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Frau Otti Gisbert reiste nach Worms zur Hochzeit ihrer jüngsten Schwester. Sie wollte hinterher noch eine oder zwei Wochen bei den Eltern bleiben, bis diese sich in dem nun ganz leer gewordenen Hause eingewöhnt hätten. Es schien ihr recht gut, wenn ihr Mann sie bei dieser Gelegenheit ein wenig vermißte. Da merkte er doch wieder, was er und die Kinder und das ganze Haus an ihr hatten. Jetzt wurde das von ihm als allzu selbstverständlich betrachtet. Er war gar nicht unfreundlich gegen sie, im Gegenteil, eher weicher als sonst, aber dabei so trübe und zerstreut. Man konnte zuweilen meinen, er sei in seinem eigenen Hause fremd, so teilnahmlos saß er da. Der Dienst trug daran wohl auch schuld. Er arbeitete jetzt blindlings, mit einem stummen Feuereifer, vom frühen Morgen bis in den späten Abend.
Sie lehnte aus dem Fenster des Damenabteils zweiter Klasse und sprach hinunter zu Georg und seinem Bruder Albert, dem jungen Kriegsakademiker, die sie auf den Bahnhof begleitet hatten. Es fielen ihr im letzten Augenblick noch hundert Mahnungen und Besorgungen ein – der Gashahn . . . und die Vorlegkette an der Hintertreppe – und die Kinder – und das Mädchen – die beiden Männer unten hörten kaum mehr zu, man konnte das alles beim besten Willen nicht behalten – bis sie, schon im Davonrollen des Wagens, noch rief: »Und gelt, Georgche – daß die Karla nur immer recht pünktlich zum Professor kommt! Wenn sie nicht auf die Minute da is, muß sie als so lange warte!«
Den Rest verstand man nicht mehr. Ein weißes Tuch flatterte in der Ferne. Der Zug verschwand. Während die beiden Offiziere die Bahnhoftreppe hinabstiegen, sagte Georg Gisbert: »Merkwürdig, wie doch Menschen sind! Früher hatte Otti das Kind nicht leiden können! Und jetzt liebt sie es direkt – beinahe wie ihre eigenen!«
»Wirklich?«
»Ja! Ich glaub', es macht ihr einen Riesenspaß, mit ihren zweiundzwanzig Jahren schon ein so großes, fast neunjähriges Mädelchen zu haben. Sie kämmt es und putzt es, als ob sie mit einer Puppe spielte. Daß es eigentlich einer anderen gehört, das kümmert sie gar nicht mehr. Ich glaube, das hat sie schon fast vergessen!«
»Sie ist eben ein furchtbar guter Kerl!«
Der andere schwieg, und Albert Gisbert setzte hinzu: »Das ist doch auch die einfachste Lösung, wenn du die Karla überhaupt ganz bei dir im Hause behältst!«
»Es ist nichts so einfach im Leben, wie du dir denkst!« sagte sein Bruder. »Wenn du mal älter bist und selber Frau und Kinder hast, wirst du es merken . . . Na, laß dich mal bei mir sehen! Adieu!«
In den folgenden Tagen kamen dem Hauptmann Gisbert die reichen Räume seiner Wohnung nicht so verödet vor, wie sich das seine Frau wohl vorgestellt hatte. Er war da nicht allein. Er hatte die kleine Karla. Und noch mehr. Das Kind saß ihm bei Tisch gegenüber, und auf dem dritten, leeren Platz, wo sonst Otti gesessen, da sah er nicht sie, sondern die andere, seine erste Frau. Es war doch natürlich, daß da, wo Vater und Töchterchen waren, auch die Mutter war, wenigstens im Geiste. Er mochte dagegen ankämpfen, wie er wollte: wo nur das kleine blasse Mädchen in einem der großen leeren Gemächer sein Wesen trieb, da schritt wie ein Schatten eine schöne, schlanke, blonde Frau hinterdrein. Er sah ihre ausgestreckten, weißen Hände, die das Kind behüteten, er sah ihr mütterliches Lächeln – es war alles wie einst – unheimlich deutlich, greifbar stieg die Vergangenheit empor, hundert vergessene kleine Züge und Dinge kehrten zurück, selbst in dem hell durch die Stille klingenden Lachen der Kleinen glaubte er die Mutter zu erkennen, und vor allem in ihren großen graublauen Augen.
