Rudolph Stratz
Die ewige Burg
Rudolph Stratz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III.

Stumm und langsam wandelten die drei in beinahe gleichmäßiges Schwarz gehüllten Gestalten den noch mit moderndem Herbstlaub überschütteten, regenfeuchten Pfad unter dem kahlen Geäst der Ulmen auf und ab, der General leicht auf einen Stock gestützt, mit im Winde wehenden Bartstreifen, der Römer nachdenklich gesenkten Hauptes, die Hände auf dem Rücken, der Roué trotz seiner zitterigen Beine den anderen immer um einen Schritt voraustrippelnd.

Um sie sprühte der Regen auf die vermorschten Umfassungsmauern der Burg. Ein großer Teil des alten Schlosses lag halb oder ganz in Trümmern, seit es erst im großen Bauernaufstand, dann wieder im Dreißigjährigen Krieg zweimal eingeäschert worden war und lange Zeit hindurch der Umgegend als Steinbruch gedient hatte. War doch drüben im Grenzhof noch ein Quaderblock mit dem alten Wappen der Wodenstein, den drei grimmen Wisentköpfen, eingemauert. Und noch jetzt tönte in stürmischen Nächten, zumal bei eintretendem Tauwetter, von irgendwoher wohl ein dumpfes Poltern und Kollern und verriet, daß wieder ein Stück des ewigen Schlosses in sich niedergebrochen war. Ja, es galt schon für gefährlich, den seit undenklichen Zeiten ragenden Riesenbau des Bergfrieds zu besteigen.

Die Erben der Vergangenheit hatten auch so gut wie nichts getan, um die Zerstörung aufzuhalten. Nur der Zopfbau aus dem vorigen Jahrhundert, der jetzt, mit beiden Flügeln an die zerfallene Burgfeste sich lehnend, allein als Wohnung diente, war ihr Werk, Sonst ging ringsum langsam, unerbittlich, im Rollen der Jahre und Jahrhunderte der Zerfall seinen Gang, kein jäher Eingriff mehr durch Blitzschlag oder Feindeshand, nein, ein müdes Modern, wie das Geschlecht selbst immer schattenhafter wurde und abstarb – dies Geschlecht der kriegerischen Abenteurer, der Kirchenfürsten und messalinenhaft lächelnden gepuderten Schönheiten oben an den Wänden, dessen jetziger Vertreter seine Hauptbeschäftigung während des Tages darin fand, die Damkühe und Karpfen zu füttern, in seinem Briefmarkenalbum zu kramen und des Abends auf der Zither den letzten Straußschen Walzer zu klimpern.

Der Regen rauschte stärker. Der Roué fröstelte. Er hemmte plötzlich seinen Gang. »Genug jetzt!« sagte er. »Ich steige hinauf ins Archiv. An einem so trüben Tag wie heute muß ich zeitig anfangen. Denn sowie es dämmert, können meine alten Augen diese Krakelfüße aus dem sechzehnten Jahrhundert doch nicht mehr entziffern.«

Der Militär lächelte. Er nahm die Studien des gelangweilten Lebemannes nicht recht ernst. »Also im sechzehnten Jahrhundert bist du doch schon?« fragte er zerstreut.

»Ja. Bei dem Bericht Eitelwolfs IV. über die Erstürmung Roms durch den Connetable. Du weißt . . . Eitelwolf führte einen Teil der deutschen Landsknechte und wurde dabei schwer verwundet.«

»Und kurz darauf starb er am Fieber«, brummte der General. »Beim Zuge Karls V. nach Algier.«

»Das war doch sein zweiter Sohn!« Der Lebemann wurde eifrig. »Er selbst blieb doch schließlich in Rom tot und liegt da auch begraben. Und ebenso der älteste Sohn, der schwerkrank aus Palästina zurückkam. Ich glaube, daß ich noch Näheres darüber in der Zimmernschen Chronik finden werde.«

»Lieber Gott . . . wer kann das alles auseinander halten?« sagte der alte General, und ein gewisser Familienstolz klang jetzt doch durch seine hüstelnde und zitternde Stimme. »Ich glaube, es gibt überhaupt kein Schlachtfeld – von den Hohenstaufen bis Mars-la-Tour – wo nicht wenigstens ein bißchen von unserem Blut vergossen worden ist.«

