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Der Doktor ging allein mit langen Schritten dem Dorfe zu. Wo das begann, wo es aufhörte, ließ sich kaum erkennen. Wie alle Odenwaldgemeinden zog es sich endlos am Talhang hin, ein Gewimmel von Häusern, Scheunen, Viehställen, dazwischen Ackerland, aus dessen frisch umbrochenen, speckig glänzenden Schollen ein würziger Duft aufstieg, Obst- und Wiesenstücke, Nutzgärten, dann wieder einmal ein Haus, eine Wäschebleiche, ein kleiner Steinbruch, ein Kruzifix oder ein blumengeschmücktes Heiligenkästchen am Kreuzweg und abermals eine Reihe Wohnstätten, in der unmerklich ein Dorf in das andere überging.
Einen Kern aber hatte doch jede Gemeinde: die Kirche. Um sie gruppierten sich das Wirtshaus, die Pfarrwohnung und das Schulgebäude und umschlossen einen freien, mit einem laufenden Brunnen gezierten Platz, in dem das Leben des Dorfes seinen Mittelpunkt fand.
Ein dürftiges Leben. Die Gemeinde war, wie viele andere im Inneren des Odenwalds, arm. Sie hatte keinen eigenen Wald wie die behäbigen volkreichen Dörfer an der gesegneten Bergstraße und im Neckartal, die meist noch aus der Zeit stammten, da Karl der Große dem Kloster Lorsch in der Rheinebene den Wildbann im ganzen Odenwald verliehen. Düster standen über so vielen dieser im Tale zerstreuten Hüttenhäuflein die Jagdreviere der Großen des Landes, mit ihren ragenden schwarzen Tannenwänden längs der Berge hin eine Schranke ziehend zwischen Herren und Bauern – zwischen der Romantik und der Not ums tägliche Brot.
Hier in den Taglöhnerhütten, den Häusern der kleinen Landwirte kannte man die Not. Sie war ein täglicher Gast im Tale, dessen geringer, abschüssiger, schwer zu bearbeitender Ackerboden nur den wenigsten Unterhalt bot. Sonst mußte, wer essen wollte, hinaufsteigen in die Wälder und für die schloßgesessenen Geschlechter, für die Domänen und Staatsförstereien arbeiten. Da fällte man oben im Winterwald bei Sturm und Wetter die Tannenriesen und zerrte sie an Eisenketten die gefrorenen Hänge hinab, da zwängte man ächzend die Wurzelstrunken aus dem beinharten Boden und klaubte sich das dünne Reisig zusammen, da schälte man im Frühjahr die Eichenknüppel und trug im Herbst die Ballen dürrer Laubstreu mit zitternden Knien stundenweit hinab, da klopfte man am Waldweg die Schottersteine und sah halbe Tage lang nicht unter dem grünen Augenschirm auf oder stand, den Bachsand durch das Drahtnetz siebend, bis an die Knie in dem strömenden Wasser und lebte doch nur von heute zu morgen, bis schließlich mancher sein verschuldetes Häuschen mit den paar Ziegen und dem Fleckchen Futterland dem Juden überließ und unten beim Krämer, dem Vertreter des Bremer Lloyd, sein Billet für Amerika bestellte, für das große Sammeldecken, in das alljährlich sich ein Strom vom Lebensblut des deutschen Volkes, ein Strom von deutscher Bauernkraft ergoß.
Da war das eigentliche Dorf. Regenüberrieselt, mit spiegelnden Kotlachen, dumpfes Kuhgebrüll aus den Ställen, Hahnengekrähe vom hohen Mist und geschäftiges Gackern hinter Zäunen und Hecken, Hundegekläff, Hammerschläge, Sicheldengeln – der ganze Lärm des längst erwachten Arbeitstages in all seiner vielfachen kleinen Sorge und Mühe.
Hart am Wege hin pilgerte, ein Gewimmel schmutziggelber, mit einem rostroten Kreuz gezeichneter Pelze, eine weidende Schafherde, von den hochbeinigen Hunden mit eifrigem Bellen umkreist. Der Hirt, ein alter Mann mit bartlosem Gesicht und langen weißen Haarsträhnen, kümmerte sich nicht darum. In seinem blauen Radmantel, den langen Krummstab an der Schulter, den Strickstrumpf in der linken Hand stand er da und buchstabierte, die welken Lippen bewegend, in einem durchnäßten Papier, das er in der Rechten hielt.
»Do gucke Sie 'mal, Herr Doktor!« sprach er lakonisch, als der Kassenarzt herankam, und reichte ihm das Blatt.
