Rudolph Stratz
Für Dich
Rudolph Stratz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIII.

In den folgenden Tagen lag eine Wolke über dem Gisbertschen Hause. Die kleine Karla weinte und bekam wieder ihr spitzes, blasses Krankenstubengesicht. Sie war unglücklich. Sie wollte nicht heim zu der alten Großmama. Sie wollte hier bei Tante Otti bleiben. Hier war es viel lustiger.

Und auch Frau Otti ging verändert herum. Sie sagte nicht viel. Das war nicht ihre Art. Aber ihr Mann merkte wohl, wie es sie kränkte, daß man ihr das Stiefkind, nachdem sie es mit solcher Selbstüberwindung ins Haus gebracht, zum Dank wieder wegnahm. Selbst der Hausarzt machte dem Hauptmann Gisbert Vorstellungen: sein Töchterchen sei doch nun einmal leidend und eine weitere Beobachtung bei dem Spezialisten vielleicht doch . . . Und jener erwiderte heftig: »Mein lieber Sanitätsrat . . . mit dem ewigen Herumgeklopfe und Herumgehorche an dem armen kleinen Kerl kommt schließlich auch nichts Gescheites heraus. Ich weiß schon, was ich tue!«

Bei sich hatte er gedacht: den letzten Grund kann ich doch dir nicht sagen und keinem: Wenn ich schon meine einstige Frau nicht mehr lieben darf, wie kann ich dann das Unterpfand ihrer Liebe, unser Kind, immer, und überall um mich sehen? Jedes Wort, jedes Lachen meines Töchterchens mahnt mich doch an sie, an die ich nicht denken soll und doch ohne Aufhören denke – ruft Erinnerungen wach . . . es ist furchtbar, aber wahr: ich ertrage den Anblick meines Kindes nicht mehr, weil ich seine Mutter liebe . . .

Daß Vera das nun wußte, erregte ihn nachträglich kaum mehr. Er bereute seine Unvorsichtigkeit nicht. Er war gleichgültig geworden. Das Schicksal ging seinen Gang. Er machte sich auch keine Vorwürfe, daß er Vera, statt in Frieden mit ihr zu kommen, erst recht die Ruhe geraubt hatte. Ihn quälte nur die eine Frage: »Wie steht sie zu mir . . .?«

Seine Gedanken gingen hartnäckig immer wieder denselben Weg zurück: Sie war vor sechs Jahren aus seinem Hause geflohen, ohne einen Dritten! Sie hatte diese ganze Zeit für sich gelebt, ohne einen Dritten! Sie heiratete jetzt, aber dieser Dritte zählte nicht mit! Wie man es auch ansah: er, Georg Gisbert, war doch immer der Mann in ihrem Leben gewesen – ihr Halt und ihr Hemmnis – sie hatte nie über ihn hinweg den Weg zu einem anderen gefunden – und vielleicht war er noch jetzt ihr Schicksal . . .

Sie hatte doch die Wahl unter Bewerbern. Warum nahm sie ganz offensichtlich und trotzig gerade den, bei dem ihr Herz nicht mitsprach? Den angegrauten, dicken Fünfziger? . . . Weil sie nicht mehr lieben konnte? Weil alles, was sie je im Leben an Liebe besessen, ihrem ersten Mann gegolten hatte? . . . Und noch galt?

Seine Träume verwirrten sich da. Manchmal erschien es ihm wahrscheinlich, ja selbstverständlich – sie war ja auch so seltsam verstört gewesen bei ihrem letzten Abschied – dann wieder ganz lächerlich. Es war wie ein unheimlicher Rausch, der nicht von ihm wich, vor dem ihm selber graute.

Dann beruhigte er sich wieder. Es geschah ja nichts. Es würde auch nichts geschehen. Die Tage flossen einförmig dahin. Die Jahre schließlich einmal auch. Man lebte und verzehrte sich still und war innerlich morsch und blieb nach außen aufrecht. Das war wohl das Schicksal vieler, denen man es auch nicht so ansah.

In dieser Stimmung saß der Hauptmann Georg Gisbert am Mittwoch vormittag in seinem Bureau. Er hatte ausnahmsweise weniger Schreibereien zu erledigen als sonst. Er lehnte sich in seinem Strohsessel zurück und schloß die Augen. Jetzt war daheim in der Garnison wohl Bataillonsexerzieren oder Felddienstübung. Oder die Kompanie hatte Schießen. Das war alles nicht sehr kurzweilig. Und doch beschlich ihn, der alles daran gesetzt hatte, von dort wegzukommen und das Berliner Kommando zu erhalten, auf einmal eine Sehnsucht nach frischer Luft, nach einem Galopp über grüne Haide statt des Aufenthalts in der Aktenstube hier.

Nun merkte er: das war nur der letzte Versuch, sich überhaupt aus Berlin, aus Veras Nähe, hinwegzuwünschen – gleichviel wohin! Und der Wunsch war aussichtslos. Seine Verwendung hier war eine solche Auszeichnung für einen jungen Offizier – so viele beneideten ihn darum – kein Mensch und am wenigsten die Vorgesetzten hätten begriffen, warum er versetzt werden wollte, um im Frontdienst Staub zu schlucken. Und gar den Abschied nehmen – vom Geld des zweiten Schwiegervaters irgendwo faulenzen – ihm schauderte bei der bloßen Vorstellung.