Der Pariser nickte und zog die gefärbten Augenbrauen hoch. »Kannst du dir vorstellen,« fragte er leise und eindringlich, »daß allein vom fünfzehnten bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts siebzehn Wodenstein vor dem Feinde gefallen sind? Fast alles Marschälle, Landsknechtsführer, später Generale – kurz, stets in hohen Stellungen. Und zugleich haben wir in der Zeit noch zwei regierende geistliche Fürsten geliefert – einen in Speier und einen in Trier, von den Äbten und Prälaten gar nicht zu reden, und außerdem noch Gesandte des Heiligen Reichs in Venedig, Konstantinopel und Gott weiß wo.«

Die beiden anderen Brüder lächelten still. Dem Soldaten wie dem Geistlichen schien es seltsam, daß gerade in diesem verwelschten Wüstling der Boulevards neben ihnen allein noch die Erinnerung und das Sicheinsfühlen mit dem ehrwürdigen Helden- und Priestergeschlecht lebendig war.

»Du hast wohl recht!« sagte der Römer endlich, und man merkte wieder an dem weichen Tonfall und dem stockenden Fluß der Worte, wie schwer er sich, des Italienischen und Lateinischen gewohnt, in seine fremdartige Muttersprache fand. »Die Mauern hier haben ein Jahrtausend Weltgeschichte gesehen. Aber es ist vorbei. Für immer!«

»Wieso? Ist unser Geschlecht etwa schon ausgestorben? Da gehen wir doch noch zu dritt spazieren, und da drinnen . . .«

Der hagere Mann aus dem Vatikan blieb stehen und richtete sein geistvoll-müdes, bebrilltes Antlitz auf den Bruder. Ein Lächeln spielte um seine Lippen.

»Wir gehen hier spazieren!« sagte er halblaut, in der schmeichelnden, beinahe singenden Klangfarbe des Romanischen. »Aber wie die Gespenster am Mittag. Eigentlich leben wir – ich meine die ehemaligen Grafen von Wodenstein – nicht mehr, sondern die drei Männer hier sind eben ein Militär, ein geistlicher Herr und ein . . . ein . . . Privatmann, die zufällig diesen Namen führen!«

Der Lebemann überhörte absichtlich die letzte, gegen ihn gerichtete Spitze. Er war zu erregt über die allgemeine, paradoxe Behauptung seines Bruders. Die Röte stieg in seine welken Wangen . . .

»Dies Geschlecht . . .« begann er. »Lieber Bruder . . . verzeihe . . . aber du leugnest da etwas, was uns allen heilig sein sollte . . . Dies Geschlecht . . .«

Der Priester machte eine leichte Handbewegung, mit der er ihm, als sei das ganz selbstverständlich, Schweigen gebot. »Dies Geschlecht ist tot«, sagte er noch einmal. »Es hat keine Daseinsberechtigung mehr. Wir sind mit dem alten Reich zugrunde gegangen, wir von der Reichsritterschaft so gut wie die Mediatisierten, und hausen wie Mumien in der lebendigen Gegenwart. Die Generale und Priester, von denen du sprichst – die waren hier freie Herren. Sie erhoben die Steuern und Zölle und regierten ihr Land. Jetzt aber kommt in dies Schloß der Steuerbote so gut wie in die Hütte unten, der Gendarm auf der Straße kann uns arretieren wie jeden Handwerksburschen, denn wir sind vor dem Gesetze gleich. Wege-, Brücken-, Landespolizei hat man uns abgenommen, die besorgt der Kreisrat oder Oberamtmann, und unser einstiges Gebiet vertritt im neuen Reichstag zu Berlin, wie du weißt, ein antisemitischer Schneidermeister, der uns nie gesehen hat und sich den Kuckuck um uns kümmert!«

»Ja – wenn du das so auffaßt!« sagte der Lebemann. Aber der andere ließ ihn nicht zu Worte kommen. Es war, als wolle er den Anlaß benutzen, um sich vor sich selbst wegen seiner Entfremdung gegenüber dem deutschen Vaterland und der engeren Stammesheimat zu rechtfertigen.

»Wir haben keine Pflichten mehr!« fuhr er fort. »Ja, früher, wo wir Hunderte von Hörigen und Zinsbauern gegen Feinde, gegen Hungersnot und Seuchen schützen mußten –! Und weil wir keine Pflichten mehr gegen die Allgemeinheit haben, haben wir auch keine Rechte mehr, und wenn in dem Gebiet, wo wir einst Herren waren, der eben genannte Schneidermeister in den Reichstag gewählt wird, so gilt deine Stimme genau so viel oder so wenig wie die eines Stallknechts oder eines beliebigen Dorfidioten unten. Mit einem Worte: Unser Geschlecht ist ein Fossil. Es sitzt in einem Glaskasten, wie ein seltenes Geschöpf aus der Urzeit, und ist ebenso unnütz und tatenlos. Und darum,« schloß er und sah starr vor sich hin, daß die kalten Augen durch die Brillengläser funkelten . . . »darum bin ich nach Rom gegangen.«

»Und ich nach Potsdam!« ergänzte kurz der General.

