie mit einer unwillkürlichen, feindseligen Bewegung das blonde Haupt in den Nacken warf, setzte er gereizt hinzu: »Das Kind geht aus dem Hause meiner Frau in das meiner Mutter über! Also soll es auch meine Frau zu meiner Mutter geleiten! Das gehört sich so.«
Er sagte das absichtlich schroff, so als wollte er ihr von neuem weh tun! Sie zuckte nur die Achseln. Beide sahen sich eine Sekunde bang und suchend in die Augen und gleich wieder weg. Und im selben Moment war es ihm ganz klar: zwischen uns zweien gibt es nie Frieden . . .! Immer nur Haß oder Liebe . . . oder beides zugleich . . .
»Bitte, gehen Sie jetzt!« sagte Vera.
Als er nur einen Augenblick zögerte, um seinen Säbel einzuhaken, wiederholte sie hastig: »Gehen Sie! . . .« und als er sie dabei anblickte, färbte plötzlich eine leise, jähe Röte ihre Wangen. Sie hatte wieder der Alten geklingelt, damit sie ihm draußen beim Anziehen des Paletots behilflich sei. Sie wollte nicht unter vier Augen von ihm Abschied nehmen. Sie stand auch so weit von ihm, daß er nicht auf den Gedanken kommen konnte, ihr noch einmal die Hand zu reichen. Und nun, angesichts des Dienstboten, hatte auch er wieder ganz seine Haltung als Offizier. Er verbeugte sich stumm und höflich und verließ das Gemach.