Seltsam – sein erster Schwiegervater, der alte von Vogt auf Neetzow, war immer knurrig, karg und mißtrauisch gegen ihn gewesen. Und doch hatte ihm, der als Bürgerlicher in der Armee alle Kasteninstinkte des Adels in sich eingesogen, der verwitterte altmärkische Edelmann innerlich viel näher gestanden als jetzt der warmherzige und leichtlebige, schöne Schwiegerpapa am Rhein. Überhaupt: seine ganze erste Ehe war ihm so unheimlich nahe, so greifbar vor das Auge gerückt, daß ihm manchmal das, was nachher gekommen, wie ein Traum dünkte und jenes erste wie das wirkliche Leben.

Er fuhr erschrocken zusammen und beugte seinen dunklen, energischen, trotz des Berliner Aufenthalts noch sonnengebräunten Kopf wieder über die Schriftstücke. Sonst pflegte er meist weit über die vorgeschriebene Dienstzeit hinaus zu arbeiten. Aber heute war er gerade um Mittag fertig und es fiel ihm ein, daß er, wenn er sich eilte, noch vielleicht zurechtkommen konnte, um seiner Frau, die jetzt eben mit Karla zu der Großmutter nach Schlesien reisen sollte, und dem Kinde selbst auf dem Bahnhof Lebewohl zu sagen.

Er fuhr mit der Stadtbahn nach der Station Zoologischer Garten. Als er dort ausstieg, rollte eben von Westen her der Breslauer Schnellzug langsam in die Halle nebenan, und er sprang die Treppe hinunter, die Treppe zum Fernbahnhof wieder hinauf, und fand Otti und ihr Stieftöchterchen, wie sie sich gerade von dem Burschen das Handgepäck in ein Damenabteil reichen ließen. Er hatte noch Zeit gefunden, in fliegender Hast bei dem Blumenhändler in der Halle einen Busch Rosen zu erstehen. Den gab er Otti. Sie sollte ihn der Mutter mitbringen. Sie nahm ihn und sagte, sich aus dem Coupéfenster vorbeugend, zu ihm, der unten stand, mit leiser Summe: »Eben war sie hier . . .«

Zugleich bemerkte er, daß Karla auch ein paar Blumen und ein Körbchen mit Früchten in der Hand hielt. Er folgte der Richtung, die die Augen seiner Frau nahmen. Dort, ganz hinten, ging gerade eine große, schlanke Dame durch die Bahnsteigsperre hinaus. Sie trug einen schwarzen Tuchrock und ein schwarzes, ärmelloses Samtjäckchen, aus dem das Altrosa ihrer Blusenärmel leuchtete. Sie schritt langsam, etwas müde und mit vorgebeugtem Kopf, wie es sonst nicht Veras Art war. Aber er erkannte sie doch sofort. Er mußte in der Eile dicht an ihr vorbeigestürmt sein. Stumm und betroffen sah er, wie sie auf der abwärtsführenden Treppe im Gewühl der Reisenden verschwand. Dann frug er: »Was wollte sie denn?«

»Nichts. Sie hat halt Karla noch einmal sehen wollen. Sie ist nur gekommen und hat mich wortlos gegrüßt und der Karla die Sachen gegeben und sie geküßt und ist gleich wieder fortgegangen . . . Zachariä . . . machen Sie, daß Sie heimkommen . . .«

Sie sagte das zu dem Burschen, der als müßiger Zuhörer daneben stand, und als der sich trollte, versetzte ihr Mann erregt, so als müsse er sich und jene rechtfertigen: »Frau von Vogt konnte nicht ahnen, daß ich auf den Bahnhof kommen würde! Ich hatte ihr ausdrücklich gesagt, ich könnte nicht, wegen dem Dienst . . .«

Die kleine Frau verstaute innen geschäftig ihr Handgepäck. Sie hörte nicht recht zu. Sie hatte ein bißchen Reisefieber, wie immer, wenn sie ohne ihr Georgchen fort sollte. Schon setzte sich der Wagen in Bewegung. Noch einmal streckte sich Karlas magere Kinderhand und die Frau Ottis, die auch nicht viel größer war, dem da unten entgegen, noch ein: »Auf Wiedersehen morgen! . . . Grüß die Mama! . . .« dann rollte der Zug nach dem Inneren Berlins davon, und der Hauptmann Gisbert, der noch eine Zeitlang dagestanden und ihm nachgeschaut hatte, wie er in der Entfernung immer kleiner wurde, wandte sich um und trat durch das erste Bahnhofsportal hinaus ins Freie.

