Rudolph Stratz
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Rudolph Stratz

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XII.

Das niedere und bescheidene Herrenhaus von Neetzow, in dem die Vogt schon seit zweieinhalb Jahrhunderten wirtschafteten, lebten und starben und wiederkamen, zeigte jetzt an solch hellen Juniabenden seinen altfränkischen, ein wenig melancholischen Reiz, wenn Flieder und Rosen im Garten blühten und dichtes Baumgrün die morschen Mauern überschattete, daß nur der Giebel über die Parkwipfel hinaus in die Altmark ragte. Die dehnte sich ringsum, flach und eintönig, von Edelhöfen übersät, ein Stück Altpreußentums, noch mancher Weg und Steg, auf dem der Deichhauptmann von Bismarck dereinst nach seinem nahen Schönhausen geritten. Dort unten streckte sich weithin der Damm der Elbe. Der breite Strom, mit seinem hohen Ufer drüben, seiner Niederung hier, war es, der neben Bismarcks Schatten der nüchternen Gegend etwas Gewaltiges gab, sie aus der Alltäglichkeit des Flachlandes heraushob, wenn er auch jetzt sommerlich ruhig in seinem tiefen Bett dahinflutete. Auf dem Überschwemmungsland stand das Gras bis zu einem Drittel Manneshöhe, die Heuernte war in vollem Gang, und Vera von Vogt, die gegen Abend eine einsame Wanderung über die Felder gemacht hatte, sah von oben her überall trotz der achten Stunde die hochbeladenen Wagen, die bunten Kopftücher der Sachsengängerinnen, das lustige Wirbeln der halbtrockenen Halme hinter den eilig rollenden Graswendern. Es war Not am Mann, den Segen heimzubringen. Der alte von Vogt auf Neetzow hielt seit ein paar Tagen von Sonnenaufgang bis zur Nacht zu Pferde hinter den Seinen wie ein Feldherr in der Schlacht. Auch jetzt konnte Vera seinen hageren, vornübergebeugten Schattenriß auf dem mageren, hochbeinigen Klepper in der Ferne deutlich vor dem glühenden Abendrot unterscheiden, das Roß und Reiter gespenstig groß erscheinen ließ, und dachte sich im Weitergehen: ›Ich bin gespannt, wann Papa sich entschließen wird, ein Wort mit mir zu sprechen! Vier Wochen sind's doch nun schon her, daß ich wieder hier bin, ohne daß er sein Schweigen gebrochen hat . . .‹

Sie hatte sich einen großen Feldblumenstrauß gepflückt. Den trug sie in der Hand. Ihr weißes, einfaches Kleid leuchtete über die Wiesen. Um sie war der süße, schwere Duft der Sommerblüte, ein tausendfaches Schwirren und Zirpen im Grase, trotz des Abends, sonst tiefe Stille, und in ihr das schläfrige, einlullende Behagen jener Zeit, in der die Sonne am höchsten am Himmel steht, die Nächte am kürzesten, die Tage heiß sind. Sie sagte sich: ›Eigentlich schlaf' ich ja immer – nicht des Nachts – da lieg' ich wach und hör' draußen die Katzen schreien und die Kühe im Stall an den Ketten klirren, und manchmal sogar wirklich die Nachtigall im Garten schlagen – aber bei Tag – da schlaf' ich mit offenen Augen, beim Essen und Trinken, im Gehen und Stehen, im Reden und Schweigen . . .‹

Dabei fühlte sie deutlich: ›Das bin nicht ich! Ich sehe mich da wie einen anderen Menschen. Aber ich werde mich hüten, mich zu erwecken! Daraus ist noch nie etwas Gutes für mich und meine Umgebung gekommen . . .‹ und zugleich war sie doch gespannt, wie lange dieser Traumzustand der Erschöpfung nach Berlin wohl dauern möge, und sagte sich: ›Es ist ja bequem, wenn man seine Seele so an den Nagel hängen und in warmer Luft und Vogelgezwitscher unter blauem Himmel spazieren gehen kann. Aber die Wolken werden auch einmal grau, die Vögel ziehen gen Süden, die Tage werden kalt – das Leben – das unerbittliche Leben kommt wieder . . .‹