Zu seinen beiden anderen Kindern konnte er sich nicht flüchten. Die sagten ihm noch nichts. Das waren noch zwei rosige Tierchen, die friedlich in ihrer Wiege schlummerten. Aber Karla mit ihrer Frühreife eines kränklichen Kindes war doch schon ein Mensch. Man konnte ihren blassen Blondkopf zwischen die Hände nehmen und sie anschauen und mit ihr reden und Gegenrede empfangen, schon halb wie von einem Erwachsenen. Durch sie verband ihn mit seiner ersten Frau wieder ein Stück Gegenwart und Zukunft.
Und wenn diese Stimmung über ihn kam, dann schaute er sich in seinen Räumen um, und alles schien ihm so fremd, von anderen besorgt, von anderen bezahlt, und er selber nur ein Nutznießer einer Welt, die ihm nicht gehörte, in die er nur hinein verpflanzt war, ohne darin zu wurzeln. Er fühlte einen plötzlichen Widerwillen gegen das Behagen dieser vier Wände und ging hinüber in sein Arbeitszimmer. Da war noch so manches aus seiner spartanisch einfachen Junggesellenzeit und anderes aus seiner ersten Ehe, das in dieser Umgebung auch lächerlich einfach, fast armselig aussah, und an all den vergilbten Dingen haftete ein weher Zauber der Erinnerung.
In der Dämmerstunde, am zweiten Abend, nahm er seine Geige zur Hand und spielte. Längst vergessene Bilder stiegen herauf. Die kleine Garnison – das alte Haus am Markt. Die niederen Zimmer, das seltsame Durcheinander von ehrwürdigem Großväterhausrat vom Herrenhof in Neetzow und funkelnagelneuen, eben billig in Berlin gekauften Fabrikmöbeln. Und darinnen er und Vera . . .
. . . Vera . . . sangen die Saiten. Es klang wie ein Schluchzen um verlorenes Glück. Glück? Ganz war es das eigentlich nie gewesen. Sie hatten sich nie völlig verstanden. Immer der eine mehr im anderen gesehen, mehr von ihm verlangt, als der geben konnte. Sie hatten eben zuviel vom Leben und ihrem Lebensgefährten erwartet, um je zufrieden zu sein. Schon nach den ersten Monaten der Ehe hatte die Enttäuschung ihren Himmel verdüstert und nicht mehr aufgehört bis zum bitteren Ende. Aber dazwischen standen Zeiten, leuchtend wie goldene Sonnenflecken im Alltagsgrau, Wochen und Wochen, in denen sich Wunder der Seligkeit begeben hatten, Gnade und Überfülle des Schicksals – Tage der Rosen – Tage des Rausches . . .
Die Tage waren immer seltener geworden. Sie hatten schließlich ganz aufgehört. Aber sie waren doch einmal da! Die Sehnsucht sprach aus den verklingenden Tönen der Geige. Und wie er die absetzte, merkte er erst, daß sein Töchterchen ihm zugehört hatte. Sie saß ihm gegenüber auf einem Stuhl und blickte ihn stumm, aus großen andächtigen Augen an. Er kniete neben ihr nieder und zog sie an sich und küßte sie leidenschaftlich zwei-, dreimal auf den Mund und sah wieder die tiefen, graublauen Augen ernst auf sich gerichtet, und fuhr plötzlich erschrocken zurück. Ihm war, als habe er eben in dem Kinde da die Mutter geküßt – hier in den Räumen seiner zweiten Frau – als habe er dies Dach über seinem Haupte entweiht. Ein leises Grauen befiel ihn. Er hatte Angst vor der kleinen Karla da vor ihm, als sei die nur der Bote einer anderen Macht. Langsam stand er auf.