Man war da in einem Seitenwinkel. Vorn leuchtete das Grün des Zoologischen Gartens. Links führte ein schmaler Fußpfad längs der Stadtbahnbogen durch den Tiergarten zum Hippodrom. Georg Gisbert hatte sehr scharfe Augen. Und wie er in dieser Richtung hinunterschaute – sein Weg nach Hause lag in der anderen – da sah er ganz in der Entfernung eine Dame gehen. Wer es war, wäre durchaus nicht mehr zu erkennen gewesen. Aber die rosa Ärmel leuchteten in dem hellen Maisonnenschein deutlich aus dem dunklen Kleid.

Im selben Augenblick hatte er mit zwingender Gewalt die Vorstellung, an dem Scheidewege seines Lebens zu stehen! Alles bisher zwischen ihm und Vera war Zufall oder Notwendigkeit gewesen, nie reiner Wille. Alles hatte sich noch irgendwie erklären und entschuldigen lassen. Aber wenn er jetzt, wie er unwillkürlich wollte, wie seine Füße ihn schon halb trugen, denselben Weg einschlug wie sie, dann gab es kein Beschönigen vor sich und anderen mehr. Dann begann in seinem Leben die Schuld. Er hatte dort nichts zu suchen, im Tiergarten. Er verhehlte sich das auch gar nicht. Er machte sich das ruhig klar, wie ein Mann, der sich plötzlich mitten in einer Gefahr befindet und jeden Ausweg prüft und nur darauf achtet, nicht den Kopf zu verlieren. Denn sein Kopf war betäubt. Er sah Frühling, Sonnenschein, Baumgrün, Menschen umher wie durch einen brausenden Schleier.

Die Gestalt in der Ferne war längst unsichtbar geworden. Sie mußte jetzt schon die Schleuse am Kanal überschritten und sich in einem der vielen Pfade des weiten Parks da drüben verloren haben. Es war gar keine Aussicht, sie wiederzufinden, selbst wenn man sich Mühe gab – selbst wenn man lief, was er als Offizier auf offener Straße doch gar nicht konnte.

Und nun sagte er sich in Ärger und Trotz: Warum soll ich nicht schließlich auch hier gehen? Mein einsames Strohwitwerfrühstück in der Meinekestraße läuft mir nicht davon! Ich kann doch schließlich tun, was ich will.

Ihm war nicht wohl dabei zu Mute. Er fühlte schon: er betrog sich selbst. Dieser Pfad, den er nun absichtlich langsam und öfters stehenbleibend hinabschritt, war kein Weg wie andere. Den war sie vor kurzem gegangen. Es war, als sei da noch etwas von ihrer Nähe. Diese Vorstellung benahm ihm den Atem. Sein Herz hämmerte heftig. Er machte halt und schritt wieder zögernd weiter, wie auf einer verbotenen Spur. Und sagte immer wieder sich selber zur Beruhigung: Wenn es auch närrisch ist, was du tust und unwürdig – Folgen hat es keine! Du kannst sie ja nicht mehr einholen. Sie hat einen viel zu großen Vorsprung . . .

Zum Überfluß redete ihn auch noch auf dem Sandfeld des Hippodroms ein ihm bekannter Offizier an, der zwischen dem Wasserturm und dem Eisenbahnviadukt hin und her ritt, um sein Pferd an den Lärm der Züge zu gewöhnen. Sie sprachen eine Weile miteinander über den Gaul, und Georg Gisbert klopfte dem ohrenspitzenden und prustenden, schweißbedeckten jungen Tier aufmunternd auf den Hals. Dann wandelte er weiter und war nun ganz ruhig. Diese Zeitversäumnis tat das Letzte! Warum sollte er sich nicht im Grünen ergehen? Er zwang sich, an Fernliegendes zu denken – an die Stute, die er eben gesehen – an den verfluchten australischen Pony, den er im Chinafeldzug geritten und der die Manie gehabt hatte, einem, wenn man beim Aufsitzen den Fuß in den Bügel schob, blitzschnell in die Stiefelspitze zu beißen. Sonst eine zähe Rasse! Im Berliner Tattersal drüben stand jetzt auch solch ein gescheckter brasilianischer Mustang zum Verkauf, der viele Kämpfe in Indien, den ganzen Burenkrieg und den Aufstand in Südwestafrika mitgemacht hatte. Dieser uralte, klapperdürre Hengst erinnerte ihn immer an einen greisen Landsknecht des Mittelalters . . .

Im selben Augenblick sagte zu ihm ein weißhaariger Herr mit einem Zylinder und mit einer Aktenmappe unter dem Arm, offenbar ein Geheimrat oder so etwas, der auf dem Heimwege von seinem Bureau war: »Ich glaube, Herr Hauptmann . . . der Dame dort scheint nicht wohl zu sein . . .«

Dabei wies er auf eine Bank am Wege. Es schien, daß er, in Ermanglung eines in der Nähe befindlichen Schutzmannes, es für seine Pflicht hielt, die Ritterlichkeit des Offiziers für die Erkrankte in Anspruch zu nehmen. Er selbst setzte nach flüchtigem Gruß eilig seinen Weg fort. Sonst war niemand umher, der Tiergarten überhaupt um die Mittagstunde wie ausgestorben. Georg Gisbert trat auf die Bank im Grünen zu. Da saß Vera. Er wunderte sich eigentlich nicht. Er hatte das ja herausgefordert. Er war ja in derselben Richtung gegangen wie sie. Er merkte jetzt, daß es sein innerster Wunsch und Wille gewesen war, sie zu treffen. Der hatte sich nun erfüllt.