Das Herrenhaus von Neetzow, in dessen dämmerigen Flur sie eintrat, war still und öde. Voll nur von Erinnerungen. Lebende Menschen wenig mehr darin. Die Türen der Zimmer, an denen die junge Frau auf dem langen Korridor vorbeikam, waren fest geschlossen. Wer darin gewohnt, hatte längst ein anderes Heim gefunden, sei es in der Welt draußen, sei es unter dem Rasen. Hier in diesen Gemächern hatten die Großeltern gelebt. Vera entsann sich ihrer noch dunkel aus ihrer frühesten Kindheit – zwei steinalte Leutchen, die ganz kurz nacheinander gestorben waren. Über diese Schwelle hatte man ihr jüngstes Schwesterchen, das nur sechs Jahre alt geworden, zu Grabe getragen, über jene vor fünf Vierteljahren Veras Mutter. Da waren die Stuben, in denen die drei Brüder mit dem Erzieher gehaust – wie oft hatte sie mit dem, einem knochigen westfälischen Theologen, und den Jungen als Kind im Garten getollt – da wohnte die Schwester Anna, ehe sie das Schicksal bis an die russische Grenze verschlug – alles fort – alles in die vier Winde verweht.

So wie hier, so leerten und füllten sich auf allen Edelhöfen im Lande die Häuser in regelmäßigen Zwischenräumen, im Gehen und Kommen der Generationen. Aber hier blieb vielleicht alles leer, und sie, Vera, ganz allein zurück. Sie sah sich schon durch die verlassenen Räume schreiten, hoch, grauhaarig und verwittert, von zahmen Katzen gefolgt, wie eine Art Ahnfrau. Sie lachte bei dem Gedanken, während sie sich zur Tafel umzog. Auch gut so. Vorläufig war ihr alles auf der Welt gleichgültig.

Ihr Vater dankte stumm auf das: »Guten Abend, Papa!«, mit dem sie sich ihm gegenüber an den Tisch setzte. Die ganze Mahlzeit verlief im tiefsten Schweigen. So war das immer, seit sie heimgekehrt. Sie war schon daran gewöhnt. Sie dachte sich nur: ›Papa hat's gut! Den Tag über wettert er sich auf dem Felde stockheiser! Dann ist's kein Kunststück, sich abends nach Noten auszuschweigen! Aber ich – wenn ich mich nicht noch entschließe und mich mit der Mamsell über Räucherwurst und Putenzucht unterhalte, so werde ich hier der reine Trappist!‹

Neben dem alten von Vogt auf Neetzow lagen zwei Briefe. Die hatte er schon mitgebracht und las sie während des Essens noch einmal, was ganz gegen seine guten Sitten war, und nach Tisch wieder und schob sie ihr dann anscheinend gleichgültig über das Tuch hin. Es zuckte auf seinem hundertfach gefältelten, von Wind und Wetter braun gebrannten Gesicht, während er sich bedächtig eine Zigarre anbrannte. Sie merkte, sie sollte die Briefe lesen. Sie erkannte die Handschrift ihrer beiden Brüder, Ewald und Dietloff, und kam gleich, wie sie nach den Schreiben griff, auf die richtige Vermutung: Schulden . . . Schulden . . . alle drei . . . in Bonn und Hannover!

Ewald berichtete auch im Namen des anderen Ulanen. Die jungen Leute waren übereingekommen, es dem Vater gleichzeitig beizubringen, damit sich sein Zorn auf alle drei verteile. Sonst galt das Sprichwort: »Den letzten beißen die Hunde!« Sie hatten ja sämtlich bisher ganz solide gelebt und nun alle die gleiche Entschuldigung: – den bombenreichen künftigen Schwager, der ihnen wiederholt in seiner gutmütigen Art gesagt hatte: »Kinders – 's kommt mir auf die paar Kröten nicht an! ich tue euch gern mal 'nen Gefallen!« und der nun wie eine Luftspiegelung verschwunden war. Vera war an allem schuld! Welcher Christenmensch konnte denn im hitzigsten Fieber ahnen, daß sie sich im Brautkleid noch entloben würde . . .?

Während sie las, hatte Otto Leberecht von Vogt sich den Inspektor und den Förster kommen lassen und sagte zu dem ersteren nur: »Na, Bennemann, – für heute ist nu weiter nischt, als daß mir alles morgen zeitig auf dem Posten ist! Heute war's schon wieder beinah halb vier! Die Kerle sollen losmähen, sowie sie überhaupt im Morgengrauen die Sense erkennen können. Ich bin morgen selbst draußen. Wir müssen uns dies Jahr höllisch dran halten. Höllisch! . . . Gute Nacht!«

Dann wandte er sich an den stramm stehenden Förster, kaute an seinem grauen Schnurrbart und sagte in seltsam trockenem Ton: »Ja, Krause . . . bisher hab' ich noch immer gedacht, ich dreh' mich dran vorbei! Aber nun hilft's nischt: unsere Mönchsforst muß herunter! . . .«

