Rudolph Stratz
Die ewige Burg
Rudolph Stratz

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II.

In dem großen Saal, dessen altersgeschwärztes Eichenschnitzwerk und zerschlissene Gobelins in dem grämlichen Morgenlicht verschwammen, war alles still. Die drei alten Herren, die von dem lautlos auftretenden und schweigsamen schottischen Kammerdiener versorgt, um den halb abgeräumten Frühstückstisch saßen, hatten sich nichts zu sagen.

Drei Brüder am Ende ihres Lebens. Da ist, was zu besprechen war, längst besprochen, und was nicht zur Rede kam, das bleibt auf immer ein Geheimnis des einen vor dem anderen. Ein langer Daseinslauf hatte sie einander entfremdet – von jenen fernen Tagen ab, wo die Knaben mit flatternden blonden Locken wie ein Rudel übermütiger Füllen durch den Schloßpark tollten, bis zu diesem fahlen Märzmorgen, wo die Greise stumm und fröstelnd, die Zeitung in der Hand, einander zugähnen.

Oben am Tisch der römische Priester, geistvolle Habichtszüge unter kalt forschenden Augen, um die schmalen Lippen jenes feine Lächeln, das in dem menschenergründenden Vatikan sich allmählich wie eine Maske über dem eigentlichen, inneren Antlitz versteinert. Seine wachsartig weißen, mageren Hände blätterten in dem »Osservatore Romano« und der »Voce della Verita«, und zuweilen warf er auch bei dem Wenden der Seiten einen flüchtigen Blick hinein. Ob er wirklich darin las, war nicht zu erkennen. Und ebensowenig, woran er dachte, wenn er, die Jesuitenblätter sinken lassend und sich das schwarze Käppchen auf dem kahlen Haupte zurechtrückend, hinaus in die Wälder schaute. Es war, als sehne der verzärtelte Römling sich nach dem Süden zurück, als sei er ein Fremdling hier im Schlosse seiner Väter und dort an dem Tiber zu Hause, wo einst das Collegium Germanicum seine Pforten hinter dem Jüngling geschlossen und wo ihn jetzt aus dem tausendfach verschlungenen Treppen- und Zimmergewirr, den Kapellen, Museen, Gärten und Kasernenstuben der Papststadt jenseits der Engelsbrücke ein leichter Fieberanfall in das Mutterland gerufen hatte, das er nicht mehr kannte und nicht mehr liebte, dessen Sprache selbst nur ungelenk über seine Lippen floß.

Neben ihm, von Frivolität das ganze rötlichgedunsene, mit einem pechschwarz gefärbten und aufgedrehten Schnurrbart geschmückte Antlitz strahlend, der Jüngste der drei, der berühmte Pariser Lebemann, jetzt eine gefallene, unter Kuratel befindliche Turfgröße, ein ausgebrannter Krater von Unvernunft, Leidenschaft und Leichtsinn. Seine Bewegungen waren noch von einer gewissen zitterigen Elastizität, und wenn er des Nachmittags und oft die Nächte hindurch an seiner Lieblingsbeschäftigung in dem Mönchsdasein eines freudlosen Alters, an seinen Memoiren schrieb, dann zuckte es mit tausend Schlängelchen um die Lippen des alten Elegants, und ein dankbar gerührtes Lächeln verklärte das welke Gesicht. Gott sei Dank . . . er hatte doch etwas vom Leben gehabt! Seine Memoiren umfaßten vielleicht einen engen Ausschnitt des Daseins, aber den wenigstens hatte er mit dem Blick des vielerfahrenen Weltmanns in allen seinen Höhen und Tiefen ausgemessen. Er hatte Epochen in seinem Dasein gehabt, wo er sich in den Sensationen des Turfs völlig in einen Engländer verwandelte, er hatte dann eine Zeitlang an dem verschwiegenen Treiben gewisser kleiner deutscher Höfe Geschmack gefunden, bis die Liliputanerhaftigkeit dieser Ausschweifungen inmitten eines friedlichen Residenzleins ihm grotesk und widerwärtig erschien, und er war endlich in dem großen Hafen der Boulevards vor Anker gegangen, Jahrzehnte hindurch, mehr und mehr sich zum spöttischen und blasierten Pariser Klubmann wandelnd, bis endlich alles, Jugend, Geld, Gesundheit, dahin war. Da hatte er, nur gezwungen und wehmütig, ein Kreuz über ein Leben am grünen Tisch und auf dem grünen Rasen geschlagen, das ihm nichts weniger als verfehlt schien, und sich im Heimatsschloß verkrochen, das all die lange Zeit hindurch im Rauschen der Wälder, fern im Odenwald geduldig auf ihn wie auf so viele vor ihm gewartet. Und dank seiner Chamäleonsnatur blieben ihm auch diese düsteren Räume nicht lange fremd. Wie vordem Brite und Pariser, wurde er jetzt plötzlich deutsch, vertiefte sich im Archiv in die Geschichte seines Stammes und arbeitete in seinen ernsteren Mußestunden, wo er keine Lust empfand, die Skandalchronik der sechziger und achtziger Jahre von Petersburg bis Madrid in seinen Lebenserinnerungen zu mumifizieren, an einer Erweiterung und Fortsetzung der von einem Heidelberger Professor um die Mitte des Jahrhunderts verfaßten Geschichte des Hauses Wodenstein.