Er stand vor ihr und sah, daß sie weinte, krampfhaft in das Taschentuch schluchzte, das sie vor das Antlitz gepreßt hielt. Deswegen hatte der Herr sie für krank gehalten. Georg Gisbert wußte nicht, ob sie ihn schon bemerkt hatte. Sie lag halb auf der Bank, den Arm auf die Lehne, den Kopf in die Hände gelegt. Er hätte schließlich behutsam umdrehen und zurückgehen können. Aber er tat es nicht. Er trat auf den Fußspitzen näher, und nun schaute sie auf.

Ihr schönes Gesicht war ganz blaß und naß, die Augen feucht. Es zuckte um ihre Lippen. Sie machte, als sie ihn erkannte, eine Bewegung, als ob sie ihm entfliehen wollte, und blieb doch sitzen und sah ihn hilflos an.

Dann sagte sie, ohne eine Frage von ihm abzuwarten, langsam aufstehend und müde die Arme nach unten dehnend: »Ach . . . ich wollte, ich wäre tot . . .«

»Um Gottes willen, Vera . . . was haben Sie denn?«

Sie schwieg.

»Ist Ihnen ein Unglück geschehen? . . . Nehmen Sie sich doch ein bißchen zusammen. Die Leute bleiben ja alle stehen und betrachten Sie . . .!«

Sie beachtete seine Worte gar nicht.

»Wozu bin ich denn eigentlich auf der Welt?« sagte sie. »Ich bin doch rein zu gar nichts nutze. Ich bin nur dazu da, mich und andere unglücklich zu machen. Sind Sie eben auch über die Schleuse gegangen . . .?«

»Ja. Aber . . .«

»Da hab' ich mir gedacht . . . aber es ist eben das Pech, daß Reetzow so nah an der Elbe liegt. Da hat Papa mich doch schon als kleines Mädchen schwimmen lernen lassen. Es würde gar nichts helfen, wenn ich da auch plötzlich einmal hineinspränge . . . oder sonstwo hin . . .«

»Vera . . . um Himmels willen!«

Sie senkte den Kopf und lachte plötzlich.

»Es ist ja auch nur so eine Idee!« sagte sie. »Ich tue es ja gar nicht! Ich denke nicht daran. Ich bin gar nicht so.«

»Das hoff ich!«

»Ich leb' gar nicht so furchtbar gerne! . . . Ich hab' nur so einen Trotz in mir! Ich will mich vom Leben nicht unterkriegen lassen, obwohl es sein Bestes dazu tut – nicht?«

Sie schaute ihn fragend, immer noch mit nassen Augen und einem spöttischen Zug um den Mund, an. Er antwortete nicht. Er war zu betroffen. Sie erschien ihm ganz fremd. Das war nicht ihre sonstige Schroffheit, ihre herbe und kühle Art. Diese Mischung von Weichheit und Hohn war ihm neu, als sähe er da tiefer in ihr Inneres als je zuvor.

Sie schien es auch schon zu bereuen, daß sie sich so hatte vor ihm gehen lassen. Sie sammelte sich. Ihr Antlitz nahm seinen gewohnten Ausdruck an.

Jetzt glaubte er selbst, er müsse diesem sonderbaren und gefährlichen Zusammensein ein Ende bereiten, und frug gedämpft: »Soll ich Sie nicht zu einer Droschkenhaltestelle bringen? Wollen Sie nicht nach Hause?«

Vera beachtete seine Worte nicht. Sie sagte rasch und leidenschaftlich: »Sie kennen mich doch genauer als alle anderen Menschen: Bin ich denn wirklich so? . . . Verdiene ich denn das? . . .«

Die beiden gingen mechanisch des Weges weiter, auf dem sie sich getroffen. Er schaute fragend zu ihr hin, und sie fuhr fort: »Muß denn das alles so mit mir sein? . . . Mein Kind fährt von mir in die Fremde . . . und ich laufe jetzt zu Gerson und lege die letzte Hand an meine Ausstattung . . . ich weiß nicht . . . bei mir kommt immer alles so wahnsinnig heraus – so anders als bei anderen Menschen . . . so herzlos . . . gerade entgegengesetzt, wie ich es meine . . .!«

Wieder quollen ihr die Tränen aus den Augen. Sie blieb stehen und trocknete sich mit ihrem Spitzentuch die Wimpern.