Die Mönchsforst war der Stolz des Gutes. Ein Waldbestand von fünfzig- bis hundertjährigen Fichten, unter deren Geäst ganze Generationen der Vogts auf Neetzow gewandelt waren. Der Alte widersprach gereizt dem Förster, der sich gar nicht geäußert hatte, sondern nur erschrocken zusammengezuckt war: »Nee – nee – lieber Krause – das verstehn Sie nicht! Ich hab' drei Filii draußen! Und ich hab' . . .«

Er warf einen finsteren Blick nach Veras Stuhl. Sie hatte schon bei seinen ersten Worten das Zimmer verlassen und kam erst wieder, als der Förster weg war. In der Hand trug sie einen weißen Briefumschlag, legte ihn vor ihrem Vater hin und sagte: »Nun nimm doch schon die viertausend Mark, Papa! Deswegen hab' ich doch noch schnell vor der Abreise in Berlin meinen Schmuck verkauft, weil du unnütz so große Ausgaben mit mir gehabt hast! Ich bitt' dich doch alle paar Tage drum! Ich brauch' ihn doch wahrhaftig nicht!«

Der Alte schob ihr das Kuvert wieder zu.

»Ach, behalte du dein Geld!« versetzte er grämlich. Aber er sprach doch wenigstens. Das gab ihr Mut, und sie bat: »Nimm nur! . . . Ich hab' ja jetzt alles im Überfluß! – Auf Gott weiß wie lange! Wo soll ich überhaupt hin mit all den Sachen?«

»Ja – nicht wahr?« sagte ihr Vater und stand auf. »Jetzt, wo der Milchtopp entzwei ist, geht das Geklöne los! So warst du immer. Vorgetan und nachbedacht! . . . Nichts wie Sorgen und Kummer hab' ich mit dir – seit zehn Jahren! . . . Nu wieder die Briefe von den Bengels! . . . Ich kann sie nicht einmal recht schelten! . . . Wenn man eine Verrückte zur Schwester hat . . . Ich bin ja auch auf dich 'reingefallen, ich alter Esel! . . . Ich steh' blamiert da! Der Ankauf von Birkenhagen und Klein-Züst war ja schon halb perfekt – Der Ulerici gab's Geld – Da hatten wir die alten Familiengüter wieder beisammen . . . Und nun . . .«

»Ihr kommt nicht davon los, daß ich so eine Art Tauschobjekt bin!« sagte Vera und steckte das Geld, das ihr Vater nicht haben wollte, wieder ein.

»Nein, mein Kind, es handelt sich nicht um uns, sondern um dich selbst! . . . Denke doch mal: Wie schön säßest du jetzt in der prächtigen neuen Wohnung in Berlin, In den Zelten . . .«

»Gott sei Dank, daß ich da nicht bin!«

Der alte Vogt-Neetzow sah sie mißtrauisch an und schüttelte den Kopf.

»Deine Wetterwendigkeit – da ist auf den Hahn auf unserem Kirchturmknopp noch mehr Verlaß! – Sag mal: stellst du dich nun so töricht, oder bist du wirklich ganz vergnügt? . . .«

»Gott . . . vergnügt . . . Papa . . . ich danke nur meinem Schöpfer, daß es so ausgegangen ist und nicht anders!«

»So! Und warum hättest du denn mit dem Ulerici nicht auskommen können – wenn man sich schon so die Hörner abgelaufen hat wie du? . . . Ich war auch vierzehn Jahre älter als deine Mutter und bin auch kein Kirchenlicht – genau wie der Ulerici – und sie war doch mit mir zufrieden! Das liegt alles an dir!«

»Ich widerspreche ja auch gar nicht! Ich halte ja zu allem still, was man sagt!«

Der alte Junker ging, seine Zigarre rauchend, durch das Zimmer und warf ab und zu einen Blick auf seine schöne Tochter, die, die Hände im Schoß, vom Lampenlicht hell beschienen, ruhig auf einem Stuhl saß. Endlich blieb er stehen und versetzte gereizt, als müsse er ihr ins Wort fallen: »So? Und was nu weiter? . . . Die Partie ist nun heidi! . . . Und die nächste . . .? Ja, dem ersten Mann entlaufen – dem zweiten vor dem Standesamt davon – da möcht' ich mal den dritten sehen, der's wagt! . . . Wenigstens aus unseren Kreisen! Nun schau du mal, daß sich vielleicht noch irgend ein Pastor deiner erbarmt!«

Vera mußte lachen.