Dann besann er sich. Er schämte sich. Er nahm sich zusammen. Das mußte nun einmal ein Ende haben. Gründlich. Unerbittlich. Es war unmännlich, sich derart an längst begrabenes Lust und Leid zu heften. Da hieß es, sich und seine Gedanken besser im Zaume zu halten. Am Tage geschah das durch die Arbeit von selbst. Aber das Alleinsein des Abends war nicht gut.
Er erinnerte sich, daß gerade heute, wie jeden Mittwoch, in einem Bräu der Friedrichstadt eine Zusammenkunft alter Angehöriger seines Regiments war. Amüsant waren ihm solche Abende ja nicht. Man simpelte sich bei der Zigarre und dem Glase Bier durch die ganze Rangliste hindurch, besprach ausführlich, was eigentlich aus dem kleinen Krause geworden, und in welchem Monat der dicke Müller von Metz nach Posen versetzt worden sei. Aber immerhin: Menschen waren Menschen und jede Gesellschaft besser als hier, in der Einsamkeit, die seiner ersten Frau . . .
Er entschloß sich zu gehen. Er war eben im Begriff, sich Mütze und Säbel zu holen. Da klopfte es. Das Mädchen brachte einen Brief. Er nahm ihn gleichgültig in Empfang und las die Aufschrift. Die lautete an seine Frau. Die großen steilen Schriftzüge kamen ihm so bekannt vor. Auf einmal ließ er das Schreiben auf die Tischplatte fallen und trat einen Schritt zurück. Jetzt wußte er es: das war Vera von Vogts Hand.
Nach dem ersten Schrecken stieg ein jäher Zorn in ihm auf. Was hatten die beiden sich hinter seinem Rücken mitzuteilen? Dieser Verkehr war ja lächerlich. Das war ein Unding. Wieder ergriff er den Brief. Ein eigener Schauer überrieselte ihn dabei. Er kümmerte sich sonst gar nicht um Ottis Korrespondenz. Aber unzweifelhaft hatte er ein Recht, gerade dieses Schreiben zu öffnen. Nach kurzem Kampf riß er den Umschlag auf und las:
»Hochverehrte, gnädige Frau!
Der Brief der Frau Generalleutnant z. D. Gisbert an mich, von dem Sie mir neulich sprachen, ist mir nunmehr von Neetzow aus nachgesandt worden. Ich ersehe aus diesem Schreiben Ihrer Exzellenz, daß es mir nicht vergönnt sein soll, Karla während ihres Berliner Aufenthaltes zu sehen. Ich halte diese Bestimmung für sehr hart – einmal weil eine Zeitdauer des Aufenthaltes ja gar nicht festgesetzt ist, und besonders, weil das Kind krank ist und dadurch schon allein ein Anrecht auf die Nähe der Mutter hat. Ich denke mir, daß diese überflüssige Härte der Rücksicht auf Sie, gnädige Frau, in deren Hause sich das Kind befindet, entspringt. Aber nachdem das Schicksal nun einmal gewollt hat, daß wir uns persönlich kennen lernen sollten, wende ich mich gerade an Sie mit der Bitte, mir die Möglichkeit zu geben, wenigstens zuweilen meine Tochter in meiner Wohnung am Lützowplatz zu sehen. Ich bitte Sie und nicht Ihren Herrn Gemahl, weil Sie selber Mutter sind und besser als er mit nachfühlen können, wie einer Mutter zumute ist. Darum lassen Sie mich keine Fehlbitte tun!