Der ernste, strenge Mann neben ihm mit dem gefurchten Gesicht, dem weißen Schnurrbart und dem nach Art des alten Kaisers Wilhelm ausrasierten Vollbart, hatte dafür keinen Sinn. Er fühlte sich als preußischer General in allererster Linie. Im Jahre 1870, am blutigen Tage von Mars-la-Tour, als die »Todesritte« klaffende Lücken in die Reihen des deutschen Uradels rissen, und er, seiner Schwadron weit voraus, als erster in die feindliche Batterie hineinfegte, da hatte er den kriegerischen Mut seiner Ahnen glänzend bewährt und verdankte ihm eine rasche Friedenskarriere darauf. So war ihm, der mit seinem Blut und mit dem Eisen in der Faust an dem neuen Deutschen Reiche kitten geholfen, das alte Heilige Römische Reich Deutscher Nation, in dessen Dämmerschatten sein Stammbaum sich aufwärts verlor, nur noch ein leerer abgestorbener Begriff. Sein Leben gehörte der Gegenwart, seine Heimat war der Exerzierplatz, und als er gebrochenen Herzens vor einem Jahr von seiner Kavalleriebrigade Abschied genommen, weil seine Gesundheit es ihm verbot, noch weiter ein Pferd zu besteigen, da war ihm sein ferneres Leben völlig gleichgültig geworden. Er wußte, daß es nutzlos war, und wartete still in der Odenwaldburg, die so viele Krieger hatte vor ihm kommen und gehen sehen, auch das Ende seiner Tage ab.

Nach außen war er immer gleichmäßig ruhig, ernst und höflich. Aber in einsamen Abend- und Nachtstunden kam zuweilen eine tiefe Wehmut über ihn. Es dünkte ihn wie ein Traum, daß er, der eisgraue Hagestolz vor langer Zeit einmal eine Familie besessen hatte.

Vor langer, langer Zeit. Sie waren sehr glücklich miteinander gewesen. Er und seine Frau. Ein Jahr hindurch. Dann kam das Kind und starb. Zwei Tage nach ihm die Mutter.

Er hatte nicht wieder geheiratet. Er konnte es nicht. Denn er fürchtete sich jetzt vor dem Schicksal. Einmal hatte er es durchgemacht. Mit dem ewigen Grauen vor einem zweiten solchen Schlage wollte er kein neues Glück erkaufen.