»Ich und 'ne Pastorsfrau!« sagte sie. »Papa – das hieße doch nun wirklich den Bock zum Gärtner machen!«

»Dann heirate 'nen Inspektor!« schrie der Alte wütend. »Alles schon dagewesen! . . . Töchter, die ihren Eltern Kummer machen, hat's immer gegeben, und sie haben's noch immer bereut! . . . Wen willste denn nu schließlich zum Mann?«

»Ich hab' noch mit keiner Silbe gesagt, daß ich je wieder heiraten will, Papa! Im Gegenteil. Ich bin fest entschlossen, es nicht zu tun! Ich hab' jetzt genug davon!«

»Ich leb' aber nicht ewig, meine Tochter! Über kurz oder lang komm' ich mit den Füßen voran aus dem Haus! Willst du dann hier verhutzeln?«

»Ja.«

Der Trotz ihrer Antwort verblüffte ihn. Er meinte langsam: ». . . Geld haste nicht mehr! Dein Kommißvermögen hast du in den paar Jahren deiner Ehe zum größten Teil verjuxt – wie, ist eigentlich jetzt noch ein Rätsel . . .«

»Herrgott ja, Papa . . . ich weiß ja, daß ich leichtsinnig in Geldsachen bin . . .«

»Der Rest und mehr ist auf deine zweite Aussteuer draufgegangen . . . Also mußt du hier so durchgefüttert werden, wenn sich die Jungen mal hier ihren Hausstand gründen . . .«

»Ich kann mich doch auch nützlich machen . . .«

»Jawoll! . . . Pilze trocknen und Himbeergelee einmachen . . . na . . . ich bin ja dann tot . . . ich brauch' es nicht mehr zu essen . . . aber die anderen tun mir leid . . . du verstehst ja die blaue Bohne vom Wirtschaften . . . du warst ja immer 'ne Prinzessin! Du hast ja doch nur dagesessen und gewartet, bis einer sechsspännig um die Ecke kommt . . . Nu sprich mal selbst: wie denkst du dir denn eigentlich deine Zukunft?«

»Gar nicht, Papa!«

Ihr Lächeln erzürnte ihn. Er hob die Hand: »Sei ernst! Gib dir keine Mühe, dich zu verstellen! Du hast ein schlechtes Gewissen – weißt es auch! Und weil du's weißt, gehst du am liebsten über dich selber zur Tagesordnung über. Nur alles so obenhin abmachen, wie's dir gerade einfällt, das paßt dir! Da brauchst du nicht erst zu untersuchen, was eigentlich in dir da drinnen steckt! . . . Da hast du Angst davor . . . Da denkst du lieber drum herum und betrügst dich und andere. Aber ich hab' dich jetzt lang' genug beobachtet! Ich will dich jetzt einmal auf Herz und Nieren prüfen . . .«

Vera schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. »Bitte, schone mich, Papa,« sagte sie schroff. Aber ihr Vater stellte sich einfach vor die Türe.

»So haben wir nicht gewettet, mein Kind! Vier Wochen hab' ich geschwiegen. Jetzt red' ich! . . .«

»Über was denn – um Gottes willen . . .?«

»Über das, was der Grund von all deinen Verrücktheiten ist . . . Vielleicht wird's besser, wenn wir mal das Gespenst aus der Nähe beschauen!«

Die junge Frau sah, daß sie sich den Ausgang nicht erzwingen konnte. Sie trat an die Wand gegenüber zurück. Sie vermochte ein plötzliches heftiges Zittern nicht zu unterdrücken. Ihre Stimme klang gepreßt, als sie sagte: »Rede . . . Papa . . . wenn du durchaus mußt . . . Aber erwarte, bitte, nicht, daß ich dir irgendwie antworte!«

»Ich will nicht reden, sondern dir etwas zeigen!« Der alte Landjunker ging an den Bücherpult neben der Türe. Da standen die vergilbten Klassiker, die Rang- und Quartierliste – vornean die Bibel. Auf der lag kein Stäubchen. In ihr las er oft. Er nahm sie heraus und schlug sie auf, während er sich bedächtig den Zwickel vor den greisen Augen zurechtrückte: »Kennst du noch das Buch Moses, meine Tochter? Die zehn Gebote? . . . Siehst du – hier heißt's: ›Laß dich nicht gelüsten deines Nächsten Weibes!‹ . . . Das gilt für dich, aber umgekehrt: ›Laß dich nicht gelüsten des Mannes deiner Nächsten . . .‹ auch wenn es einmal dein eigener Mann war! Du hättest ihn ja behalten können! Warum bist du von ihm weg? . . . Und warum willst du nun wieder zu ihm?«