In Erwartung Ihrer gütigen Antwort bin ich
in vorzüglicher Hochachtung
Vera von Vogt.«
Der Hauptmann Gisbert saß lange, den Brief seiner einstigen Frau in der Hand, und sann. Endlich steckte er ihn in einen Umschlag und schickte ihn an Otti nach Worms und schrieb nur ein paar Zeilen dazu: »Der Inhalt ist an Dich gerichtet. Also entscheide Du!«
Postwendend kam die Antwort. Sie enthielt wieder Veras Schreiben, und darunter hatte Frau Otti mit ihrer feinen Pensionatsschrift gekritzelt:
»Liebes Georgchen! Das geht mich nichts an! Da menge ich mich nicht hinein! Es ist euer Kind! Also ist es eine Sache zwischen Dir und ihr. Tu, was Du für recht hältst. Mir ist es dann auch recht. Gruß.
Otti.
Nachschrift. Papa ist auch meiner Meinung. Ich hab' mit ihm gesprochen.«
Natürlich – der Papa! Von dem kam der kluge Rat, der jede Verantwortung von sich schob. Georg Gisbert fühlte wieder seine alte Abneigung gegen den schönen jugendlichen Schwiegervater erwachen. Aber zu machen war da nichts. Er mußte nun selbst handeln, selbst Vera antworten. Der Entschluß fiel ihm schwer. Endlich setzte er sich hin und schrieb. Er redete Vera nicht an, sondern begann den Brief mit der Adresse:
»Ihrer Hochwohlgeboren
Frau Vera von Vogt
zurzeit Berlin.«
und darunter:
»Dem in dem neulichen Schreiben kundgegebenen Wunsche, Karla während ihres hiesigen Aufenthaltes zu sehen, kann zu meinem aufrichtigen Bedauern nicht entsprochen werden, nicht von seiten meiner Frau, die eine Stellungnahme in dieser Angelegenheit vermeiden möchte, sondern weil ich selbst es nicht für opportun halte, schon aus Gründen der äußeren Form und namentlich, um das Kind nicht durch den Zwiespalt seiner Stellung zwischen Mutter und Stiefmutter zu beunruhigen und auf Gedanken und Fragen zu bringen, deren Beantwortung naturgemäß einem reiferen Lebensalter vorbehalten sein muß. Ist Karla wieder daheim bei der Großmutter, so steht selbstverständlich dem früheren Modus gelegentlicher Besuche nichts im Wege.«
Halb mechanisch setzte er seinen Namen darunter. Seine Finger zitterten ihm, so furchtbar erregt war er, und er atmete schwer, während er den Umschlag schloß. Nun war es wenigstens geschehen, und die Sache ein für allemal abgetan.
Aber am nächsten Mittag berichtete ihm die kleine Karla freudestrahlend, als sie des Morgens mit dem Mädchen von dem Herrn Professor gekommen, habe vor dessen Haus die Mama gestanden und sie geküßt und lange mit ihr gesprochen. Und bald darauf traf ein Brief von Vera von Vogt ein.
»Seiner Hochwohlgeboren
Herrn Hauptmann Georg Gisbert
Berlin.
Sehen werde ich Karla, ob mit oder ohne Erlaubnis! Ich halte es sonst nicht aus, sie krank in Berlin zu wissen und mich ganz in ihrer Nähe. Schickt man sie mir nicht, so muß ich sie eben anderswie zu treffen versuchen, mit dem natürlichsten Rechte einer Mutter, die erfahren will, wie es ihrem Kinde geht. Was sich daraus den Dienstboten gegenüber an Unwürdigkeiten und für Karla an Aufregungen ergibt, ist nicht meine Schuld. Ich ziehe einfach die Konsequenz aus der Ablehnung meiner Bitte.«
Der Hauptmann Gisbert stand auf, als er das Schreiben gelesen, und ballte es in der Faust zu einem Knäuel zusammen. Er fühlte sich wehrlos. Vor Begegnungen mit der Mutter konnte er das Kind, das sich nach der Verordnung des Arztes vom Morgen bis zum Abend im Tiergarten in frischer Luft bewegen sollte, nicht schützen, zumal Otti verreist und er durch den Dienst verhindert war, es zu begleiten. Und er zitterte vor einer Fortsetzung des Briefwechsels. Vera gab doch keine Ruhe. Es spannen sich immer wieder neue Fäden um sie beide, wo er nur die Augen schließen und die Hände vor die Ohren pressen wollte, um nichts mehr von ihr zu sehen und zu hören.