Schließlich gewöhnt man sich an alles. Er saß ruhig, beinahe heiter am Tisch und studierte die Berliner »Kreuzzeitung«, wie der Roué ihm gegenüber den Pariser »Gil Blas« und der Jesuit da oben die italienische »Voce della Verita«.

Stille. Tiefe Stille. Nur die drei Zeitungen rascheln einander zornig an, draußen stöhnt der Wind, eintönig tickt die Wanduhr, und der hagere Schotte schleicht vorsichtig wie in einem Sterbezimmer am Büfett hin und her. Was sollten sich die drei Greise auch sagen – der alte Priester, der alte General, der alte Roué? Mochte sich auch der eine als Römer, der andere als Preuße, der dritte als Pariser fühlen, sie kannten sich doch zu genau und zu lange. Ja, sie wußten, daß sie sogar in diesem Augenblick des Schweigens miteinander eins waren, in einer Art Herbststimmung, einer tiefen Melancholie am Abschluß des Lebens.

Von den Wänden schauten die Toten auf die Lebenden, viele Generationen im Laufe der Jahrhunderte. Trotzige krummstabbewehrte Kirchenfürsten, langgelockte gravitätische Abenteurer des dreißigjährigen Kriegs und wohlwollend lächelnde feiste Duodeztyrannen und Wüstlinge aus der Jammerzeit des achtzehnten Jahrhunderts. Frauen dazwischen, jung und alt, schön und häßlich, viele mit einem rätselhaften Messalinalächeln trotz Reifrock und gepudertem Haarturm, dem Zeichen des unbändigen, durch alle die Jahrhunderte kochenden und siedenden Bluts.

Das Blut lebte auch noch in ihnen. Das wußte der Priester, der es in beinahe übermenschlicher Askese bezwungen, der Offizier, den es warm und rot bis zu den Sporen hinab bei Mars-la-Tour umrieselt, der Lebemann, der jetzt noch, siech und alt, plötzlich, wenn draußen der warme Frühlingssturm stöhnte, einen unbändigen Drang empfand, sich von neuem in ein Leben voll toller Genüsse und Ausschweifungen zu stürzen.

Jawohl, die Toten da oben, die Lebenden da unten waren eins. Sie kamen und gingen, immer neu und immer doch gleich, wie eine Eiche immer wieder Frühlingssprossen treibt, wenn ihre letzten Winterblätter fallen. Aber innen in der Eiche sitzt ein Wurm. Der heißt die Zeit und nagt und bohrt, bis alles Mark in Moder sich gelöst hat. Wohl steht der Baum noch starr und unversehrt. Aber plötzlich bricht er, der die Stürme der Jahrhunderte überdauert, vor einem spielenden Sommerlüftchen zusammen. Seine Zeit ist um. Er hat ausgegeben, was an Lebenskraft und Mark in ihm war.

Unten am Tisch saß Graf Pius, der Herr des Schlosses, und frühstückte, schweigsam und zerstreut lächelnd, wie das seine Art war, besonders in Gegenwart der drei Greise, in der er sich gedrückt und befangen fühlte. Er hatte die Empfindung, als sähen sie ihn zuweilen mißbilligend, mit trüben Blicken an, und war sich doch keiner Schuld bewußt. Er hatte nie jemand etwas zuleide getan, selten überhaupt das Schloß, wo Mutter und Tanten zärtlich seine Kindheit gehegt, verlassen. Hier fühlte er sich am wohlsten, in einem träumerischen Behagen, wie ein Knabe, der zur Ferienzeit durch die Wälder streift, Käfer sammelt und dem fernen Kuckucksschlage horcht. Und doch wußte er, daß er hier einsam war und die Bewohner des Schlosses ihm fremd, wie die grimmen Kriegsmänner, die schlangenklugen Priester, die gottverlassenen Abenteurer oben an den Wänden, denen er auch äußerlich nicht ähnelte. Wohlgebaut, mit kleinem Schnurrbart, offenen Zügen und freundlichem Blick, war er das Bild eines bescheidenen und dienstfertigen jungen Mannes, eher von untergeordneter Stellung als gräflicher Förster etwa oder Verwalter denn als Besitzer und Gebieter der weitausgedehnten Herrschaft.