»Und ich nach Paris? Das gehört wohl auch noch dazu?« sagte der Lebemann frivol. Er wußte nicht recht, was er erwidern sollte. »Du . . . du wirst doch nicht leugnen, daß wir immer noch eine Art Sonderstellung einnehmen . . .«

»Ich habe im Gefängnis gesessen«, sagte der Römer gleichgültig, und dem anderen fiel es ein, daß allerdings zur Zeit des heftigsten Kulturkampfs Gregorius Wodenstein wie andere widerspenstige Priester sechs Monate in Haft gewesen war. Der Gedanke erschreckte ihn doch, und er schwieg.

Ein Windstoß umbrauste sie, daß der Mann aus dem Vatikan sich fröstelnd in seinen schwarzen Mantel hüllte. Er hatte heute mehr geredet als sonst in Wochen. Nun versank er wieder in seine gewöhnliche Schweigsamkeit. »Es ist vorbei!« wiederholte er nur noch einmal mit einem Lächeln um die schmalen Lippen. »Es ist vorbei! Wir sind tot!«

Die anderen waren mit ihm stehen geblieben und schauten über die bröcklige Mauer hinab ins Tal. Ein heller, herrischer Laut klang von unten – die Fabrikglocke, die die Frühstücksstunde anzeigte. Das Gebäude selbst konnte man von hier nicht sehen. Ein in Trümmer gefallenes Vorwerk des Schlosses lag auf halber Berghöhe dazwischen, ein zur Flankierung etwaiger Angreifer dienender dicker, runder Turm, den die Wodensteiner bei einer der ewigen Fehden des Mainzer Kurfürsten mit der kaiserlichen Gewalt erbaut und den »Trutzkaiser« getauft hatten.

Die Franzosen hatten den Trutzkaiser ausgebrannt. Seitdem wucherten Ginster und Brombeergeranke um die geschwärzten Steine, die Schleiereulen und Fledermäuse hausten innen in den Rissen des Gemäuers, und selten nur tastete sich ein menschlicher Fuß durch Brennesseln und hohes Gras bis in die Nähe des verrufenen Ortes.

Es hieß, daß es dort spukte. Nach Einbruch der Dämmerung wagte sich insbesondere ein weibliches Wesen um keinen Preis dorthin. Es lag da eine Grabplatte zur Erinnerung an einen russischen Offizier, der während der Freiheitskriege hier mit dem Pferde gestürzt, auf der Stelle gestorben und am nächsten Tage begraben worden war. Der »Ruß« sollte jetzt noch des Nachts da umgehen. Gesehen hatte man ihn seit lange nicht mehr und glaubte auch im Volke nicht mehr so recht daran. Aber das unbestimmte Grauen blieb.

Der Roué veränderte die Richtung seines Blickes und blinzelte die in Windungen sich zu Tale ziehende Straße hinab. Dort unten schritt die schlanke Jägerin durch Regen und Wind, in einen weiten Mantel gewickelt, den Kopf zurückgeworfen und so rasch und behende den abkürzenden Fußpfad von glitschrigem Lehm niederklimmend, daß der Diener hinter ihr mit dem Korb am Arm kaum zu folgen vermochte.

»Wir sind tot . . . hast du vorhin gesagt . . .« begann er. »Aber warum? Weil unser Blut müde und alt geworden ist! Keine Auffrischung von außerhalb. Ein ewiges Ineinanderheiraten mit anderem Uradel, der ebenso alt und müde ist wie wir. Und um uns ringt sich immer neues Leben in die Höhe und gebraucht seine Fäuste und Ellbogen und macht sich freie Bahn! Wie ich Wera da unten gehen sehe, muß ich wieder an ihre Mutter und deren Laufbahn denken! Ich hab' die alte Froningen noch in Wien als Operettensängerin gekannt, wie sie jung und mager war. Und . . . schön . . .« Der Alte küßte verklärt seine Fingerspitzen und schaute wieder der Jägerin auf ihrem Talweg nach. »Ihre Tochter da unten ist lange nicht so schön wie sie, aber das Beste hat sie doch: Was wir nicht mehr haben! Kraft . . . Gesundheit . . . Feuer . . . Rasse . . . Eine neue Zeit kommt! Es steigt von unten herauf. Neue Menschen! Neue Nerven! Neues Blut!«