Vera war ganz fahl geworden. Sie sah den Vater mit starren Augen an. Er fuhr fort: »Du hast mir hier meinen ganzen Krempel ruiniert – ich fahr' in die Grube und hinterlass' Neetzow gerade so verschuldet, wie ich's von meinem Vater übernommen hab' . . . Ich dank' dir schönstens dafür, meine Tochter, aber dann erlaube mir dafür auch einmal ein Wörtchen Deutsch!«

Der Alte hatte seine hagere, schmächtige Gestalt aufgereckt. Er stand steif und starr vor der Türe und sperrte den Ausweg. So sagte er laut und drohend: »Du liebst deinen früheren Mann!«

Das Wort hallte an den niederen Wänden wider. Vera schwieg. Sie zitterte immer stärker. Er wiederholte: »Du liebst deinen früheren Mann!«

Sie stöhnte leise auf, hielt sich die Ohren zu und wich in einer plötzlichen Todesangst vor ihm zurück. Er folgte ihr mit geschwungener Bibel. Er trieb sie vor sich her bis in die Ecke und schrie, als sie da verstört stehen blieb, weil sie nicht weiterkonnte: »Halt! Und die Hände runter! Dir sollen die Ohren klingen! Hier wird jetzt Farbe bekannt! Ich würde mich schämen, so davonzulaufen! Hab wenigstens den Mut und sieh mir ins Gesicht!«

Sie tat es nicht. Sie schaute bebend zu Boden. Er tobte auf einmal los. Aller Ingrimm seiner enttäuschten Hoffnungen entlud sich.

»Hier in dem Hause war Zucht und Ordnung! Seit Generationen! Hier haben christliche Hausväter das Regiment geführt, wie ich selber einer bin, und haben ihre Kinder in Gottesfurcht und Ehrbarkeit erzogen! Hier ist nie jemand geschieden worden! Hier hat sich nie eine Frau zur Liebe zu 'nem verheirateten Mann vergessen . . .!«

Veras Augen wichen, einen Ausgang suchend, irr durch das Zimmer. Die flachen Hände hielt sie an die Wand hinter sich gepreßt. An der und gegenüber und über der Türe hingen verdunkelte Bilder der verstorbenen Vogte auf Neetzow, Männer und Frauen, und all die Ahnen blickten abweisend steif und ehrbar auf sie herunter, und sie schwieg, und der Alte keuchte weiter: »Durch dich ist ein unreiner Geist in dies Haus gekommen! Ich hätte dich am liebsten gar nicht wieder aufgenommen! . . . Aber eine Frau wie dich draußen in der weiten Welt zu lassen – die Verantwortung könnt' ich nicht übernehmen! Ich hab' dir das Vaterhaus wieder geöffnet. Da magst du bleiben! Aber tue Buße – das sag' ich dir nur . . . tue Buße . . .«

Jetzt hatte sie sich von ihrem ersten betäubenden Schrecken erholt. Die Ungerechtigkeit seiner Vorwürfe empörte sie. Sie richtete sich auf und stieß zwischen den Zähnen hervor: »Wofür?«

Da er sie verblüfft ansah, daß sie überhaupt zu reden wagte, fuhr sie atemlos fort: »Was hab' ich denn verbrochen? Das möcht' ich nur wissen! Was ich denke und fühle, ist meine Sache. Das geht niemand etwas an. Aber getan hab' ich nie etwas! . . . Im Gegenteil – ich hab' ihn von mir gewiesen, wo ich nur konnte! . . . Ich hab' ihm gesagt: ›Gehen Sie zu Ihrer Frau! . . .‹ In meiner Wohnung haben wir vor vier Wochen für immer voneinander Abschied genommen! Herrgott im Himmel!« Ihre Leidenschaft brach durch. »Was soll ich denn mehr tun? Ich bin doch schon verzweifelt und elend genug! Was wollt ihr denn noch von mir?«

Otto Leberecht von Vogt hob wieder die Bibel.