Früher hatte er wohl mit seinen Oheimen gestritten, wenn ihm einer in leisem Vorwurf andeutete, daß er sein Leben tatenlos im Schlosse verträume. Es könne doch nicht jeder eine Eminenz im roten Kleid werden oder ein General oder ein ganz wilder, verlorener Geselle, den schließlich bei den Cowboys oder Goldgräbern eine Revolverkugel ereile, wie das alles schon in der Familiengeschichte dagewesen. Er wolle einfach seine Ruhe, wie er auch die anderen Leute in Ruhe lasse, und die finde er hier und habe keine Lust, sich im Staatsdienst abzumühen, sich auf dem Exerzierplatz schuhriegeln zu lassen oder in fremden Ländern und Meeren herumzutreiben.

Die Alten pflegten darauf wenig zu antworten. Sie lächelten nur seltsam vor sich hin. Er hätte ihre Wehmut ja doch nicht verstanden, daß dies alte Helden- und Priestergeschlecht in solch einem blassen blonden Dutzendmenschen auslief. Seit seiner Ehe war überhaupt von derlei nicht mehr die Rede. Die alte und die neue Generation gingen stumm nebeneinander her.

Stille ringsum. Nur der Roué pfiff leise vor sich hin und lächelte, ein greiser, müde gewordener Mephisto. Wozu sich auch aufregen und ärgern und sorgen? »Pas de zèle!« hatte ihm Talleyrand aus dem Herzen gesprochen. Es ging ja alles hin, die ganze Erde wie dies kleine, seit Jahrhunderten in Wodensteins Mauern absterbende und sich erneuernde Häuflein wappentragender Menschen. Draußen raschelte der Efeu, die Wanduhr tickte, und in ihren Schlägen klang dem verwelkten Boulevardier immer wieder eintönig das alte Wort: »Tout passe – tout lasse – tout casse . . .«

Auch dies Geschlecht! Der alte Stamm hatte seine Kräfte aufgezehrt. Was jetzt noch von ihm fiel, war taube Frucht.

Aber schließlich – noch war das Ende ja nicht da!

Es klopfte ungestüm mit dem Fuß an die Türe, der Diener flog, sie zu öffnen, und die drei Grauköpfe schauten gleichzeitig mit einem neugierigen, nachsichtigen Lächeln nach dem Eingang, der jungen Jägerin zu, die lachend, mit geröteten Wangen, ihr Kind in beiden Armen hoch emporhaltend, über die Schwelle trat.

»Guten Morgen!« rief sie. »Seid ihr wirklich schon alle auf? Ich bin seit zwei Uhr aus dem Bett und draußen in den Bergen und habe einen Auerhahn geschossen, einen Kerl von gewiß zehn Pfund . . .«

»Bei dem Wetter?« fragte aufstehend der General.

»Herrlich war's draußen! Ich hab' den Sturm gern. Einen schönen Gruß vom Frühling, und er wär' unterwegs!«

Sie setzte den Kleinen zu Boden und schüttelte sich, daß die Wassertropfen sprühten. Ein kalter frischer Waldhauch ging von ihr aus, und an der Stelle, wo sie stand, lagen ein paar welke Blätter und Tannennadeln am Boden.

