Rudolph Stratz
Die ewige Burg
Rudolph Stratz

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XIII.

Es war kein Regen mehr – es waren Wolkenbrüche, die auf das Dorf niederrauschten. Alle Berge verschwammen in den grauen, strömenden Schleiern, die Wildwasser schossen, ockergelb gefärbt, wie kleine Flüsse in breitem Schwall dahin, und der Forellenbach unten im Tal wälzte trübe, hochgehende Wogen bis weit über seine Ufer.

Darüber hin blies der Sturm. Von Süden kommend, wo er als Föhn die Alpen überschritten, und nun mit seiner letzten Kraft über den Odenwald hin sich tummelnd. Weithin trug er den Pfiff des einlaufenden festlich geschmückten ersten Eisenbahnzuges auf regenfeuchten Schwingen über die Forsten, er warf die am Eingang des Bahnhofes aufgestellte Ehrenpforte mit flüchtigem Ruck in den Schlamm und drückte die qualmende Rauchfahne der Lokomotive platt über die Menschenmenge hin.

Die Versammlung war nichts als ein schwarzes unruhig bewegtes Meer von triefenden Schirmen, unter denen sich die seltsamen, in ihrem Schnitt bis zur Mitte des Jahrhunderts zurückreichenden Zylinderhüte der Hofbauern, die weißen Mullkleider der fröstelnden, an Gesicht und Händen blaurot angelaufenen Ehrenjungfrauen, die Orden und flatternden Schwalbenschwänze der befrackten Würdenträger von auswärts bargen. Nur die Banner der Vereine, der Krieger, Sänger, Turner und Kegler, überragten in bunten, feuchten Falten das Gewimmel der schwarzen Regendächer, und vor ihnen keuchte der mit Moosguirlanden umwundene Leib des Dampfrosses zu den rotgelben Flaggen Badens und der schwarzweißroten des Reichs am Stationsgebäude und an der Fabrik empor, unter der zahlreiche weißgelbe päpstliche Wimpelchen in den Händen der von Ordensfrauen mütterlich geleiteten katholischen Kleinkinderschar durcheinander nickten.

Der Sturm verschlang all die schönen Dank- und Begrüßungsreden, mit denen sich Regierung und Gemeinde, Geistlichkeit und Lehrerschaft, Stationschef und Fabrikbesitzer und viele andere gegenseitig bekomplimentierten, er löste den Chorus der Schuljugend und die Vorträge des Männergesangvereins in eine Reihe ungeahnter Mißklänge auf und riß den reichlich in die Täler niederkrachenden Böllerknall und das Läuten des Kirchleins auf seinen rauschenden Flügeln mit sich fort bis zu dem stumm und finster auf seinem Felsen brütenden Gemäuer des Grafenschlosses.

Innegehalten wurde das Festprogramm trotz des Hundewetters! Immer wieder klang ein gedämpftes Hoch unter dem Schirmwald, schmetterte und fiedelte die Musik ihren naturwüchsigen Tusch, blähten sich oben am Waldrand die Rauchwirbel der Böllerschüsse und klomm ein neuer Herr, ein Blatt Papier in der Hand, die glitschrigen Stufen zur Tribüne hinauf, um eine noch unberücksichtigt gebliebene Respektsperson leben zu lassen.

Allein nicht jeder nahm an der Feier teil! Benedikt Irion, der Maschinenschlosser, lehnte draußen vor dem Dorf barhäuptig und hemdsärmelig an der Schwelle seines Häuschens, eine kurze Pfeife im Mund, und lachte höhnisch vor sich hin. Zwischen ihm und dem Ziegenstall zur Rechten stand ein Gendarm. Sein Genosse befand sich innen unter der niederen Wölbung. Zuweilen kam seine Hand zum Vorschein und reichte ein neues Pack mit Bindfaden zusammengeschnürter Flugblätter heraus, deren schon ein ganzer Stoß im Hausflur aufgeschichtet lag.