»Das dumme Geheule!« sagte sie. »Sonst behalte ich es bei mir! Da sieht es keiner, was ich Quälerisches in mir hab'! Angeboren. Es ist eine verwünschte Mitgift im Leben . . .«

Und während sie ihren Weg fortsetzten, meinte sie auf einmal: »Ich glaube, ich hätte jeden anderen Mann damals auch unglücklich gemacht – nicht nur Sie! . . . Ich war so angelegt. Es war ein Mißverständnis zwischen mir und dem Schicksal. Und an was kann sich da eine Frau halten? Nur an den Mann . . .«

Er erwiderte nichts. Er war zu überrascht von diesem plötzlichen Zugeständnis. Um sie beide her grünten die Sträucher und Bäume. Die Sonne schien in goldenen Lichtern hindurch. Selten kam ein Mensch vorbei. Sie schritten langsam dahin, und sie sagte unter ihrem weißen Sonnenschirm, der ihr schönes Gesicht beschattete: »Neulich, als Sie von mir weggingen, da hatt' ich das Gefühl: Es war mit auch meine Schuld, daß das seinerzeit so gekommen ist. Oder auch nicht. Ich kann nichts dafür. Ich habe so eine unbefriedigte Sehnsucht. Die trag' ich mit mir herum. Ich wollte von Kind an immer alles besser haben als andere Leute. Das ist mein Fehler. Und ich glaube, es war auch so viel Äußerliches dabei. Ich habe solch einen Ekel vor allem Kleinlichen. Und wenn man so wenig Geld hat wie wir damals . . . ich bin überzeugt: Wären Sie schon damals nach Ostafrika gegangen und hätten mich mitgenommen, ich hätte mich tapfer benommen wie ein Mann und mich vor Löwen und Wilden nicht gefürchtet! . . . Das ist lange nicht so schlimm, als selber Staub wischen und sich in der Wirtschaft mit einem einzigen Mädchen behelfen! . . . Die Sparsamkeit ist solch ein kleinbürgerlicher Heroismus . . . eine gräßliche Tugend! Ich mußt' sie ja üben, aber ich hielt sie nicht aus.«

Sie brach ab. Er lächelte bitter. Es kam ihm ja selber ganz unwahrscheinlich vor, daß diese elegante, luxuriös gekleidete Weltdame, die da neben ihm ging, die demnächstige Baronin und Millionärin, je die bescheidene Frau Infanterieleutnant Gisbert gewesen sei! Das war ein Wunder gewesen, das nur die Liebe fertig brachte, und war mit der Liebe geschwunden. Und trotzdem verletzte ihn diese oberflächliche Auffassung ihres gemeinsamen Unglücks. Er schwieg. Da sagte sie mit jenem ihm so wohlbekannten, melancholischen Lächeln, das zuweilen die klassische Strenge ihrer Züge erhellte: »Ja – nicht wahr .,. ich bin ein äußerliches Geschöpf? Das denken Sie sich jetzt. Aber vielleicht war das damals auch nur der Deckmantel für andere, unerfüllbare Ansprüche, die ich ans Leben stellte. Vielleicht bilde ich mir das nachträglich auch nur so ein. Wer wird sich über sich selber klar?«

Nein: Sie hatte da schon recht, mit ihrer Verschwendung! Sie hatte von vornherein einen junkerlichen Zug in die kargen und nüchternen Verhältnisse gebracht, in denen die Gisberts noch von Großvaters Zeiten her zu leben gewohnt waren, Schulden gemacht wie ein Edelmann und sich so wenig wie jetzt ihre Brüder, die Ulanenleutnants, darum gekümmert, wer sie zahlte. Lieber Gott – sie war ja damals auch eine junge Frau von kaum zwanzig Jahren gewesen! Mit einer Erbitterung gegen die Dumpfheit des Schicksals dachte er sich: An dem bißchen Geld mehr oder weniger ist unser Lebensglück zum guten Teil mit zerschellt, sind zwei Seelen aneinander gescheitert. Sie war von ihrer Familie zu einer großen Heirat erzogen und hingestellt. Sie sollte doch ganz Reetzow wieder flott machen! Man hatte sie absichtlich verwöhnt, damit ihre Wahl von selber auf einen reichen Mann fiele. Ich habe sie in eine viel zu enge Lebenslage geführt. Das Schicksal gibt einem immer nur die Hälfte dessen, was man braucht . . .

Mit einer spöttischen Resignation, die ihm selber, der sich reich vermählt hatte, so gut galt wie ihr, versetzte er: »Nun machen Sie ja eine glänzende Partie . . .«

Sie nickte.

»Ich bin ein Querkopf. Wie ich das vor zehn Jahren tun sollte, hab' ich mich in das Gegenteil verbissen. Jetzt, wo mich die Meinen schon als hoffnungslos aufgegeben haben, tue ich auf einmal meine Hand auf und überrasche sie mit dem goldenen Regen. Ich finde es ja auch selber ganz nett. Ich gebe furchtbar gerne viel Geld aus. Nur . . .«

Sie brach ab, fröstelte in sich zusammen und schwieg. Vor ihnen lag der weite Spiegel des Neuen Sees. Sie gingen langsam an dessen Ufer entlang. Er dachte sich, mit einem dumpfen Staunen: Wie kommt sie dazu, mir das alles zu sagen? Sie weiß doch von neulich, daß ich sie nicht mit gleichgültigen Augen ansehe. Sie muß es ahnen, daß sie noch so stark in meinem Leben ist wie je zuvor. Oder gibt ihr das vielleicht gerade Zutrauen, daß sie fühlt: hier fällt nichts auf steinigen Boden? Klammert sie sich an mich an, jetzt eben, wo ihr die Stunde der Entscheidung näher und näher rückt? Ist das auch stärker als sie? Muß sie mir das sagen, weil auch sie . . .?