»Da!« sagte sie herausfordernd und deutete auf den Fichtenzweig an ihrer Mütze, die sie unbekümmert auf dem Kopf behielt. »Das Siegeszeichen! Wegmann hat es mir ritterlich überreicht und behauptet, ich gäbe einen kompletten Wilderer ab! Muffig ist's bei euch im Zimmer, wenn man so von draußen kommt! Komm, Wulfi – geh herum und sag Guten Tag! Nachher wirst du gleich ins Bett spediert, mein Schatz!«

Sie führte den Kleinen herum. Der alte Roué zog ihn vorsichtig, wie einen kostbaren unbekannten Gegenstand, zu sich heran und tätschelte ihm das seidene Haar, während ein gutmütiges Lächeln um die ausgemergelten, von dem schwarzglänzenden Schnurrbart beschatteten Lippen bis hinauf zu den Krähenfüßen an den ergrauten Schläfen zwinkerte. Weib und Kind! Ihm, dem Pariser Klubmann, war das Zeit seines Lebens eine Art Schreckgespenst, das unvermeidliche Anhängsel der »guten Partie«, mit der man seine zerrütteten Finanzen schließlich ordnet. Gottlob, daß er diesem Schicksal entgangen! Aber im tiefsten Herzen regte sich in ihm doch jetzt, wo er siech und alt war, eine ärgerliche Reue, wenn durch die toten Schloßräume das zärtliche Lallen und die kosenden, kindischen Mutterworte klangen – das gähnende, öde Gefühl eines verlorenen Gebens.

Weib und Kind! – Dem alten Priester neben ihm war das ein leerer Schall. Er hatte es nie anders aus der Nähe gesehen als auf dem Bilde der Madonna mit dem Knäblein, und etwas von dieser ewigen allgegenwärtigen Schönheit schien ihm menschgeworden in der schlanken jungfräulichen Gestalt da drüben und dem Blondkopf, den ihre weißen Hände mütterlich geleiteten.

Weib und Kind – der dritte der Brüder, der General, sah stumm vor sich auf das Band des Eisernen Kreuzes in der Klappe seines schlichten schwarzen Rockes nieder. Tausende und Abertausende hatte an jenen blutigen Augusttagen von 1870 der Tod dahingerafft. Doch an ihm war er vorbeigegangen – an ihm, der ihn suchte, weil ihn nach dem Verlust seiner Lieben nichts mehr an die Welt fesselte, und hatte ihn dem langen, einsamen Leben überlassen.

Nun war Vera mit dem Kleinen bei ihrem Mann angelangt. Graf Pius strich zerstreut mit der Linken über das Haupt des Kindes. Die beiden sahen sich schweigend an. Dann stand er auf.

»Gehst du schon auf die Tigerjagd?« fragte sie, und ein kaum versteckter Spott kräuselte ihre Lippen. Der trotzige Ausdruck, den ihr Antlitz vor dem Betreten des Zimmers getragen, trat wieder kampfbereit hervor.

Er errötete leicht, wie immer, wenn sie ihn in letzter Zeit fest anschaute.

»Ich gehe das Damwild füttern,« sagte er. »Wegmann ist doch da?«

»Ja. Übrigens . . . du hast doch nichts dagegen . . . ich habe ihm vorhin mitgeteilt, daß er nächsten Monat mit Elise Hochzeit halten kann.«

Der Schloßherr ging auffällig rasch nach der Türe und nickte nur. Sie folgte ihm. »Einen Augenblick noch! . . . Höre, bitte! Wulfi ist nicht ganz wohl!«

»Ach – es ist nichts Besonderes!«

»Hoffentlich – aber man muß vorsichtig sein, wo unten im Dorf durch die fremden Erdarbeiter so viele Krankheiten eingeschleppt werden. Ich lasse den Doktor holen!«

»Den unten?«

»Natürlich!«

Er drehte sich um und blieb eine Weile stumm. Der Kammerdiener verließ auf einen Wink des Generals lautlos das Gemach.

»Ich mag den Kerl hier nicht!« sagte plötzlich Graf Pius ganz laut und mit einer bei ihm ungewohnten Entschiedenheit des Tons.

Sie schloß einen Augenblick die Wimpern, um sich Zeit zur Selbstbeherrschung zu lassen. »Und warum magst du den ›Kerl‹ nicht?« fragte sie dann gleichgültig.

