Rudolph Stratz
Du Schwert an meiner Linken
Rudolph Stratz

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19

Und wieder war der Mai im Land . . . der Mai im äußersten Osten des Reiches, mit kaltem Steppenhauch von drüben aus der russischen Weide, mit Nachtfrösten und Wetterschauern – aber doch der Frühling . . . das erste Grün an Baum und Strauch, die ersten warmen Sonnenstrahlen vom blaßblauen Himmel.

Dort, fern am anderen Ufer der Weichsel, lag malerisch das altersgraue Thorn mit seinen Mauern und Zinnen aus der deutschen Ordenszeit, seinen spitzen Giebeln und Backsteinmassen mittelalterlicher Kirchen. Von ihnen klangen die Sonntagsglocken. Der Wind trug den Schall über das flache Land, er ließ da unten die lehmgelben Wellen des Flusses weiß aufheulen und pfiff ungestüm in dem Eisengitterwerk der Riesenbrücke, die einen Kilometer lang sich anscheinend fast unabsehbar über den Grenzstrom spannte.

Maximiliane von Glümke schritt auf ihr dahin, das blonde Haupt gegen den Sturm vorgeneigt, daß die Enden ihres blauen Schleiers flatterten: sie trug kein Schwarz mehr. Schon vor anderthalb Jahren hatte sie nach Ablauf des Trauerjahres den Flor abgelegt. Aber jetzt noch zeigte ihre Kleidung in ihrem einfachen tiefen Violett die Zurückhaltung der Witwe und der Exzellenz. Sie war mit dem kleinen Dampfboot über den Fluß gefahren und kehrte von ihrem einsamen Spaziergang in das Grotjansche Haus zurück, in dem sie, von Berlin aus, zu Besuch weilte. Sonntagsausflügler kamen ihr entgegen, polnische Bauern, Soldaten vom Infanterieregiment von Borcke, dessen Kasernen hinter ihr wie ein Brückenkopf halb in den Wäldern verborgen lagen, andere vom Regiment von der Marwitz, von den Ulanen, Fußartilleristen und Pioniere der großen Grenzfeste. Dann ein Keuchen und Poltern. Ein Eisenbahnzug rollte langsam vom Stadtbahnhof nach der Station Thorn hinüber. Eydtkuhnen – Berlin stand auf den Wagen. Fremdartige Gesichter sahen heraus. Die Brücke zitterte leise. Ein vorbeireitender junger Offizier hatte Mühe, sein schnaubendes Pferd auf den glatten Holzbohlen des Bodenbelags neben dem Schienenstrang versammelt zu halten. Er hatte nicht aufgepaßt gehabt. Beinahe wäre das Tier gestrauchelt. Maximiliane ging weiter. Der Zwischenfall hatte ihr einen Stich in das Herz gegeben. Er hatte sie an den Sturz und Tod ihres Mannes erinnert . . . Vor zweieinhalb Jahren . . .

Die Generalin von Glümke ging und ging. Wohl fünf Minuten schritt ihr Fuß schon über diese Brücke. Aber das andere Ufer schien immer noch gerade so fern wie zuvor. Ihr dünkte das, in der Schwermut der Frühlingsstimmung, wie ein Sinnbild des Seins. Man wanderte – man hatte keinen Gefährten zur Seite – da vorn verlor sich vor den Augen ein Ziel – man wanderte und erreichte es nicht . . . Die Sonne tröstete mit mildem Strahl – da unten spielten die Wellen – Menschen kamen vorbei – lachend – schwatzend – im Sonntagsstaat – aber selber war man allein und wanderte, das Auge auf der Stadt da drüben mit ihren grauen Türmen, im Ohr die Glocken, im Herzen ein trübes, unbestimmtes Sehnen der Verlassenheit . . . Sie blieb stehen und blickte zurück. Die dunklen Streifen am Horizont, keine zwei Stunden entfernt, das waren schon die Grenzwälder. Gleich dahinter begann das heilige Rußland. Dem Blick verborgen, dehnten sich davor in weitem Halbkreis die deutschen Forts. Sie trugen die Namen der Ordenshochmeister, von Hermann von Salza bis zu Dietrich von Plauen, all der Großen mit dem schwarzen Kreuz auf weißem Mantel, die trotz Tannenberg den Heiden und Slawen die Ostmark abgerungen. In Metz hießen die Forts nach den Helden des siebziger Kriegs. Metz . . . der Abend im Garten der Villa in Montigny stand vor ihr – die rote Glut der sinkenden Oktobersonne zwischen den hohen Bäumen – damals hatte sich ihr Schicksal entschieden. Sie hatte ihr »Ja« nie bereut. Sie war glücklich gewesen mit ihrem Mann. Nun war das alles schon wieder vorbei, verschollen, verronnen wie die Wogen der Weichsel unter ihr.