»Die Leviten will ich dir lesen!« schrie er. »Es tut not. Denn du bist verstockt! Du bist hoffärtig in deiner Sünde! Du bist . . .«

»Bitte, Papa . . . fuchtele mir doch nicht immer so mit dem Buch vor dem Gesicht herum! Ich versteh' dich auch ohne das! . . . Und auch, wenn du leiser sprichst . . .«

Der Alte ließ die Bibel sinken und versetzte gedämpft und drohend: »Du rühmst dich, du seist nicht schuldig! Hier steht geschrieben: ›So einer ein Weib anschaut, ihrer zu begehren, so hat er schon die Ehe mit ihr gebrochen in seinem Herzen!‹ – Dies furchtbare Wort, mein Kind, dies Donnerwort unseres Herrn und Heilands – das trifft umgekehrt auf dich! Oder willst du es leugnen? Du hast deinen früheren Mann angeschaut – du hast seiner begehrt in deinem Herzen . . . du tust es jetzt noch und machst dir und uns hier alles kaput – nein – davon will ich jetzt nicht reden, . . . nur von deinem Seelenheil . . .«

»Das laß meine Sorge sein! Was auch gewesen ist – ich war stärker! . . . Mehr sag' ich dir nicht . . .«

»Ja. Das fehlte noch, daß noch mehr passiert wäre! . . . weiß Gott . . . es ist so genug . . . es ist ein Scheuel und Greuel . . .« Der alte Mann umklammerte mit seinen mageren Fingern das schwarze Buch, das er vor dem Leib hielt. Er brach ab und schloß, um eine Kleinigkeit milder: »Ich hab' jeden Abend, seit du wieder hier bist, für dich gebetet. Du bist doch schließlich meine Tochter. Vielleicht hilft's! Wir haben nun genug geredet für heute! Gib mir nur die Hoffnung, daß ein Körnchen davon bei dir auf fruchtbaren Boden gefallen ist . . .«

Er schwieg und wartete. Er kannte dies eigentümlich leblose Gesicht an Vera, wenn sie sich völlig in ihr Inneres zurückzog. So sagte sie gleichgültig: »Gut, daß du zu Ende bist! Wir wollen schlafen gehen, Papa! . . . Du mußt ja morgen doch so furchtbar früh hinaus ins Heu . . .«

Der alte von Vogt auf Neetzow legte die Bibel weg und rang die Hände.

»Und das ist alles, was du mir nach einer solchen Unterredung zu sagen hast?«

»Es war wohl eigentlich kaum eine Unterredung, Papa! Du hast gesprochen, und ich hab' zugehört . . .«

». . . und du hast dir kein Sterbenswörtchen davon zu Herzen genommen?«

»Gute Nacht, Papa!«

Der alte Mann erwiderte nichts. Er stand bocksteif da und rührte sich nicht und sah sie nicht an. Vera wußte: Nun war wieder das große Schweigen zwischen ihm und ihr – wochen-, vielleicht monatelang. Er war zähe in solchen Dingen. Sie drückte leise die Klinke ins Schloß und ging den Flur entlang. Das Haustor stand offen, um etwas von der Kühle des Sommerabends hereinzulassen. Draußen lockte der Vollmond. Ihr bangte vor der Schwüle und Enge ihrer Zimmer. Sie trat in den Garten und durchschritt ihn, bis sie drüben die Weite der Wiesen um sich sah. Ihr Herz klopfte immer noch in rasenden Schlägen. In ihrem Ohr dröhnte es in einem fort: ›Du liebst deinen früheren Mann!‹ – Und alles in ihr schrie und die Blutwellen brandeten, die Nerven zitterten, die Fibern der Seele schwangen mit: ›Ja . . . ja . . .!‹

Sie schaute bang um sich. Die Nacht um sie war still. Nur die Frösche quakten tausendstimmig in der Elbniederung. Von dort brachte der Wind den würzigen Duft der Mahd. Er wehte kühl und stark um ihre bleichen Wangen, und sie dachte sich in all ihrer Verstörung plötzlich: ›Morgen kriegt Papa sein Heu endlich trocken herein!‹ Durch diese Berührung mit der Wirklichkeit wurde sie wieder ruhiger und ging weiter. Dieser Weg, den sie da schritt, der umfaßte eigentlich ihr ganzes Leben. Dort an der Parkmauer hatte sie zuerst an einem sonnigen Herbsttag dem Leutnant Gisbert und den anderen Offizieren der Einquartierung die Hand geschüttelt – kameradschaftlich zutraulich und ein wenig burschikos, wie sie es als junges Mädchen gegen Herren war. Da an der Elbe waren sie in der Dämmerung einsam miteinander gegangen, und in der Fliederlaube hier hatte sie sich eine Woche später, an einem kalten klaren Abend wie heute, mit ihm verlobt und ihn zum erstenmal geküßt . . . Sie wandte im Heimgehen noch einmal den Kopf nach rückwärts – weißer Nachtnebel lag über all den Stätten und stieg empor und löste sich in nichts – und nichts war von alledem geblieben – und sie schritt wie eine Fremde durch die einsame Nacht . . .