Der andere warf nur einen Blick auf die Anfangsworte: »Mutter, warum läuft der Herr Gendarm denn so? – Still, Kind, die Sozialdemokraten sind endlich im Dorf . . . « Dann gab er dem Alten das Flugblatt wieder.
»Das kenn' ich schon!« sagte er. »Die Bescherung is heut nacht gekommen . . . in jedes Haus im Dorfe.«
»Jetzt . . . Herr Doktor . . . was soll man dodermit mache?«
»Wegschmeißen!« erwiderte der Doktor kurz und grob.
Der Alte sah ihm nach, wie er die Straße weiterging. Dann ballte er das Papier zusammen, warf es auf die Erde und nahm phlegmatisch sein Strickzeug zur Hand. Der Wind spielte mit dem nassen Bogen und warf ihn endlich vor die Räder der gelben Postkutsche, die heute zum vorletztenmal vor ihrer Ablösung durch die Eisenbahn von dem zitterigen alten Postillon über die holperige Straße gelenkt wurde. Da klebte sich das kotige Blatt fest und rollte, bei jeder Umdrehung der Räder von neuem aufleuchtend, weiter in die Welt.
Aber auch sonst war es überall zu finden, vor dem Hause des Bürgermeisters, eines vierschrötigen untersetzten Bauern mit kupferbraunem Gesicht und grauem Wollhaar darüber, der eben gemächlich pfeifend an der verstopften Jauchepumpe herumbastelte, lag es unten im Dung, es flatterte, halb herabgerissen, an dem blauen Postbriefkasten des Wirtshauses »Zum Baum im Odenwald«, es hing an der Mauer des gegenüber befindlichen, zur Zeit wegen eines Brandes unbewohnten Pfarrhauses dicht unter der Nische mit dem Muttergottesbild, es lag im Kuhstall, hinter der Hundehütte, zwischen den Nelkentöpfen am Fensterbrett – überall. Selbst ein paar zur Schule stapfende Abc-Schützen hielten es als Spielzeug in den schmierigen Fäustchen und buchstabierten es sich vor: »Mutter, warum läuft der Herr Gendarm denn so? – Still, Kind, die –«
Der eine der Knirpse heulte auf. Er bekam plötzlich von rückwärts einen derben Klaps hinter die Ohren und sah, wie der herangetretene Bürgermeister ihm das Flugblatt aus der Hand nahm und zu dem anderen in die Dunggrube warf. »Dees hat uns grad' noch gefehlt!« grollte der hitzige kleine Bauer in Hemdärmeln zu dem Arzt. »Mannheimer Lausbube, wo so Zeug unner die Leut' verteile – un gar unner die Kinner! dees sind Bursche von der Fawrik, Na, wart' norr, wenn ich euch erwisch'!«
Der Doktor schüttelte gleichmütig den Kopf. Ihn, der eben aus dem Hause des Sozialdemokraten kam und gleich darauf mit der Gräfin vom Schlosse geplaudert hatte, interessierte dieser Zusammenstoß der kleinen Welten im Waldwinkel, dieser Sturm im Wasserglase wie ein wissenschaftliches Experiment, das man mit unparteiischer Neugierde verfolgt. »Norr kalt Blut, Herr Bürgermeischter!« sagte er im Vorübergehen. »Nor kei' Hitz' im Kopf! Sell is nix for Ihne . . . sell gibt emol e Schlaganfall! Ich hab's Ihne jetzt schon so oft gesagt.«
Vor ihm lag jetzt, breit und protzig auf freiem Wiesengrund prangend, der rote Quaderbau der Fabrik, der qualmende Schornstein, ein paar Schuppen und Warenhäuser daneben, etwas abseits, inmitten eines eben erst angelegten, noch ziemlich kahlen Ziergartens eine kokette Villa im deutschen Renaissancestil – das Ganze ein beinahe unwahrscheinliches Bild im Rahmen der stillen Berge, der moosgrünen niederen Dorfdächer und des oben wie ein grauer Drache lauernden Schlosses.
Aus der Fabrik drang ein unbestimmtes Surren und Zittern. Dann klirrte in dem Landhause daneben ein Fenster. In ihm erschien der narbenübersäte, schnurrbärtige Kopf des Direktors.
»Komm doch herein, Doktor!« schrie er. »wo läufst du denn hin? Was, du willst dir erst von einem Burschen die Stiefel sauber machen lassen? Unsinn! Wozu leben wir denn in Sibirien? Unter den Wilden? Meine Frau ist schon an alles gewöhnt, die wundert sich über nichts mehr. Am wenigsten über kotige Teppiche.