Im Weitergehen schaute sie über das Geländer in die Tiefe: schwer wälzten sich da in rastlosem Schwall die Wellen. Graue Inseln oder Sandbänke lagen scheinbar da und dort verstreut in ihrer gelben Flut. Aber wenn man näher hinsah, waren es die kurzen plumpen Holzflöße der Flissaken, deren Räubergestalten da unten, in einer Buschlichtung des Überschwemmungslandes, um ein Feuer lagerten. Darüber hinaus verlor sich der Fluß in die Weite . . . in den bläulich verdämmernden Horizont. Und ebenso endlos dehnte sich vor ihr die Brücke. Sie ging und ging, nun schon eine gute Viertelstunde, immer über den Strom, immer die Stadt vor Augen – in der Seele die Frage: Wozu das alles? . . . Man wandert und wandert . . . das ist das Leben . . . und vor einem steht etwas wie ein Traumbild – und weicht zurück . . . und schließlich ist das Leben zu Ende . . .

Da war das Ende der langen Brücke. Die Straßen von Thorn. Sie überquerte den Marktplatz, wo sonst an Wochentagen die russischen Bauern mit ihren Gänsen unter den Armen standen. Vor dem Theater hielten Krümperwagen. Offiziersdamen holten sich da für den heutigen Sonntagabend ihre Eintrittskarten. Bald dahinter begann die Neustadt, in der die Grotjans wohnten. Ihre Schwester Dorle, die mollige kleine Hauptmannsfrau, empfing sie mit einem Seufzer der Erleichterung: »Na . . . Gott sei Dank! Ich hatte schon Angst, die Kalbskeule wird zu braun!«

Die sonntägliche Kalbskeule – das war ein Ding von Bedeutung für den Familienkreis. Frau Dorle, ihr Mann, vier hungrige kleine Mäuler unten am Tisch. Er, der Hauptmann Grotjan, von den dreißigsten Pionieren, saß zufrieden in der Mitte der Seinen. Er war immer ein wenig befangen in Gegenwart seiner schönen Schwägerin, der Exzellenz. Und auch in Gedanken an ihre anderen Verwandten: Otto, den Millionär, und Peter, den kleinen Grenadier und glücklichen Bräutigam einer schlesischen Gräfin, und Onkel Bruno, den Divisionskommandeur, und Erich von Logow, den Weltumsegler, der jetzt eben, irgendwo auf dem Meere schwimmend, auf dem Rückweg von Chile in die Heimat war. Das alles stimmte nicht zu seinem schlicht bürgerlichen Sinn und Sein. Er kam sich manchmal wie ein Eindringling in die Familie vor. Aber es schmeichelte ihm doch. Er war der Generalin von Glümke dankbar, daß sie jedes Jahr seit dem Tod ihres Mannes auf eine Woche zum Besuch der Schwester von Berlin zu ihnen herüberkam. Es war dann immer eine eigene feierliche Stimmung im Hause. Es strahlte immer noch ein Glanz auch von dem Witwentitel ›Exzellenz‹ aus. Selbst Kraninski, der Bursche, ging auf den Fußspitzen und machte ein blöde andächtiges Gesicht.