Sie sagte sich: ›Ich bin hier heimatlos. Ich kann hier nicht bleiben. Dies kurze Rasten und Träumen hier – das war nur eine Schonzeit des Schicksals. Nun packt es mich wieder und rüttelt mich mit aller Gewalt. Ich habe hier nur Erinnerungen, aber kein Gegenwartsrecht mehr. Es treibt mich fort von hier. Er treibt mich fort. Überall.‹

Und als sie in ihrem Zimmer war, dachte sie noch einmal: ›Mein ganzes Leben ist eigentlich nur eine Flucht vor ihm! Und muß es sein! Sonst behielte mein Vater ja furchtbar recht mit Moses und seinen Propheten.‹ Sie setzte sich hin und schrieb in dem tiefen Schweigen des Hauses, in dem jetzt zur Heuernte alles mit den Hühnern zu Bette ging und aufstand, mit rascher Hand:

»Lieber Papa! Ich will uns eine neue Szene ersparen. Die heute abend hatte das Gute, daß sie mir die Augen gründlich geöffnet hat. Ich sehe jetzt ganz klar, daß ich von hier weg muß! Ich will Dir nicht weiter zur Last fallen und auf der Tasche liegen, wo Du ohnedies schon so große Ausgaben mit mir gehabt hast. Ich werde auch draußen keine Unterstützung von Dir verlangen. Vorläufig hab' ich ja noch das Geld für meinen Schmuck, das Du nicht haben wolltest, und inzwischen will ich die Zeit benutzen und mich nach einer passenden Stellung für mich umsehen. Da ich nicht viel gelernt habe und nichts Besonderes kann, wird es natürlich auf einen Posten irgendwo als Gesellschafterin hinauslaufen. Den werde ich freilich nicht leicht bekommen – als geschiedene Frau – aber anderseits habe ich doch meinen Namen und meine Herkunft und genug Empfehlungen, die Ihr mir hoffentlich, wenn ich mich nun auf eigene Füße stelle und etwas Nützliches tue, nicht vorenthalten werdet. Ich finde: wenn schon, wie Du meinst, Buße getan werden muß, dann ist es besser, ich leiste dabei etwas, als daß ich daheim Trübsal blase und mich mit Bibelsprüchen füttern lasse. Aber ich will gar keine Buße, sondern einfach eine Tätigkeit.

Ich denke, ich gehe zunächst, bis ich eine Stellung habe, zu Pfennigreuters. Du weißt, sie – die Tochter – war meine Schulfreundin. Die alte Pfennigreuter ist Witwe. Der General ist vor einem Jahr gestorben. Sie haben sich in Zehlendorf eine Villa gemietet und nehmen Pensionäre, um sich aufzubessern. Das hat mir Klara geschrieben. Zehlendorf ist von Berlin schon ziemlich entfernt, gut eine Viertelstunde mit der Eisenbahn. Dadurch ist ein zufälliges Zusammentreffen mit meinem früheren Mann ausgeschlossen. Und ein absichtliches – das will ich Dir zum Schluß noch einmal heilig zuschwören – erst recht! Wir werden uns nie wieder sehen – er und ich!

Nun laß es Dir gut gehen. Ich weiß nicht, wohin mich nun das Schicksal verschlagen wird. Ich habe mir mein Leben auch anders vorgestellt. Aber es muß auch so gehen. Lebe wohl und behalte trotz alledem noch ein bißchen lieb

Deine Tochter Vera.«

Diesen Brief trug Vera am nächsten Nachmittag, als eine glühende Gewitterschwüle über der Erde lastete, und der alte Vogt-Neetzow, der vom Morgengrauen ab auf dem Felde gewesen, sein gewohntes Schläfchen machte, aus ihrem Zimmer hinunter in den Flur und gab ihn dort dem alten Diener: »Friedrich – das bekommt der Herr, sowie er aufwacht!« Dann schritt sie hinüber in den Stall und befahl dem Kutscher: »Karl, angespannt! . . . Meinen Koffer herunter! . . . Zum Zweiuhrzug! Ich muß in Stendal den Berliner D-Zug bekommen! Was? Keine Pferde wegen der Heuernte? Es wird die Füchse nicht gleich umbringen! . . . Vorwärts – oder soll ich selber anschirren?«

Sie hatte ihre Gründe, so zu eilen. Denn es war kein Zweifel, daß ihre Absicht, sich in irgend eine abhängige, bezahlte Stellung zu begeben, bei dem in all seiner Schlichtheit rückgratsteifen alten Junker da oben auf ein bündiges »Nein!« gestoßen wäre. Sie atmete auf, als sie endlich im Wagen saß und wegfuhr, und wandte kaum den Kopf nach dem Haus ihrer Eltern, das, niedrig und ehrenfest, wie es seit Jahrhunderten gewesen, an der Biegung der Landstraße hinter weißen Staubwolken verschwand.