»Eine freie Amerikanerin!« fuhr er fort, während der Kassenarzt eintrat und die Dame des Hauses, eine bildhübsche, etwas mokant aussehende Blondine, begrüßte. »Sie wußte ja, was uns bevorstand, als ich den großen Wurf tat und unser Geld in die Fabrik steckte. So 'ne Gelegenheit kam nicht wieder! Wasserkraft umsonst, Grund und Boden fast umsonst, Arbeitslohn billig und dazu die Eisenbahn! Kurzum – es muß gelingen! Nun heißt es eben aushalten im Gefängnis – in Sibirien! Ich schufte in der Fabrik, meine Frau zählt die Fliegen an der Wand, und so leben wir stillvergnügt dahin.«
»Zehn Jahre!« Die hübsche Hausfrau goß ihrem Gaste den Tee ein. »Dann haben wir hoffentlich genug, um unser Leben zu genießen.«
»Zehn Jahre!« Ihr Mann seufzte. »Zehn Jahre an diesen roten Kasten da gekettet. Da sagt man: ich hätte 'ne Fabrik. Nein, die Fabrik hat mich so gut wie das erste beste Hungerbäuerlein, das ich von seinem schimmeligen Kartoffelland erlöse und in bessere Nahrung setze. Wir sind bedauernswerte Kinder Gottes – was, Daisy? Ein freier Hamburger und eine freie Amerikanerin auf dieser wüsten Insel! Ewiger Ärger! Mit den Fossilen oben auf dem Schloß, die den Tunnel nicht haben wollen – mit der Gesellschaft hier unten – vorhin stapft mir wieder so ein Forellenfischer herein, mit sonderbaren Messingringen in den Ohren und einer tabakduftenden Flausjacke und Transtiefeln – meiner Frau wurde ganz übel – und behauptet, durch die Abwässer der Fabrik gingen die Fische zugrunde, oder so was Ähnliches.«
»Ärgere dich nicht, Darling!« sagte die hübsche Frau in dem leichten englischen Tonfall, der ihr sehr gut stand, und reichte ihm einen Teller mit Toasts.
Der Doktor sah sich inzwischen zerstreut im Zimmer um. Der Blüthnersche Flügel in der Ecke mit seinen frisch aus Berlin gekommenen Notenstößen, die deutschen, englischen und französischen Revuen und Romane, die Zeitungen aus New York, Hamburg und Berlin, die auf dem Seitentisch lagen, die wertvollen Ölgemälde an den Wänden, wie nebenan im Arbeitszimmer des Hausherrn die Haufen von wissenschaftlichen Fachschriften, Geschäftsbriefen und Depeschen – alles atmete den Geist modernen Lebens und moderner Kultur.
»Eingerichtet ist der Mensch wie ein Fürst!« sagte er. »Ein Leben führt er wie mitten in einer Großstadt und dabei . . .«
»Ja – jetzt noch!« unterbrach ihn der andere. »Aber wer steht uns denn dafür, daß wir nicht schließlich doch noch verbauern, meine Frau und ich, in den zehn Jahren Strafzeit, und wenn wir dann das Leben endlich genießen wollen, selber ungenießbar geworden sind? Wir wehren uns ja aus Leibeskräften dagegen, musizieren, spielen Schach, lesen uns was vor und streiten über Politik – aber wenn das Jahr um Jahr so weiter geht . . .«
»Heule nicht!« sagte der Doktor grob und ließ sich von der Amerikanerin zum drittenmal die Tasse füllen. »Was ist dir denn heute passiert, daß du so greulich schimpfst?«
Der Fabrikbesitzer zog mit gerunzelter Stirne ein Flugblatt aus der Tasche: »Da – lies mal! Das haben die Kerle heute nacht überall . . .«
»Ach – laß mich damit aus!« Der Kassenarzt kaute mit beiden Backen. »Den Wisch hab' ich heute schon oft genug gesehen. 's hält ihn ja jeder in der Hand.«
»Das ist's ja eben! Die Leute werden aufgehetzt, und im Hintergrund des Ganzen steht wahrscheinlich wieder der Herr Irion – dies Kreuz von einem Menschen, den ich nicht wegjagen kann, weil er der einzige ist, der etwas von den Maschinen versteht. Ohne den könnt' ich selbst den halben Tag in der blauen Bluse herumstehen und hämmern!« Er schlug zornig mit der Faust auf den Tisch. »Dies Schandblatt ist verboten! In Mannheim drüben hat man's schon vor vier Wochen beschlagnahmt und die Verbreiter vor Gericht gestellt. Aber hilft das was? Nein!«
»Ich begreife gar nicht, wie du dich aufregen kannst!« sagte der Doktor phlegmatisch. »Du hast eine Fabrik gebaut, und wo eine Fabrik ist, ist die Sozialdemokratie. Da könnte ich mich gerade so gut wundern, daß, wenn ich einen Bazillus auf eine Kartoffelscheibe setze, binnen kurzem dort ein neuer Herd entsteht.«
Die Hausfrau erhob sich, um sich liebenswürdig zu verabschieden. Die beiden Männer blieben allein und rauchten gedankenvoll ihre Zigarren.