»Bist du denn wirklich satt?«

Maximiliane nickte zerstreut. Sie dachte sich in der alten Schwermut, im Gefühl des Alleinseins, inmitten dieser Grotjanschen Gemeinsamkeit: ›Ach ja, Kinder – ihr seid satt! . . . Euer Kreis ist geschlossen, euer Schicksal erfüllt. Ihr habt's gut . . .‹ Und in ihr war wieder das Sehnen – die Unruhe – das Unbestimmte – wie Dunkel über dem Meer, wie Rauschen und Wandern von Wellen . . .

»Du mußt eben vorlieb nehmen, Maxe! . . . Bei dir daheim bist du's natürlich besser gewöhnt!«

Sie mußte halb lachen und strich sich mit der Hand die blonden Haare aus der Stirn.

»Ich? Mit meiner Gartenwohnung in Charlottenburg und einem Mädchen? Glaubst du, eine Generalswitwe sei bei uns mit ihrer Pension so auf Rosen gebettet? Und Schätze hat mein Mann mir nicht hinterlassen! Dazu hatte er eine viel zu sorglose Hand in Geldsachen. Ich komme gerade so mit Anstand durch. Aber auch nicht mehr!«

Der Tisch war abgeräumt. Dorle Grotjan las einen vormittags angekommenen Brief ihrer Mutter vor, die nach wie vor zurückgezogen in Darmstadt in ihrem Kreis von Generalinnen z. D. und Kommandeusen a. D. ihren Lebensabend verbrachte. Jeden Winter und Sommer kamen ein paar neue hinzu, blieben ein paar in aller Stille weg. So schlossen sich die Lücken, rollten die Tage in Frieden dahin. Sie schrieb:

». . . daß Otto und seine Frau wieder einmal in Paris sind, habt ihr wohl schon gehört. Mir scheint, sie wissen jetzt, nachdem sie ihr Gut wieder verkauft haben, gar nicht mehr, was sie anfangen sollen. Aber eine große Freude habe ich vorige Woche gehabt. Ulla ist eingetroffen, auf der Reise vom Süden nach Hamburg, wohin sie ihrem Mann entgegenfährt. Sie ist immerhin frischer, als wie sie im Herbst nach Mentone ging. Es hat ihrer Brust gewiß gut getan. Es war ja nun schon ihr zweiter Winter an der Riviera. Sie freut sich so, endlich nach drei Jahren, ihren Mann wiederzusehen. Ich gönn' es ihr von Herzen! Möge nun alles gut werden, besser als in der trüben Zeit zuvor. Die Jahre waren für beide wohl eine harte Lehre. Husten tut sie freilich immer noch. Ich hoffe, sie nehmen im Militärkabinett darauf Rücksicht und stecken Erich jetzt nicht gleich nach seiner Heimkehr nach Ostpreußen oder an das Stettiner Haff oder sonst eine rauhe Gegend. Ihm soll der Aufenthalt da draußen ja vorzüglich bekommen sein – das sagen alle – neulich noch hörten wir über Berlin, wie zufrieden man mit seinen Leistungen gewesen sei – Ich denke mir immer, die Kinder kommen hier in meine Nähe, irgendwo an den Rhein. Das wäre zu schön!«

Es folgten noch Familiennachrichten aus dem weiten Geschwister- und Verwandtenkreis, von Onkel Wilderich, dem Husaren a. D., von dem Gerüchte umliefen, daß er trotz seiner grauen Haare auf seine alten Tage noch in Breslau auf Freiersfüßen ging, dann Langes und Liebes von der künftigen Schwiegertochter, der kleinen schlesischen Gräfin, die die Witwe bisher nur aus Briefen und Photographien kannte – noch ganz jung, blond – vom Lande – wenig Geld – aber gewiß das Rechte . . . »Sie paßt auch so gut ins Regiment, so frisch von der väterlichen Klitsche hinein, und die Damen freuen sich schon alle auf sie, schreibt Peter. Der Junge ist im siebten Himmel!«