»Und als noch welche!« fluchte der Gendarm Eidenmüller, dessen lange Gestalt sich in dem Ziegenstall bedenklich bücken mußte. »Do . . . nemme Se!« Er reichte wieder ein paar Hefte heraus. »Selle Hefte kenn' ich! Sie werre ja sehe, Herr Irion, wohin Sie kumme mit Ihrem Babier: ›Still, Kind – die Sozialdemokrate sind im Dorf!‹ Uff dees Flugblatt do sin schon mehr verurteilt! Dees ist verbotte! Dees wisse Sie! So! Jetzt hawwe m'r das Nescht ausgenomme!« Der ehemalige Feldwebel stieg, sich die Stirn trocknend, in den Flur hinaus. »Also doher kummt all das Schandzeug, wo der Schlicksupp und die annere Bürschle des Nachts verteile! Vum Herrn Irion! Ich hab's m'r als gedenkt! Und gut hott er's verschteckelt! Im Pilgerle sein Ziegenstall!«

»Der Pilgerle weiß dadervun nix!« bemerkte der Monteur.

»Dees brauche Se m'r net erscht zu saage, Herr Irion. Dees weiß ich vun alleine, daß der Pilgerle e stiller Mann is, wann'r auch emol von die Freischärling bawwelt! Der wird sich wunnere, wann'r hört, wodruff der Aff do die Zeit üwwer geschlafe hot!«

Er schaute den hinter ihm aus dem Verschlag gekrochenen Trottel an und lachte. Der Dorfkretin machte ein weinerliches Gesicht. Seine alte Militärmütze saß schief, und der Zigarrenstummel hing erkaltet zwischen den wulstigen Lippen. Er begriff die Bedeutung der Papiere nicht, über denen er aus Stroh und alten Kleiderfetzen sein Nachtlager aufgeschlagen hatte, aber die bunten Uniformen und blitzenden Gewehrläufe der Gendarmen flößten ihm eine unbestimmte Furcht ein, und plötzlich begann er jämmerlich wie ein kleines Kind zu heulen.

»O sei schtill!« sagte der Eidenmüller unwillig und packte alles zusammen. »Dir dut keiner was, du Simpel! Und Sie, Herr Irion, nehme Sie Rock und Hut und kumme Se mit. Sie sind verhaftet!«

»Aach noch, ihr Leit'!« sprach der Monteur, ohne daß sich etwas in seinem Gesicht bewegte. »Und mei' kranki Fraa da drinne?«

»Bei Ihrer Fraa sinn die Schwestern und der Herr Doktor. Der wird schun nix fehle! Sage Sie ihr, Sie ginge ins Dorf zum Fescht!«

»Ja . . . Eier Fescht! Do pfeif' ich druff!« Benedikt Irion machte sich zum Gehen fertig. Der Gedanke, als Märtyrer in die Zeitungen der »Genossen« zu kommen, schien ihm einen Augenblick zu schmeicheln. Aber dann wurde er wieder nachdenklich und sah nach der Türe des Krankenzimmers.

»Vorwärts! Vorwärts!« drängte der Gendarm. »Ich muß Sie einliefere! Vielleicht, daß Sie in der Schtadt gleich wieder frei gelosse werre. Dees weiß ich net!«

»Und wann mich die Herre net frei losse?«

»No bleiwe Sie in Unnersuchungshaft! Ha, was denke Sie denn eigentlich, Herr Irion? Ihr Rote meint, es mißt' schun alles nach eurem Kopf gehe! Die Leit' verhetze, Unfriede schtifte in der Gemeind', dees verlog'ne Zeug da, dees verbottene, den dummen Fabrikbuwe in die Hand drücke – dees könnt'r! No wolle mir 'mal zeige, was mir könne! Vorwärts, Herr Irion! Oder wolle Sie noch emol zu Ihrer Fraa?«

Der Monteur schüttelte den Kopf. »Ich geh' schon!« sagte er gelassen, klopfte seine Pfeife aus und schritt, ein fanatisches Lächeln auf dem intelligenten, schwindsüchtig hageren Gesicht, zwischen den beiden Gendarmen die Landstraße hinab. Der Dorftrottel stolperte neugierig grinsend und an seinem erloschenen Stummel kauend hinterdrein. So verschwand der seltsame Zug im Regengeriesel, wie die Kehrseite des bunten Bildes am Bahnhof, der Fahnen, Reden, weißgekleideten Jungfrauen, der Musiktusche und Böllerschüsse des Eröffnungsfestes.

Die Frau Irion ahnte von dem Ganzen nichts. Sie glaubte wirklich, ihr Mann habe sich doch entschlossen, zu dem Fest zu gehen und bei dem Hoch auf Kaiser und Landesherrn den Hut zu schwingen.