So setzte er sich an einem Donnerstagabend hin und schrieb hastig, wie bisher jede direkte Anrede vermeidend, ein paar Zeilen auf eine Rohrpostkarte.
»Karla wird am nächsten Montag nachmittag vier Uhr mit dem Mädchen in die Wohnung am Lützowplatz kommen. Ich darf wohl bitten, sie spätestens um sieben Uhr wieder nach Hause schicken zu wollen!
Nachschrift. Karla soll nicht zuviel Süßigkeiten essen. Der Arzt hat es verboten.«
Am Montag war Veras Wohnzimmer in ihrer Pension festlich mit Frühjahrsblumen geschmückt. Auf dem blütenweiß gedeckten Tisch stand das Schokoladenservice bereit. Daneben lag Spielzeug, ein Mäntelchen, allerhand kleine Überraschungen. Sie selber hatte sich für ihr Töchterchen schön gemacht. Sie war ganz in Weiß. Sie war glücklich, jung, erwartend, und wirtschaftete geschäftig in dem Zimmer hin und her und rückte dies und jenes zurecht und sah dazwischen auf die Uhr, ob Karla noch nicht käme.
Mit jenem Sinn für gegebenes Wort, der ein Erbteil eines alten Geschlechts wie des ihren war, hatte sie seit dem Empfang des Briefes ihres Mannes keinen Versuch mehr gemacht, ihr Kind noch vor der Zeit zu sehen. Nun aber konnte sie die Ungeduld kaum mehr ertragen. Es war schon zwanzig Minuten nach vier. Die junge Frau hatte Befehl gegeben, niemanden sonst vorzulassen, und stand unruhig am Fenster und lugte hinaus. Da unten lag der Lützowplatz mit seinem spitzen, wie frisch vom Zuckerbäcker bezogenen Monumentalbrunnen. Die Bäume grünten. Auf dem Kanal schwammen schwerfällig die großen Zillen, die Menschen wimmelten schwärzlich und eilfertig im hellen Frühlingsschein – nur das eine kleine Menschenkind, das sie haben wollte, das kam und kam nicht . . . Es schlug schon dreiviertel, es schlug fünf, halb sechs. Und als eine halbe Stunde später sich die Dämmerung herabsenkte, mußte sie erkennen, daß ihre Hoffnung sie betrogen hatte . . .
Mit der bitteren Enttäuschung stieg der Zorn in ihr empor. Sie haßte jählings ihren früheren Mann, so wie schon seit Jahren nicht mehr. Er war schon halb aus ihrem Dasein herausgewesen. Nun war es wieder das alte Bild: er stand ihr als Gegner, als der Gegner schlechthin im Leben gegenüber, und dazu als einer, der sie zum Überfluß in ihrem Heiligsten verhöhnte. Vielleicht sollte das eine besondere Rache von ihm sein, dies Spiel mit ihrer Verlassenheit und ihrer Muttersehnsucht! Die Tränen waren ihr nahe. Aber sie zwang sie nieder. Er sollte sich hüten! Soweit konnte er sie doch wahrhaftig noch von früher her kennen, um zu wissen, daß sie sich so nicht geschlagen gab! Er wollte den Kampf! Nun gut – so sollte er ihn haben. Sie war dazu entschlossen.
Ein Plan tauchte in ihr auf. Sie biß die Zähne zusammen und überlegte. Allein ging das nicht. Wer konnte ihr helfen? Die Brüder nicht. Die waren zu jung. Der Vater? Da war kein Gedanke. Und wer sonst auf der Welt? Es stand ihr nur ein einziger Mensch nahe genug dazu, daß sie ihm damit kommen konnte . . .
Sie fühlte ihre Pulse fiebern – ihr Kopf war heiß – sie war nicht in der Verfassung für klare Entschlüsse. Die Vernunft riet ihr: warte bis morgen! Aber ihr Ingrimm war zu groß. Sie wollte nicht schweigend leiden.