Und dann ein Nachwort: »Denkt euch: diesen Augenblick kommt eine Kabeldepesche aus Teneriffa! Erichs Schiff hat dort angehalten. So weit ist er nun schon auf dem Heimweg. Ulla ist außer sich vor Freude!«

Es war ein kurzes Schweigen nach dem Brief. Dann meinte Frau Dorle: »Wenn die beiden nur nicht in einem Vierteljahr wieder wie Hund und Katz miteinander stehen!«

»Beruf es nicht, Dickchen!« sagte ihr Mann. »Die Ulla hat auch für ihre Fehler gebüßt!«

Es erschien Besuch. Am Sonntagnachmittag ging es bei den Grotjans immer zu wie im Taubenschlag. Damen vom dreißigsten Pionierbataillon, die Kommandeuse, Frau Major Große selbst, Frau Hauptmann Paulitschek, Frau Leutnant Breitscheidt – es war ein Geschwatze und Gelache – Kirchturminteressen – Neuigkeiten von Bekannten aus Danzig und Metz, aus Köln und Magdeburg, aus Straßburg und Mainz, und wo überall Pioniere in den Festungsgarnisonen lagen – die junge Generalin, die zwischen den eifrig plaudernden und kaffeetrinkenden Damen saß, hatte gar kein Interesse an diesen Sachen. Aber sie wollte nicht, daß man ihr Schweigen als Hochmut auslegte, und beteiligte sich am Gespräch, so gut es ging. Es war nicht leicht. Sie war ja Witwe – eine gestürzte Größe, deren Lächeln niemandem mehr nutzte, deren Ungnade keinem mehr schaden konnte, aber immerhin – sie war Exzellenz – anders als die anderen – auch im Äußerlichen. Sie war immer noch die große Dame. Und um sie herum der leere Raum. Eigentlich überall im Leben. Es war immer ein Abstand zwischen ihr und den Dingen. Wieder empfand sie das Frösteln der Verlassenheit. Mit einer jungen Frau, die später als die anderen gekommen war, unterhielt sie sich ganz gut. Aber als jene harmlos fragte: »Steht Ihr Herr Gemahl bei den Gardepionieren, gnädige Frau?« und sie wahrheitsgemäß antworten mußte: »Er ist schon vor ein paar Jahren als Divisionskommandeur gestorben!« da wurde die Ahnungslose puterrot: »O, Pardon, Exzellenz!« und war von da ab nicht mehr recht aus sich herauszubringen.

Maximiliane war froh, als gegen Abend das Geschwurbel aufhörte und man noch einen Spaziergang unternahm. Sie gingen durch die sonntäglich belebten Straßen. Das weiche singende Westpreußisch schlug an ihr Ohr. Dazwischen polnische Laute. Von dem Hügelgelände der alten Festung schauten sie auf die Stadt nieder: es war einsam da oben, dem Zivil der Zutritt zu dem Bollwerk verwehrt, das längst schon seine militärische Bedeutung an den stundenweit entfernten Fortgürtel abgetreten hatte. Die Kasematten dienten jetzt zur Unterkunft von Infanterie und lagen heute, wo alles bunte Tuch ausgeschwärmt war, still und verlassen. Die Gräben waren zu Schießständen eingerichtet. Auf den leeren Geschützbänken darüber wuchs das Gras. Die beiden Schwestern hatten sich, die anderen weit vorausgehen lassend, dahin gesetzt. Rundherum lag weit im Abendrot, am Horizont schon im Dämmern verschwimmend, die Ostmark. Trotzig wie in alten Ordenszeiten, hielt da drüben Thorn die Wacht an der Weichsel. Es war eine Stimmung ähnlich der am anderen Ende des Reiches, wo dräuend der St. Quentin über Metz und Mosel hinweg gen Westen, nach Frankreich blickte. Hier im Osten war nicht die lachende, üppige Hügelgegend Lothringens. Platt, einförmig, schon wie im Vorahnen der endlosen russischen Ebenen und Wälder, dehnte sich das Land. In breitem Band schlängelte sich die Weichsel dahin. Ihre Krümmungen glänzten silbern im Abendlicht. Über der Riesenbrücke, die sie überspannte, ballten sich kleine, wandernde Dampfwolken in der Luft. Ein Verbindungszug rollte von der Stadt zur Hauptstation am anderen Ufer. Maximiliane sah darauf hin und sagte dann: »Morgen reise ich nun auch wieder ab, Dorle!«