Er konnte nicht weiter denken. Sein Herzschlag stockte. Ein Druck, halb Grauen, halb Jubel, benahm ihm den Atem. Inzwischen versetzte die junge Frau neben ihm: »Sie kennen ihn nicht, aber . . .«

»Wen?«

Sie zuckte die Achseln über die Frage.

»Herrn von Ulerici natürlich! – Aber er ist ein guter Mensch. Ich glaube, ich werde es leicht bei ihm haben! Ich erwähne das nur, weil Sie die ganze Zeit so ein Gesicht machen, als ob Sie mich bemitleiden wollen! Das haben Sie gar nicht nötig. Ich weiß ganz genau, was ich tue . . .«

Und mit einer Ausführlichkeit, die ihr sonst in solchen, von ihr von oben herab behandelten Dingen fremd war, begann sie zu erzählen, wie sie wohnen, wie sie sich einrichten, wo sie verkehren würden, und schloß wie zur Erklärung: »Ich hab' mit meinem inneren Menschen zu schlechte Erfahrungen gemacht. Dem trau' ich nicht mehr. Der macht nur Dummheiten. Ich will jetzt lieber das Äußere pflegen. Dazu ist jemand wie ich auch mehr geschaffen . . .«

Sie wurde nicht müde, von sich zu reden, so, als sei er der einzige auf der Welt, bei dem sich das lohne. Es war wie eine Schlußbeichte, die sie nicht mehr bei sich behalten konnte, wie eine letzte Absage an ihr bisheriges Leben, unter das sie nun den großen, dicken Strich der zweiten Ehe zog. Er hörte stumm zu und glaubte dabei immer einen wunderlichen Unterklang aus ihren eifrigen, halblauten Worten heraus zu vernehmen, so als müsse sie sich rechtfertigen und um Gottes willen verhindern, daß er etwa sich Sorgen um ihre Zukunft mache!

Er mußte finster darüber lächeln, in dem Zwiespalt, in dem er sich befand. Nun schloß sie – sie hatten inzwischen schon einmal den ganzen Neuen See umkreist und fingen ein zweites Mal an: »Wissen Sie, daß mir etwas fehlt, seit neulich? Es ist etwas aus meinem Leben weg, dadurch, daß wir uns ausgesprochen haben . . .«

»Der Haß gegen mich?«

»Das glaub' ich nicht! – Das war es kaum mehr. Früher wohl. Schließlich: Wenn glückliche Leute ihren Halt im Leben an der Liebe haben, warum nicht unglückliche am Haß? Wenn man nur überhaupt etwas hat, etwas Wirkliches . . . etwas, wovon man voll ist. Das gibt einem das innere Schwergewicht! Aber so ganz mit leeren Händen dazustehen . . . Sie haben mich neulich eigentlich viel ärmer gemacht, mit Ihrer Friedenstifterei . . .«

»Das bilden Sie sich doch nur ein, Vera!«

»Doch! Man muß das Gefühl haben: irgend etwas auf der Welt ist einem eigen! Ein Schmerz oder . . . nun wird einem das nachträglich auch noch genommen! Es ist schrecklich, wenn um einen herum nichts mehr ist – aber auch rein gar nichts mehr – rächt in der Vergangenheit . . . nicht in der Gegenwart . . .«

Von der Zukunft sprach sie nicht. Aber er konnte sich denken, was sie dachte. Wenn man den Freiherrn von Ulerici einmal gesehen hatte, wußte man genug. Er hatte eine heiße Lust, diesen behäbigen, gutmütigen Mann durch einen Druck auf einen Pistolenhahn in das Jenseits zu befördern, ehe er seine täppische, seine verständnislose Hand auf dies schöne, leidenschaftliche, widerspruchsvolle Kleinod der Schöpfung, diesen Edelstein da neben ihm, legte! Es zuckte ihm in den Fingern. Er frug sich: Was mache ich denn da überhaupt? Träume ich oder gehe ich da wirklich mit meiner geschiedenen Frau, am helllichten Tag, allen bösen Zungen zum Trotz spazieren? Das heißt doch wirklich das Schicksal offenkundig herausfordern . . .