Sie kleidete sich um, packte, äußerlich sehr finster und ruhig geworden, die für die Kleine bestimmten Sachen beiseite und fuhr gegen acht Uhr abends in das Hotel am Potsdamer Platz, wo ihr Vater wohnte. Sie wußte, daß er dort jetzt mit ihrem Bräutigam zusammensitzen würde, um Wichtiges wegen Neetzow zu besprechen. Die beiden Nachbargüter Klein-Pütz und Birkenhausen – uralter, im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts verloren gegangener von Vogtscher Besitz – standen, von den jetzigen Eigentümern heruntergewirtschaftet, billig zum Verkauf. Das war eine Gelegenheit ohnegleichen, den alten Glanz der Familie zu erneuen. Der Freiherr von Ulerici schien dem Geschäft nicht abgeneigt, und die Augen des alten hageren von Vogt-Neetzow leuchteten bei dem bloßen Gedanken. Sie aßen gerade, als Vera kam, und redeten, nachdem sie neben ihnen am Tisch des Restaurants Platz genommen, ununterbrochen von dem Gutshandel weiter und baten ihre Gefährtin nur ein paarmal um Entschuldigung – aber schließlich müsse das sie doch auch interessieren! Keiner von beiden hatte sich erkundigt, ob Karla heute gekommen sei. Sie schienen es für selbstverständlich zu halten. Zudem konnte der alte Vogt-Neetzow sein Enkelkind nicht leiden, weil es den ihm verhaßten Namen Gisbert trug. Er erörterte gerade, ein kalt gewordenes Stück Fasan seit zwei Minuten auf der Gabel haltend, den Plan einer harten Bedachung der zu erwerbenden Wirtschaftsgebäude. Vera hörte schweigend zu. Ein paar junge Husarenoffiziere am Nebentisch schauten verstohlen herüber. Sie merkte, daß diese Blicke nicht nur ihrer blonden Schönheit galten, sondern daß die jungen Leute sich heimlich über das feierliche, glücklich verlegene Gesicht amüsierten, mit dem ihr grauköpfiger Bräutigam neben ihr saß. Dem war plötzlich eingefallen, daß er am Ende Vera im Eifer der Unterredung ein wenig vernachlässigt haben könnte. Er wurde ganz rot vor Schrecken und suchte es eiligst wieder gut zu machen. Aber die junge Frau wehrte ungeduldig mit der Hand ab und sagte: »Christoph . . . ich muß dich etwas fragen! Deswegen bin ich hier . . . Kellner, seien Sie so gut und stehen Sie nicht immer zwei Schritte neben meinem Stuhl! . . . So! . . . Also höre, ich will meine Tochter haben! Ich will sie mir holen! – Stehlen! . . . Ich weiß genau, wann Karla das Haus verläßt. Es ist immer nur das Mädchen bei ihr . . .«
Schwiegervater und Schwiegersohn sahen sich betroffen an. Der erstere meinte langsam: »Bist du verrückt?«
»Nein. Ich stehle doch bloß mein Eigentum wieder! Wir greifen Karla auf der Straße, stecken sie in ein Auto, und, hast du nicht gesehen – sind wir weg! Wenn du mir hilfst, Christoph, können wir sie mit Leichtigkeit so verbergen, daß die anderen sie nie finden!«
Sie hatte sich kampflustig aufgerichtet. Ihre Wangen waren vom Eifer gerötet. Aber sie begegnete nur befremdeten Blicken und ältlichen langen Gesichtern. Die beiden Herren waren einfach betreten.