»Sell wär' mir lieb!« sagte sie mit ihrer schwachen Stimme zu dem Doktor, der neben ihrem Bette saß. »Ich sag's ihm ja als und als wieder: Was hoschte von dei'm Zukunftsstaat? Deer bis'r kummt, do sind wir lang tot! Unser Herrgott wird schon wisse, warum daß er reichi und armi Leit gemacht hot! Die Reiche könne aach nix dafür, daß sie Geld hawwe! Solle sie's in die Bach werfe, euch zu lieb? Ich war doch oowe uff'm Schloß . . . als Mädche . . . bei der Frau Gräfin. Ich kenn' die reiche Leut'! Awwer wann ich so zu mei'm Mann redd', no raucht er sei' Pfeif' und lacht alleweil vor sich hin, und ich krieg' nix aus'em raus! Ich hab' oft mei' Not mit ihm, so gut er is. Denn daß'r ins Wirtshaus geht, dees gibt's bei ihm net. Bloß als am Sonntag nach Mann'em fahre oder Darmstadt – zu den Genosse . . . davun läßt er net! Der Herr Direktor is schun ganz bees. Und er hot recht! Denn er gibt 'em sei' Brot! Dafür soll der Mensch doch dankbar sein!«

Sie schloß erschöpft die Augen, und der Arzt, der sie nur so lange hatte reden lassen, um draußen das Poltern des Aufbruchs und die rauhen Stimmen der Gendarmen zu übertönen, faßte beschwichtigend ihre Hand und fühlte noch einmal den Puls.

»Es geht alles gut!« sagte er aufstehend. »In einer Woche ist's vorüber. Aber jetzt reden Sie mir kein Wort mehr, verstanden? Es ist gar nicht nötig. Die Schwester weiß genau, was sie zu tun hat!«

Er blickte in das Zimmer zurück und sah, daß zwei Flügelhauben sich in dem Dämmerlicht bewegten. Die Ablösung war gekommen.

»Die Kranke braucht nur Ruhe!« sprach er zu der eben eingetretenen Klosterfrau, einer älteren Person. »Und im übrigen – Sie wissen ja!«

Die andere gab ihm mit einem kurzen Nicken des Kopfes zu verstehen, daß sie die Nachricht von der Verhaftung Irions aus dem Zimmer fernhalten werde. Sehr erbaut schien sie sonst von dem Eingreifen des Arztes nicht zu sein. Sie liebte wie viele ihrer Genossinnen die Selbständigkeit am Krankenbett, wo sie mit bewährten Hausmitteln den Leib behandeln und gleichzeitig mit frommem Zuspruch und der Hilfe des Kaplans die Seele bessern konnte. Aber sie fügte sich schweigend, der straffen Disziplin ihrer Kirche gehorsam.

Draußen auf der Landstraße hörte der Doktor hinter sich rasche, nach Bauernart schlurfende Schritte. Er drehte sich um. Es war die abgelöste Krankenpflegerin, die gleich ihm in das Dorf zurückkehrte.

Ein blutjunges Ding noch, von dessen gesunden, roten Backen die Flügel der für Matronen passenden steifgestärkten Klosterhaube sich seltsam im Winde raschelnd abhoben. Sie hatte nach gewohntem Brauch die Hände über dem Rosenkranz gefaltet und hielt den Blick über das große, an ihrer Brust schaukelnde Kreuz hinab auf den Boden geheftet.

Er blieb stehen, um sie zu erwarten. »Kommen Sie mit, Schwester?« rief er. »Wir haben denselben Weg bis zum Dorf. Zu zweit läuft sich's besser!«

Sie erwiderte nichts und hielt die Wimpern niedergeschlagen. Eine feine dunkle Röte färbte ihr Gesicht noch mehr als sonst. So schritt sie unruhig mit den Kügelchen des Rosenkranzes spielend neben ihm her.

»Es hot alleweil arg viel Kranke!« begann er mit dem Nächstliegenden das Gespräch.

Sie nickte, ohne ihn anzusehen. »Es hot 'ere viele! . . . Arg viele! Immer im Frühjahr! Do kummt gern das Fieber unter die Leit' und der blaue Huschte und die Sucht und was es so hot!«

Er lächelte über die medizinischen Kenntnisse der kleinen rotbäckigen Bäuerin im Klostergewande neben ihm.