»Hast du viel zu tun?« fragte endlich der Hamburger.
Der Arzt nickte. »Mehr, als mir lieb ist. Und vor allem . . . Dir kann ich's ja ruhig sagen, da ihr noch keine Kinder habt . . .«
»Na – was ist denn los?«
»Wir haben die Diphtheritis im Dorf. Seit vorgestern. Die Erdarbeiter haben sie eingeschleppt.«
Der andere pfiff leise durch die Zähne. »Hast du Serum da?«
»Ja.«
»Und glaubst du, daß es eine Epidemie wird?«
»Ich hoffe nicht!«
Wieder verstummten die beiden. Der Doktor sah nach der Uhr.
»Wenn du mir was zu sagen hast,« sprach er, »dann mach', bitte, rasch! Ich hab' nicht viel Zeit mehr!«
»Zu sagen . . . ja . . . weißt du . . . eigentlich fühle ich keinen Beruf dazu in mir . . . es war nur . . . wenn sich im Gespräch gerade so eine Anknüpfung gefunden hätte . . .«
»Herrgott . . . so red' doch!« rief der andere ungeduldig. »Druckst und würgt er da herum, als ob Gott weiß was . . .«
»Nun . . . wenn du willst. Ich muß ja allerdings von vornherein zugeben, ich kenne die Verhältnisse oben auf dem Schlosse gar nicht. Die Herrschaften haben jeden Verkehr mit uns wie mit der übrigen gewöhnlichen Menschheit abgelehnt. Der einzige, der oben aus und ein geht, bist du.«
»Ja! Worauf soll denn das ganze Gerede hinaus?«
»Das Gerede der Leute dreht sich eben um dich und um die Gräfin! Das ist's, was ich dir einmal bei Gelegenheit als Freund sagen wollte.«
Der Doktor lachte herzlich und wollte aufstehen. »Adieu!« sagte er. »Jetzt wird's mir zu dumm. Jetzt geh' ich!«
»Nein, hör' mal!« Der Hamburger drückte ihn in den Stuhl nieder. »Es ist ja sehr schön, wenn du das so heiter auffaßt. Aber du mußt doch bedenken: es schadet deiner Stellung hier!«
»Was denn?« Der Kassenarzt runzelte die Brauen. »Was schadet meiner Stellung hier?«
»Herrgott – du weißt doch, wie die Welt ist . . . Eine Freundschaft zwischen einem jungen Manne und einer jungen Frau . . . man glaubt nun einmal nicht daran. Wenn auch der Abstand noch so groß ist – von einer Gräfin zu einem Landarzt – es gibt eben einen Fall, wo das alles verschwindet und . . .«
Jetzt war der Doktor wirklich aufgestanden. »Den Unsinn hat dir natürlich deine Frau in den Kopf gesetzt,« sagte er, »und die hat's wieder von der Frau Gutsverwalter, und so geht das weiter. Aber ich hab' wirklich keine Zeit, das Weibergeschwätz anzuhören . . .«
»Das sollst du auch gar nicht. Ich hab' dir nur mitgeteilt, daß es allgemein auffällt. Basta!«
Der andere hing sich den Mantel um und griff nach Hut und Stock. »Ihr seid zu ungeschickt!« brummte er. »Selbst wenn's so wäre – ist es nicht zu dumm, dann die zwei Leute erst mit Fleiß darauf zu stoßen ›he – wie ist's, habt ihr wirklich nichts miteinander?‹ Damit erreicht man höchstens das Gegenteil. Das kannst du jedem und jeder sagen, die's angeht!«
»Mit deiner Grobheit beweist du gar nichts, Doktor!« sagte der Fabrikant, »und an etwas Schlimmes glauben wir natürlich nicht! Es ist nur so ungewöhnlich . . .«