»Schau nur, was sie für Augen macht!« sagte endlich ihr Vater zu dem Freiherrn von Ulerici. »Man könnte sich fürchten! Das kennst du noch nicht an ihr!«
»Gib du mir lieber Antwort, Christoph!«
»Ja, Vera – wenn du noch nicht weißt, daß das Bürgerliche Gesetzbuch . . .«
»Ich pfeife auf das Bürgerliche Gesetzbuch!«
». . . ja, daß man sogar strafrechtlich . . .«
»Sie können mich ja einsperren!«
»Immer mit dem Kopf durch die Wand!« sagte der alte Herr. »Das war immer dein Unglück, Vera! Du bist eine Natur, die keine Kompromisse kennt! Und das ganze Leben, mein Kind, ist ein fortwährender Kompromiß!«
Sie dachte sich: ›Wenn meine Verlobung hier kein Kompromiß ist‹ . . . dann wandte sie sich an ihren Bräutigam: »Christoph, willst du mir beistehen?«
Sie sprach schnell und so erregt, daß ihre Lippen zitterten. Er setzte bedächtig den Zwicker auf und meinte: »Vera, – wenn du wieder kaltes Blut hast . . .«
»Ach, ich danke für dein kaltes Blut . . . Meines ist heiß! Papa hat ganz recht! Du kennst mich noch lange nicht! Ich bin nicht so zahm, wie du glaubst!«
Sie wippte ungeduldig mit der Spitze ihres langen, schmalen Lackschuhs auf dem Boden. Die Leutnants nebenan lachten. Es war solch ein drolliger Gegensatz: die leidenschaftliche junge Frau und die beiden verdutzten grauköpfigen Herren.
»Daran wirst du dich bei mir gewöhnen müssen!« sagte sie heftig. »Bei Papa . . . da draußen . . . da war ich noch im Winterschlaf . . . eingepuppt . . . aber jetzt lebe ich wieder! . . . Herr Gott ja . . . tu mir den Gefallen und sieh mich nicht so mißbilligend an . . . ich bin ein Mensch von Fleisch und Blut und kein abgeklärtes Fabelwesen, wie du dir das vielleicht so denkst! Es ist doch kein Verbrechen, daß ich mein Kind wieder haben will! Also, wirst du mir helfen?«
Der Freiherr von Ulerici räusperte sich.
»Vera . . . wir wollen morgen darüber reden . . . wenn du ruhiger geworden bist . . . lasse nur erst einmal diese Aufregung vorübergehen!«
Die junge Frau lachte.
»Ach ja . . . es geht alles vorüber! . . . Schließlich wird man begraben und die arme Seele hat Ruh'! Aber wenn das deine ganze Weisheit ist . . . Willst du oder willst du nicht?«
»Zu solchen Streichen geb' ich meine Hand nicht!« sagte der Freiherr von Ulerici entschieden.
Sie sah stumm ihren Bräutigam an. Er war ihr auf einmal so entfremdet wie noch nie, wie er, der alte Junggeselle, da bedächtig saß und ihren Mutterschmerz nicht verstand. Plötzlich hatte sie ganz andere Augen gegen ihn bekommen. Grausam scharfe. Sie bemerkte jede Furche in seinem rötlichen Gesicht, jeden grauen Faden auf seinem Haupt . . . Sie sah sein Doppelkinn, sein Embonpoint, sie merkte, daß er schwer atmete – sie empfand auf einmal einen förmlichen Widerwillen vor ihm. Und dachte sich unwillkürlich: Was mach' ich denn da? Wen heirate ich denn da? Er ist fünfzig und ich noch nicht dreißig!
Dann stand sie rasch auf.
»Gute Nacht!«
Ihr Vater war erstaunt.
»Was ist dir denn, Vera?«
»Nichts! Ich muß heim! Nein, bitte, Christoph . . . begleite mich heute nicht bis nach Hause!«
Sie reichte den beiden Herren die Hand und verließ hastig, ehe die sich noch von ihrer Betroffenheit erholt hatten, den Saal.