Dabei schritten sie doch noch immer nebeneinander her. Keiner von beiden hatte jetzt den Mut oder die Kraft, sich von dem anderen zu trennen. Sie waren wie durch einen fremden Willen zusammengebannt. Eine Weile hatten sie geschwiegen. Nun sagte Vera mit Überwindung: »Ich weiß, ich bin heute anders wie sonst! Verargen Sie mir meine plötzliche Kameradschaftlichkeit nicht. Sie kommt aus einem gequälten Herzen. Ich bin so trostlos einsam auf der Welt. Ich bin ein Mensch, der offenbar nie seinen richtigen Platz findet. Ich hab' einmal gelesen: ›Glück und Unglück sind nur Eigenschaften!‹ Das gilt auch von mir. Ich hab' entschieden das Talent, unglücklich zu sein! Immer lang' ich nach mehr, oder nach etwas anderem, als mir beschieden ist, und stoße mich an den Dingen wund. Und helfen kann mir keiner. Und trotzdem hab' ich eine Bitte!«

»An mich?«

»Ja. Erzählen Sie mir ein wenig von sich! Wie es Ihnen jetzt geht. Innerlich, mein' ich! Daß Sie's nach außen hin gut haben, das ist mir ja bekannt. Aber wir möchten doch beide voneinander wissen, was aus uns geworden ist, wo wir uns doch von heut ab nicht mehr wiedersehen. Es ist ja schon wahnsinnig genug, daß wir uns hier zusammen zeigen! Wir liefern den Leuten ja den Klatsch direkt in die Mäuler. Ich wundere mich die ganze Zeit, daß Sie es tun. Mir ist es gleich. Mich wandelt manchmal solch eine unwiderstehliche Lust an, irgend eine Dummheit zu machen, den anderen zum Trotz. Das kennen Sie ja von früher . . .«

Er nickte halb lächelnd. Sie fuhr fort: »Ich bin ja ohnedies jetzt so gräßlich vernünftig. Ein bißchen Unvernunft muß mal dazwischen sein – sonst ist das Leben gar nicht zu ertragen, für eine Natur wie mich. Und zudem: – in sechs Tagen geht es ja doch in den goldenen Käfig! . . . Schauen Sie mich nicht so an, als redete ich da Frivolitäten! Es sollen keine sein. Es geht mir nur so vieles im Kopf hin und her. Wir wollen gar nicht mehr von mir reden. Sagen Sie mir etwas von sich!«

»Was ist da viel zu sagen?« versetzte er. »Ich habe mich eingerichtet, wie es alle Leute tun. Ich lebe mein Leben. Es geht alles still seinen Gang!«

»Früher haben auch Sie an Wunder geglaubt!« murmelte Vera. Sie waren jetzt wieder am Ende des Neuen Sees gegenüber der Löwenbrücke angekommen und blieben stehen und sahen auf die weite Wasserfläche, in der die begrünten, überhängenden Baumriesen des Ufers und die weißen Frühlingswolken am Himmel sich spiegelten, und er erwiderte: »In meinem Leben sind die Wunder ausgestorben. Das ist auch ganz gut so! Ich bin bescheiden geworden, seit wir uns getrennt haben, Vera! Ich glaube, es liegt ein gutes Stück Selbstüberschätzung in der Sehnsucht nach allzuviel Glück oder Unglück . . .«

»Ja. Sie sind offenbar sehr klug geworden!« sagte sie. Sie gab sich gar nicht Mühe, einen schwermütigen Spott zu verhehlen. Nach einer Pause setzte sie seufzend hinzu: »Hoffentlich werde ich auch einmal wie Sie! Das heißt, eigentlich fürchte ich mich davor . . .«

In ihm regte sich ein Ärger über sich selber. Was er da gesprochen, war nicht wahr! Es war nur eine instinktive letzte Abwehr gegen die Gefahr gewesen, die auf einmal so jäh wie ein Feuerschein vor ihm leuchtete – die Gefahr, daß sie beide sich zu gut verständen! Er fühlte wohl: Seine Worte klangen resigniert und nüchtern gegenüber dem heißen und ungestümen jungen Herzen, das an seiner Seite schlug. Aber er konnte dies Ahnen einer leisen Entfremdung, das wieder zwischen ihnen aufstieg, nicht bannen. Er wollte nicht. Sie mußten ja auseinander . . .

Die leise Enttäuschung äußerte sich bei ihr nur in ihrer wiedergewonnenen Ruhe. So sagte sie: »Verzeihen Sie mir meine Neugier! Ich wollte ja bloß wissen, wie Sie sich mit dem Leben abgefunden haben . . . ich bin manchmal so müde vom Leben . . . danken Sie Ihrem Schöpfer, daß Sie keine Frau sind! Wir haben's wahrhaftig manchmal viel schwerer . . .«

Damit streckte sie ihm gleichmütig die Rechte entgegen.

»Und nun also viel Glück für die Zukunft . . .«

»Ihnen auch, Vera.«

»Und Ade für immer!«

Er fühlte ihren kräftigen Händedruck. Es war ganz ihre frühere, herzhafte Art. Dann wandte sie sich ab und ging. Der Tiergartenstraße zu. Er sah zwischen den Bäumen ihre hohe, schlanke, straff und elastisch schreitende Gestalt. Sie schaute nicht rechts und links. Es war, als blickte sie bewußt und geradeaus vor sich, in ihr neues Dasein hinein. Noch einmal tauchte der Schein der rosa Ärmel in der Wegbiegung auf. Dann war sie verschwunden.