»Und dees Jahr mehr als je!« fuhr sie fort. »Wisse Sie, Herr Doktor . . . die viele Arweiter! Die Bayern und Italiener. Die kumme von weit her – vom Main 'runner und noch weiter – und bringe's mit. Und gar unner die Kinner. Früher hawwe wir nie die Diphtheritis im Dorfe gehabt und jetzt . . .« Die Kleine nickte ernst und bekümmert mit dem hübschen Kopf, daß die Haube schwankte.

»Es is e Wunner, daß es noch so abgeloffe und bisher keins geschtorwe is – gelobt sei Jesus, Maria und Joseph! Seit gestern is auch keins mehr krank geworre! Oder hat man zu Ihne noch e Kind gebracht?«

»Doch!« – Er furchte nachdenklich die Stirne. »Ich hab' seit gestern noch ein paar behandelt. Den kleinen Grafen oben im Schloß auch. Er schien etwas erkältet!«

»Ja . . . 's is e zartes Dingl!« sagte die Kleine.

». . . aber ich hab' ihm sorgfältig in den Hals gesehen!« Er sprach mehr zu sich als zu seiner Begleiterin. »Da war nichts. Gar nichts. Ach, Unsinn! Es ist wohl eine Erkältung!«

»Jo . . . bis uffs Schloß geht so e Krankheit net!« meinte die andere. »Die Herreleut' leewe für sich, wo könne die sich anschtecke? Die kumme in kei' Berührung mit uns. Do könne Sie ruhig sein. Adje, Herr Doktor!«

Die junge Nonne bog in den Garten des Schwesternhauses ein, aus dem das Geschrei der spielenden kleinen katholischen Kinder klang und die beinahe lebensgroßen Holzfiguren der Jungfrau und des heiligen Joseph grellbunt bemalt durch den Nebel schimmerten. Der Arzt lüftete den Hut und setzte nachdenklich seinen Weg fort.

Auf dem Dorfplatz weckte ihn ein Lärm auf. Halbwüchsige Burschen pfiffen da durchdringend zwischen den in den Mund gesteckten Fingern, und einzelne Gruppen von Fabrikarbeitern standen stumm vor dem Hause des Bürgermeisters, an dessen verschlossener Türe der Gendarm Eidenmüller mit barschem Gesichtsausdruck Wache hielt. Es war klar, daß die Verhaftung Irions seine Genossen in große Aufregung versetzt hatte.

»'s is e Kreuz mit dene Leut', Herr Doktor!« sagte der Mann des Gesetzes zu dem vorüberschreitenden Arzt. »Do schteht m'r jetzt und soll sei Dienscht dun und allein all die Männer in Ordnung halte . . .«

»Es war doch noch ein anderer Gendarm da!«

»Der hott weiter müsse, Herr Doktor! Uff'n Grenzhof. Dort is e Franzos – Bazaine heißt'r – der Herr Graf hot'n a'g'zeigt! Wegen Wildere! Awwer der Kerl hot mehr uff'm Kerbholz . . . Sie hawwe telegraphiert aus der Schtadt. Der is net aus der Fremdenlegion, wie er schpricht! Der stimmt mit 'em Steckbrief vun 'em Lothringer, der aus 'eme preußische Regiment in Mainz desertiert is, wie ein Ei zum annern! Der wird jetzt 'runner geholt, daß ihn sich der Herr Amtmann a'schaun kann. Ich mein', er behält ihn gleich bei sich. Awwer ich wollt', ich wäre jetzt net der einzige Gendarm hier!«

Ein Windstoß trug vom Festplatz herüber wieder einen verwehten Musiktusch und ein gedämpftes Hurra. Die Feier war also immer noch in vollem Gang.

»Da hören Sie ja, wie die Leute Hurra schreien!« sagte der Arzt. »Die sind ganz fidel!«

»Jetzt kreische sie Hurra und nachher schmeiße sie die Fenschter ein! Wie's trifft! Wann gar der Regen uffhört« – der Hüter der Ordnung warf einen prüfenden Blick zu dem sich allmählich aufhellenden Himmel. – »und wann's dunkel wird, schteh' ich für nix. Do könne wir was erleewe. Richte Sie sich nor Ihr Verbandzeug, Herr Doktor! 's gibt strenge Arweit für Sie – heut aawend, wie ich die Leitcher hier kenn'!«



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