»Was denn?« Der andere wurde zornig. ». . . Daß ein vielgeplagter Mensch, der die traurige Aufgabe hat, all euch klägliche Schöpfungsprodukte hier zurecht zu flicken – und rings Bettelvolk und Schmutz und Häßlichkeit – daß es den freut, einmal nicht bloß die Leiber zu kurieren, sondern ein . . . Arzt der Seele zu sein . . . in eine Frauenseele hineinzuleuchten, in eine ganz unberührte, schlafende Frauenseele und sie aufzuwecken . . . Das . . . das ist doch etwas ganz anderes als bei uns Männern . . . unser plumpes Räderwerk da innen – das ist eine Offenbarung! Gott weiß, was da nebeneinander Platz hat und zugleich im Gange ist, wenn man es erst einmal belebt. Da soll ich wohl euch zuliebe darauf verzichten? Fällt mir nicht ein! Das ist für mich etwas ganz Neues im Leben – was hab' ich denn sonst von diesem Hundeleben hier und überhaupt von meinem ganzen Leben? Ewig Arbeit und wieder Arbeit und noch einmal Arbeit! Das da – das ist meine Erholung! Meine Freude! Da bilde ich etwas! Da schaffe ich etwas! Da bring' ich einen tapferen, klugen Menschen, den man sein ganzes Dasein hindurch sträflich verwahrlost hat – den man hat förmlich verschimmeln lassen in muffigen Schlössern und Klöstern – da bring' ich den Menschen zu sich selbst, zum Gebrauch seiner Vernunft und seines Willens, daß er sich endlich seiner selbst freut und ich mit ihm. Und ob dieser Mensch zufällig lange Haare hat und Gräfin ist, das ist mir vollkommen gleich! So – nun weißt du's! Die Esel, die hinter jeder Schürze her sind, die begreifen natürlich nicht, daß es so was gibt. Freundschaft mein' ich. Aber es gibt es doch! Oder besser noch – das ist ein Verhältnis wie zwischen zwei Kameraden, einem älteren und einem jüngeren! So soll es doch zwischen Mann und Weib sein! Oder erziehst du etwa nicht an deiner Frau herum? Ich seh's doch alle Tage.«
»Gewiß. Das ist die Sache des Ehemannes! Und ihr Mann . . .«
»Der Graf? Das ist doch ein Trottel. Über den kann man doch nicht reden! Wenn er vernünftig wäre, wär' ich freilich überflüssig. Aber er ist es nicht. Sitzt da und sieht nicht einmal, was ihm das Glück in den Schoß geworfen hat. Prügeln möcht' man solch einen Kerl . . .«
»Aha!« sagte der Fabrikant und nickte. »Jetzt kommt's zu Tage!«
Der andere brach ab. »Das ist natürlich nur 'ne Redensart! Aber der Teufel soll da nicht wild werden, wenn ihr ewig bohrt und stichelt und hinterm Rücken tuschelt und Gesichter macht, als wäre Gott weiß was los. Ich sage noch einmal: Es ist zu dumm! Mit solchem Mißtrauen und argwöhnischem Gerede hetzt man die Leute höchstens dahin, wo sie gerade nicht hinsollen und nicht hingehören. Das ist das Ende. Und wenn mir jetzt noch einmal einer mit der Geschichte anfängt, dann werd' ich grob!«
»Darauf wäre ich nach deinen Leistungen eben wirklich gespannt!« sagte der Hamburger kaltblütig. »Aber ich will es lieber nicht probieren. Adieu und vergiß nicht: heute abend um sieben Uhr bei mir Festlichkeit im kleinen Kreis als Vorfeier zur Eisenbahneröffnung.«
»Ja, ich werd' schon kommen!«
»Hoffentlich! Meine Frau kann zwar als freie Amerikanerin nicht kochen, aber sie phantasiert schon die ganze Zeit von Büchsenspargel, Büchsenhummer und Büchsenfleisch, als lebten wir mitten in der Welt und nicht als Sträflinge in Sibirien. Also jetzt gehst du aufs Schloß?«
»Jetzt gehe ich aufs Schloß!« Der Kassenarzt stülpte sich unwirsch den Schlapphut über die Stirne. »Du kannst es durch den Gemeindediener im Dorfe ausschellen lassen, daß ich wieder einmal oben bin – wenn dir die drei Mark nicht leid tun. Ich werd' mich den Kuckuck um euch kümmern . . .«