Am Bahnhof in Berlin erwartete sie, durch ein Telegramm benachrichtigt, Klara von Pfennigreuter, ein großes, schlankes Mädchen schon zu Mitte der dreißig. Es war für Vera immer eine Art Wehmut, das allmähliche Verwelken dieser einstigen strahlenden Schönheit zu sehen, die keinen Groschen Geld besessen und keinen Mann bekommen und umsonst als Generalstochter anderthalb Jahrzehnte vertanzt und vertan hatte. Jetzt ging sie sehr einfach angezogen. Sie rüstete sich zur alten Jungfer. Sie hatte auch schon ein bißchen etwas Umständliches und Fahriges an sich. Sie weinte sofort, als sie Vera sah, und die frug gelassen, einem Träger ihr Gepäck gebend: »Klara – wohnst du immer noch so nah am Wasser? . . . Wenn du etwa wegen mir gleich so loslegst, dann sei so gut und laß es unterwegs!«

Die beiden, die geschiedene Frau und das späte Mädchen, fuhren zusammen vom Friedrichstraßen- zum Potsdamer Wannseebahnhof. Vera ließ den Kutscher absichtlich den Weg durch die Leipzigerstraße einschlagen. Sie wollte wenigstens für ein paar Minuten, nach der Stille von Neetzow, das fiebernd farbige Bild des abendlichen Berlins in sich aufnehmen, dies Brausen und Rollen, dies Jagen und Hasten, das Aufzucken der bunten Reklamezeichen am schwarzen Nachthimmel, der Glanz der Warenläden . . . Leben . . . Leben überall. Und auch in ihr ward das Leben wach – ein trotziger Übermut, es noch einmal mit dem Schicksal zu probieren! Sie hatte plötzlich ein merkwürdiges Kraftgefühl, eine Siegerstimmung. Sie hörte nicht, was die arme Pfennigreuter neben ihr von den teuren Fleischpreisen erzählte und wie wenig das Pensionat bisher ihr und der Mutter, den beiden unpraktischen Frauen, einbrächte. Sie schaute rechts und links in die flimmernden Schaufenster und berauschte sich förmlich an diesem Wogen der Menschenmassen und dachte sich: »Herrgott – ich bin doch noch jung – kaum dreißig – und hab' doch schon so viel durchgemacht, im Vergleich zu dem guten, verwelkten Geschöpf da neben mir, das sich wie ein Schaf in sein Schicksal findet – und hab' doch noch Spannkraft für zehn! . . . Das muß sich doch noch einmal lohnen! . . . Es wird schon werden! Irgendwie . . .‹

Der Vorortzug, den sie bestiegen, war beinahe leer. Um diese Zeit fuhr alles nach Berlin, niemand hinaus. Die Wagen rollten langsam dahin. Der Lichterglanz der Weltstadt vor den Scheiben hatte aufgehört. Draußen brütete tiefes Dunkel über den märkischen Feldern. Dies Dunkel kam durch die offenen Fenster herein und über Vera. Ein unbestimmtes Grauen. Eine tiefe Trostlosigkeit. Die Räder rasselten eintönig: ›Allein . . . Allein . . . Allein . . .‹ Auf einmal zuckte sie zusammen: Nun wußte sie, was sie belebt hatte – da drinnen in der Stadt: Eine kurze Spanne Zeit waren in diesem steinernen nächtigen Meer sie und Georg Gisbert einander nahe gewesen. Kaum drei Viertelstunden vom Potsdamer Bahnhof war im Westen, in Charlottenburg, seine Wohnung. Nun führte der Zug sie wieder von ihm weg – immer weiter in die Ferne. In der stockfinsteren Nacht draußen hätte man auch glauben können, unterwegs nach Peking oder Lissabon zu sein – es wäre ganz ebenso gewesen.

Klara von Pfennigreuter klagte eben über die Schikanen ihres Hauswirts. Vera unterbrach sie darin brüsk und sagte aus ihren Gedanken heraus: »Vor allem muß ich im ›Daheim‹ inserieren, Klärchen! . . . Am liebsten ging' ich ins Ausland! Vielleicht mit einer alten Dame nach dem Süden . . . oder so . . . Je weiter von hier fort, desto besser . . .«



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