»Du weißt es recht gut! Ich habe es dir oft genug gesagt. Er kommt ja gar nicht als Arzt. Er ist ganz einfach dein Seelenfreund! Ewig sitzt ihr beisammen. Er liest dir was vor, du singst ihm was vor – dann geht ihr zusammen spazieren und disputiert über Gott weiß was und schreibt euch schließlich noch Briefe – alle Welt spricht ja darüber.«

»Alle Welt!« Sie lachte. »Sage: wer ist denn das hier?«

»Nicht nur hier! Auch anderwo. Überall in unseren Kreisen! Frag nur deine Eltern! Sie kommen ja heute zu Besuch, um mit dir zu sprechen!«

»Auf deinen Wunsch!«

»Ja – auf meinen Wunsch – weil ich die Geschichte mit dem Doktor satt hab'. Das geht so nicht weiter! Diese wachsende Intimität seit den drei Monaten, daß er hier ist. Wo bleibe ich denn?«

»Du brauchst dich bloß zu uns zu setzen und mit uns zu gehen, statt deine Hirsche zu füttern oder stundenlang Zither zu spielen oder deine Briefmarkensammlung zu ordnen, wir haben wahrhaftig nichts vor dir zu verbergen, und du könntest viel von dem Doktor lernen!«

»Natürlich – das ist ja ein Wundermensch!«

»Gewiß – ein ganz ungewöhnlicher Mensch!« sagte sie. »Ich bin seelenfroh, daß ich den Verkehr gefunden habe. Ich war nahe daran, vor Langeweile er sterben!«

Er lächelte eigensinnig und etwas bösartig. »Ein schöner Verkehr. Der Sohn eines Butterhausierers aus der Umgegend oder was weiß ich. Solche Leute werden heutzutage Doktor.«

Da lachte sie hellauf. »Und was bin denn ich mütterlicherseits? Plebejerin vom reinsten Wasser! Aus irgend einem Steiermärker Bauernhof stamm' ich! Mein Großvater ist hinter dem Pfluge gegangen! Frage nur meine Mutter, wenn sie heute kommt! Sie erzählt ja mit Vergnügen aus ihrer Theaterzeit!«

»Das weiß ich ja alles!« sagte Graf Pius verdrießlich.

»Und du hast mich doch geheiratet, obwohl du wußtest, daß meine Mutter früher Operettensängerin war, ehe sie Freifrau von Froningen wurde. Also was hat dir denn der arme Doktor mit seiner plebejischen Abstammung getan? Was stört dich überhaupt unser freundschaftlicher Verkehr? Ihr werdet es mit dem vielen Gerede bloß dahin bringen, daß die Unbefangenheit zwischen ihm und mir aufhört. Und das wäre schade. Bisher sind wir wie zwei gute Kameraden. Und dabei soll es bleiben! Und das lasse ich mir nicht nehmen.«

»Nenn' es Kameradschaft! Meinetwegen! Ich denke ja auch an nichts anderes. An nichts Schlimmes. Aber ich sehe doch, wie du seither gegen mich bist.«

Wieder schloß sie, etwas betroffen, eine Sekunde die Augen, »Wieso hab' ich mich denn verändert?« fragte sie dann.

»Ja – treibst du denn nicht Spott mit mir! Fragst mich, ob ich auf die Tigerjagd gehe? Sagst, ich solle bei deinem Doktor was lernen? Jawohl – das ist der Geist deines Doktors – sein Einfluß! Er hetzt dich auf und setzt dir allerhand Ideen in den Kopf, die . . .«

»Ich habe noch nie mit ihm über dich gesprochen!« sagte sie kurz.

Ihr Gatte erwiderte darauf nichts. Er blieb eine Weile reglos stehen, die Augen auf den Boden geheftet und mißmutig an der Unterlippe nagend. Endlich tat er, was seine Gewohnheit am Ende solcher Gespräche war: er ging plötzlich ärgerlich und ohne ein Wort weiter zu sagen aus dem Zimmer. Man hörte, wie er draußen nach Wegmann rief. Dann verklangen seine Schritte. Im Hofe winselten die zurückbleibenden Hunde, und alles war still.