Als sie im Wagen saß, fing sie an, im Kopf zu rechnen. Eins, zwei, drei, vier, fünf – noch fünf Wochen und drei Tage waren bis zu der Hochzeit, die im Mai stattfinden sollte. Es dünkte ihr auf einmal so unwahrscheinlich, daß sie dann wirklich die Freifrau Vera von Ulerici sein würde und das Ganze nicht ein Spiel, ein flüchtiger Gedanke sei, der ihr einmal durch den Kopf gegangen und dann wieder verschwunden. Wieder preßte ihr eine schwere Last das Herz zusammen. Noch nie hatte sie den Unterschied der Jahre zwischen sich und ihrem grauköpfigen Verlobten so schreckhaft deutlich empfunden. Sie drückte sich fröstelnd in die Wagenecke. So blieb sie, leise zitternd, bis sie vor ihrem Hause ausstieg.
Sie hatte gehofft, daheim wenigstens irgend eine Nachricht von Karla zu finden. Aber nichts war da. Niemand hatte sich gezeigt. Sie hatte noch tags vorher durch das Pensionat telephonisch anfragen lassen, ob das Kind auch heute sicher käme, und die Antwort erhalten: Ja. Dieser kaltblütige Wortbruch empörte sie. Sie war jetzt auch zu stolz, noch einmal anklingeln zu lassen und sich zu erkundigen und von irgend einem Dienstboten am Sprachrohr mit ein paar leeren Worten in Berliner Dialekt abgespeist zu werden.
Sie zitterte unter einer solchen Unruhe und Aufregung, daß sie es in ihrem Zimmer nicht aushielt. Obwohl es schon fast zehn Uhr war, ging sie doch noch einmal hinunter ins Freie. Die Frühlingsnacht war lind und warm. Drüben an der Herkulesbrücke saßen die Leute schon im Wirtsgarten draußen an den Tischen. Der Lützowplatz war noch voll von Menschen. Sie schritt über ihn hin, in der Richtung nach dem Kurfürstendamm und der Meinekestraße. Eine heiße Sehnsucht trieb sie nach dem Hause, wo man ihren Schatz bewahrte.
Nun stand sie davor. Sie wußte nicht, in welchem Stockwerk Gisberts wohnten. Aber es war auch gleich. Die ganze Front lag in tiefem Dunkel. Sie hob sich auf den Fußspitzen und blickte hinauf, als könne sie dadurch ihrer Karla näherkommen. Sie erschien sich wie eine Verlassene, eine Ausgestoßene unter den Menschen, wie sie da im Nachtwind auf einsamer Straße vor verschlossener Pforte Wache hielt. Stumm, unschlüssig ging sie auf und nieder, bis zur Ecke des Kurfürstendammes. Da drehte sie um und schritt zurück. Sie konnte sich von dem stillen Hause nicht trennen. Sie wollte wenigstens noch einen letzten Blick darauf werfen, ehe sie heim mußte – mit, schwerem Herzen und mit leeren Händen . . .
Um die Ecke herum kam ihr rasch jemand entgegen. Ein großer schlanker Mann im Jagdanzug. Einen Augenblick war seine Gestalt hell von der Laterne beschienen. Sie sah ihn flüchtig an. Es ging ihr durch den Kopf: ›Wo hat der nur seine Flinte? Hat er sie am Ende irgendwo stehen lassen, daß er so läuft?‹ Und dann, als er schon vorüber war und seine Schritte verhallten, durchschoß sie plötzlich ein jäher Schrecken: Herr Gott – war das nicht er? . . . Ihr war, als sei sie eben Georg Gisbert begegnet . . .
Sich vergewissern . . . sich nach ihm umdrehen – nein, das war unmöglich. Sie ging langsam, halb betäubt, die Meinekestraße hinauf und um die Ecke herum heimwärts. Ihr Herz klopfte. Nachträglich schien es ihr ganz sicher, daß er es gewesen . . .
Und Georg Gisbert schaute ihr nach. Er hatte sie sofort erkannt. Im ersten Augenblick kämpfte er, ob er ihr folgen solle. Er wußte: es war unmöglich. Er blieb regungslos. Lange stand er so. Dann wandte er sich ab und die beiden gingen wie dunkle Schatten auseinander und verschwanden in der Nacht.