»Bleib doch noch ein bißchen! In Berlin hast du doch auch nichts verloren!«

»Nein. Aber irgendwo muß man doch sein!«

Die jungen Frauen schwiegen und blickten in den feuerroten Sonnenball, der langsam, feierlich, in Glut gebadet, in der Grenzlinie zwischen Himmel und Erde versank. Dann frug Dorle Grotjan: »Warum bist du eigentlich gerade nach Berlin gegangen, Maxe?«

Die schöne junge Generalin zuckte die Achseln.

»Weißt du, Dorle . . . in der ersten Zeit – da war mir überhaupt alles gleich . . . Da war ich so . . . ich weiß nicht, wie ich's nennen soll . . . Trauer ist zu wenig . . . Ich war so aus allen Himmeln gerissen . . . Ich hab' alle Leute immer nur erstaunt angesehen . . . Ich hab' gar keine Menschen vertragen können . . . ich war ja das ganze erste Jahr auf Reisen . . . aber du könntest mich totschlagen, wenn ich dir noch recht sagen könnte, wie und wo . . . Und da sah ich schließlich ein, daß ich mich irgendwo seßhaft machen muß . . .«

»Aber warum nicht zusammen mit Mama und Ulla?«

Maximiliane von Glümke beugte den blonden Kopf vor und strich die Falten an ihrem Rock glatt.

»Liebes Kind: Ulla und ich – das ist ein Kapitel für sich. Es ist besser, wir sind nicht beisammen! Und dann: ich kann doch nicht so einfach wieder quasi als Haustochter in Mamas Darmstädter Bekanntenkreis untertauchen! Ich kann doch nicht da so eine Nebenrolle spielen, wie Ulla. Ich bin doch schließlich Exzellenz!«

Es war dabei ein unwillkürlicher Hochmut in ihren Worten und in ihren Zügen. Sie fuhr fort: »Eigentlich ist's ja ein Widerspruch! Man schmückt sich als Frau von dreißig mit einem Titel, der einem Mann von fünfzig gebührt – man wird dadurch selber älter vor der Zeit oder kommt sich wenigstens so vor – ja – aber was soll ich machen? Ich hab' die Gesetze nicht erlassen, nach denen ich meinen Platz in der Welt einnehmen muß . . .«

Dorle Grotjan machte eine lebhafte Bewegung, als wollte sie etwas sagen. Aber sie besann sich und schwieg.

Ihre ältere Schwester schloß: »Und diesen Platz finde ich eben noch am ersten in Berlin, weil man da nicht auf einen bestimmten Kreis angewiesen ist, sondern sich wenigstens die Menschen aussuchen kann, mit denen man umgeht. Ich hab' da wirklich sehr netten Verkehr gefunden!«

»Freilich: wenn du dich da wohl fühlst . . .«

»Eigentlich ist's langweilig!« sagte Maximiliane. »Aber das liegt an mir! . . . Mir ist, ich möchte sagen, vor zweieinhalb Jahren mein Daseinszweck in der Hand zerbrochen. Ich steh' und krieg' ihn nicht wieder zusammen. Ich weiß nicht recht, was ich mit mir anfangen soll, geschweige denn mit anderen! . . . Darum können die mir auch so wenig helfen . . . So furchtbar viel bin ich auch nicht mit Menschen zusammen. Ich lebe, bei Licht besehen, recht einsam. Wie jeder, der in Berlin nichts zu tun hat. Dort ist das Gemeinsame die Arbeit. Man muß Pflichten im Leben haben, Dorle! Das ist das ganze Geheimnis!«