»Ich danke für die Neuzeit!« sagte der General, während sie dem Schloßportal zugingen. »Mir graut bei dem Gedanken, daß ich noch lange im zwanzigsten Jahrhundert leben sollte. Mit Menschen ohne Glauben, ohne Ehrfurcht, ohne . . . schau dir nur diesen Irion zum Beispiel an, zu dessen Frau unsere Nichte eben geht . . . Da hast du solch einen Patron. Gift sind diese Sozialdemokraten! Gift . . . Gift!«

Der Pariser lächelte zynisch. »Sie wollen uns wegnehmen, was wir haben! Das ist recht unschön! Ich gebe es zu. Aber wenn mich nicht alles täuscht, haben wir im Mittelalter anderen gegenüber denselben Grundsatz befolgt.«

Der General zuckte die Achseln. »Für derlei Witze bin ich unempfänglich!« murmelte er, und sie setzten stumm ihren Rückweg fort.

An dem Portal blieb der den anderen vorausgetrippelte Pariser stehen. Ärgerliche Neugier malte sich auf seinen Zügen, während er seinen Spazierstock hob und damit auf die am Eingang eingemeißelten Wisenthäupter deutete. »Welcher Lümmel erlaubt sich wohl hier Plakate anzubringen?« brummte er und setzte seinen Zwicker auf. »Da bin ich doch wirklich gespannt!«

Auch der Priester trocknete schon seine abgenommene Brille mit dem Seidentuch, um zu lesen. Aber vor den beiden hatte der hagere Preuße bereits die ersten Zeilen entziffert.

». . . ›Mutter . . . was läuft der Herr Gendarm denn so?‹« . . . buchstabierte er. ». . . ›Still, Kind! . . . Die Sozialdemokraten sind endlich im Dorf!‹ . . .«

»Ah!« Mit einem zornigen Griff riß er das Blatt herab, zerknüllte es und stieß es mit dem Fuße weit weg . . . ». . . Dreck! Dreck! Pfui Teufel! . . . Ein sozialdemokratisches Flugblatt! Ich werd' dem Gärtner sagen, daß er den Dreck wegschafft . . . und daß er entlassen ist, wenn das noch einmal vorkommt! . . . Da hast du's, lieber Freund!« wandte er sich an den Jüngsten. »Diese Unverschämtheit . . . im eigenen Hause ist man nicht vor der Fabrik da unten und der Eisenbahn und der ganzen Schwefelbande sicher, die seitdem aus Mannheim und Darmstadt herüberkommt und die Leute verhetzt. Das nennen sie nun Steigen der Kultur, wenn sie da unten Leder gerben und Treibriemen schnurren lassen und Schienen legen. Mag sein! Ich geb's zu. Aber das weiß ich: Mit der ersten Schiene und dem ersten Schornstein kommt auch diese verwünschte und vermaledeite Weltanschauung, die alles, was uns heilig ist, verhöhnt, die schließlich noch die Armee anfressen wird, bis der Teufel das ganze Reich holt. Äh . . . an den Galgen sollte die Bande . . . an den Galgen!«

»Wenn wir noch im sechzehnten Jahrhundert lebten!« sagte der Pariser und bemühte sich, dem mit langen Schritten der Treppenhalle zusteuernden alten Preußen zu folgen. »Im Bauernkrieg hat unser Ahnherr Eitelwulf wenig Federlesens gemacht. Da flogen die Köpfe, daß es eine Art hatte. Aber heutzutage haben wir ja keine Nerven mehr. Gregor hat ganz recht. Der Crapule gehört die Welt, und wir müssen sterben!«

Der bebrillte Mönch hinter ihm lächelte nur fein und stumm. Im Vatikan bangte man sich schon lange nicht mehr vor dem zwanzigsten Jahrhundert und seinen roten Gespenstern, längst hatte man im stillen den Zeiger der römischen Weltuhr nach der neuen Zeit gerichtet, getaufte Juden zu Kirchenfürsten gemacht und mit Republiken Freundschaft geschlossen. Mochte alles zusammenstürzen: Der Beichtstuhl blieb! von ihm aus beherrschte man die Weiber und mit den Weibern die Welt.



 << zurück weiter >>