Als er daheim war in der Einsamkeit seines Strohwitwertums, in den stillen Zimmern, in denen auch nicht mehr das Lachen und Springen seines Töchterchens Karla erklang, da erfaßte ihn plötzlich mit einer wahren Verzweiflung der Gedanke: Nein! So geht das nicht weiter! Das treibt alles unaufhaltsam dem Unheil zu. Die Versuchung weicht nicht. Sie wird immer von neuem aufwachen, solange ich und Vera von Vogt oder Vera von Ulerici die gleiche Stadt bewohnen. Das Schicksal wird immer wieder Mittel und Wege finden, uns beide geschäftig wie ein Kuppler zusammenzuführen. Gute Freunde, böse Zungen werden das übrige tun . . .

Und das schlechte Gewissen schläft nicht. Er ging in seinem Gemach auf und nieder und ballte die Hände und sagte sich: Morgen kommt Otti zurück! Harmlos und heiter wie immer. Sie ist ein guter und anständiger Mensch. Ich habe sie lieb. Aber wie kann ich ihr ins Gesicht sehen, wenn ich sie immer und immer wieder mit meinen Gedanken an die andere verrate? Das macht mich ja verrückt! Wie halte ich das auf die Dauer aus?

Er blieb jäh stehen: einen Ausweg gab es! Auf einmal sah er das blaue Meer vor sich, den weißen, eintönig rauschenden und rollenden Gürtel der Brandung am Ufer, darüber, hinter gelben Dünen die Büschelkronen der Palmen – er war doch schon einmal draußen in der weiten Welt gewesen. Er konnte auch wieder hinaus und alles hinter sich lassen.

Blindlings, in einem förmlich willenlosen Entschluß setzte er sich an seinen Arbeitstisch, kramte einen vorschriftsmäßigen Bogen in Privatdienstformat heraus und schrieb einen Brief an den Oberst seines Regiments.

Der Anfang ging rasch:

»Hochwohlgeborener Herr!

Hochzuverehrender Herr Oberst und
Regimentskommandeur!

Euer Hochwohlgeboren erlaube ich mir ganz gehorsamst folgende Anfrage zu unterbreiten.«

Da stockte er schon. Aber er besann sich und fuhr fort:

»Würde es Euer Hochwohlgeboren genehm sein, wenn ich mich, zunächst außerdienstlich und unter der Hand, hier in Berlin danach erkundigen würde, ob für mich eine Aussicht auf Wiederversetzung in eine unserer Kolonialtruppen besteht, und würden Euer Hochwohlgeboren geneigt sein, ein derartiges Gesuch höheren Ortes zu befürworten? Ich ginge überall hin, auch nach Kamerun.«

Er machte eine Pause, nahm noch einen Anlauf und schrieb, schon mit sinkender Kraft:

»Ich bin mir der Auszeichnung voll bewußt, die mein hiesiges Kommando für mich bedeutet, und in hohem Maße dankbar dafür. Aber ich glaube und fühle es jeden Tag mehr, daß ich für den Bureaudienst weniger geeignet bin und ihm geringere Lust und Liebe entgegenbringe als der praktischen Betätigung vor . . .«

Da ließ er die Feder sinken und dachte sich: ›Lüge du nur zu! Lüge auch deine Vorgesetzten an, wie du deine Frau und die Deinen anlügst! Sehr zufrieden wärest du hier in Berlin, wenn Dinge anders lägen, die mit deinem Dienst und mit den deutschen Kolonien nicht das geringste zu tun haben!‹ – Dinge, die man nicht schreiben, höchstens im Gespräch ahnen lassen konnte, und auch das nur einem anderen Mann gegenüber als gerade diesem in seiner Art wohlwollenden, aber trockenen und hölzern-pedantischen Oberst, der derlei doch nie in seinem Leben begriff. Der hatte noch vor einem halben Jahr, in Georg Gisberts Anwesenheit, bei einer ganz anderen Gelegenheit hoch vom Roß herab zu dem versammelten Offizierkorps gefügt: »Nee, meine Herren . . . im Dienst Seiner Majestät jibt's nichts von Lenz und Liebe! Was würde denn aus der Armee, wenn wir alle jleich bei jeder Herzensaffäre wie die Lerchen in die Höhe jehen wollten?« Nein – mit dem Oberst war nichts zu machen.

Der Hauptmann Gisbert zerriß sein angefangenes Gesuch und warf es in den Papierkorb und holte es wieder hervor, weil er fürchtete, es könne jemand die Fetzen lesen, und verbrannte die in dem Ofen. Während er vor den züngelnden Flammen kniete, dachte er sich: ›Ich kann nicht von hier weg in die Kolonien wie einst. Es wäre unrecht. Ich bin nicht mehr frei. Ich hab' jetzt Weib und Kind . . .‹ Und als ein Gluthauch wehte es ihm aus dem feurigen Ofen entgegen: ›Lüge nicht schon wieder! Belüge nicht auch dich! Nicht wegen Weib und Kind bleibst du hier, sondern weil du dich von ihr nicht trennen kannst! Du mußt in ihrer Nähe bleiben. Du bist wie die Motte am Licht. Du hast keinen Willen mehr . . .‹



 << zurück weiter >>