Vera sah ihm durch das Fenster nach. »Zu dumm!« murmelte sie halb zu sich, halb zu denen im Zimmer sprechend. »Soll einem denn alles genommen werden? Auch die letzte Anregung und Unterhaltung? Ich hause ja schon ohnedies wie die Fledermaus im Turm – hier in diesem verwunschenen Schloß. Und nun kommt endlich einmal ein Mensch, mit dem man reden und streiten kann . . . und lachen . . . ach Gott, ihr wißt ja alle gar nicht mehr, was Lachen ist . . .«

Sie brach ab und drehte sich um. Nun erst sah sie, daß auch der General und der Priester, die keine Familienszenen liebten, leise den Speisesaal verlassen hatten. Nur der Pariser saß noch da, rauchte nachdenklich eine Papyros und musterte sie mit seinen immer noch stechend scharfen, von tausend Fältchen umrahmten Augen.

»Wenn du so alt bist wie wir,« sagte er trocken, »lachst du auch nicht mehr!«

»Aber ich bin jung.«

»Und er ist jung. Das ist nun einmal der Lauf der Welt.«

Sie ging gereizt auf ihn zu. »Onkel! Ihr könnt einen wirklich zur Verzweiflung bringen! Es ist ja wahrhaft beleidigend für mich, dies ewige – Bin ich denn ein Kind, das sich nicht selber hüten kann? Ich weiß doch, wer ich bin und was ich mir schuldig bin? Habe ich denn wirklich nicht das Recht, mit irgend einem Mann Freundschaft zu schließen, wenn ich fühle, daß er auf mich einen guten Einfluß ausübt? – einen erziehenden Einfluß, möcht' ich sagen!«

Der alte Roué lächelte gutmütig. »Ach ja – Freundschaft –« sprach er. »Das ist ein schönes Wort, wie ich jung war, hab' ich es auch oft gebraucht.«

»Ja – du!« Sie lachte schon wieder und sah ihn belustigt und mitleidig an. »Mißbraucht – willst du sagen, Onkel?«

Der Klubmann erhob sich zitterig von seinem Stuhl. »Ma chère – wo sind da die Grenzen? Ich will das abgedroschene Schlagwort nicht wiederholen, daß es keine Freundschaft zwischen Mann und Weib gibt – aber wie man solch einen Seelenbund nun eigentlich nennen soll . . .«

Sie unterbrach ihn heiter. »Seelenbund? Wie denkst du dir das eigentlich, Onkel? Meinst du, wir gehen spazieren und schwärmen so hübsch sentimental wie der Werther und die Lotte? Wir denken nicht daran! Im Gegenteil! Unsinn machen wir! Wir lachen! Oder vielmehr: der Doktor lacht mich gewöhnlich aus! Ihr wißt gar nicht, was für ein Mephisto in ihm steckt. Er glaubt ja an nichts auf der Welt als an sich und seine Bazillen. Über alles andere macht er sich lustig.«

»Schön, Kind!« Der alte Herr zündete sich eine neue Zigarette an. »Ich bin zu alt zum Streiten. Bei mir hat jeder recht. Also tue du, was dir gefällt!«

Sie warf trotzig den Kopf zurück: »Denk einmal, das werd' ich auch! Jetzt bring' ich Wulfi zu Bett, und dann geh' ich hinunter ins Dorf, nach der Irion sehen! Und bei der Gelegenheit bestelle ich den Doktor aufs Schloß – für heute mittag. Gerade wenn meine Eltern da sind! Sie sollen ihn sich nur anschauen, vielleicht lassen sie und ihr alle uns dann endlich in Ruhe.«

Den Kleinen wieder auf den Arm nehmend, ging sie rasch aus dem Zimmer. Der Alte lächelte seltsam vor sich hin. Dann folgte auch er seinen vorausgegangenen Brüdern in den Garten.



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