Maximiliane malte mit ihrer Sonnenschirmspitze im Sand vor ihren langen schmalen Lackschuhen Kreise und Striche und sagte dann unvermittelt: »Ich will dir was gestehen . . . Ich bin ja noch nicht entschlossen . . . aber ich denke seit einem Jahr schon ernstlich daran, Diakonissin zu werden!«

Die Jüngere schlug entsetzt die Hände zusammen.

»Du?«

»Ja!«

»Maxe! Ich glaub', du bist verrückt!«

»Wieso? . . . Wie ich in Straßburg war als junges Mädchen bei Onkel Bruno, da stand ich auch schon ganz dicht davor, gerade wie mein Mann um mich anhielt . . .«

»Ja, damals . . . Ein Mädel ohne Geld . . . eine Waise . . . Und sonst noch allerhand auf dem Herzen . . . da war's weiter kein so großes Kunststück . . . Aber jetzt, in deiner Stellung . . . du bist doch selbst so stolz auf deinen Rang und Titel . . .«

Die Generalin von Glümke sah nachdenklich in die Ferne.

»Seinen Stolz muß man eben opfern, Dorle! . . . Das ist's ja! Es muß nur ein Ding sein, das das Opfer wert ist. Groß genug dazu! . . . Man muß nicht hinabsteigen auf eine andere Stufe im Leben, sondern alles hinter sich lassen, mit einem freien Entschluß, auf einmal. Das könnte ich wohl, weil das etwas Ganzes ist!«

»Na . . . vorläufig bist du ja noch nicht so weit!« lachte Dorle. Sie nahm die schwermütige Anwandlung der schönen Schwester nicht ganz ernst, und jene nickte selbst: »Ich sag' dir ja: ich weiß es noch nicht. Ich habe ja noch ein langes Leben vor mir. Mir ist nur das eine klar: so ganz leer wie jetzt darf es nicht bleiben. Ich muß ihm einen Inhalt geben!«

Nun konnte Frau Dorle Grotjan das, was ihr die ganze Zeit schon auf Herz und Lippen lastete, nicht länger an sich halten: »Zu komisch! . . . An das Nächstliegende denkst du wohl gar nicht, Maxe?«

»An was denn?«

»Herrgott: daß du noch einmal heiratest!«

Ihre Schwester hörte es nicht oder wollte es nicht. Sie blieb bei ihrem Gedankengang.

»Ich hab' mich diesen Winter schon im Kultusministerium erkundigt!« sagte sie. »Wegen meiner Diakonissenpläne. Oder vielmehr: wenn – dann würde ich Johanniterschwester werden! Die Ausbildung geht da schneller. Nur ein Jahr. Und wo wir die Menge Johanniterritter in unserer Verwandtschaft haben! Da nehmen sie natürlich Rücksicht – auch darauf, daß man schließlich doch auch als Exzellenz und Generalin zu ihnen kommt. Ich kann da vielleicht mit der Zeit einen größeren Wirkungskreis erhalten . . . Oberin werden, oder . . .«

Frau Dorle schüttelte ratlos den Kopf.

»Ich denk' immer, ich hör' nicht recht! . . . Wenn ich mir vorstelle, du in der Schwesternhaube . . . eine große Dame wie du . . .«

»Eben deswegen! Ich habe viel vom Leben und der Welt gehabt! Mehr als andere! . . . Und dies Leben und mein Schicksal hat mich ernst gemacht. Ich bin doch nicht mehr das dumme, blonde Mädel von vor acht oder zehn Jahren, wie wir drei es damals waren! . . . Ich bin doch ein gereister Mensch geworden und hab' Zeit genug gehabt, über vieles nachzudenken. Jetzt bin ich immer noch jung. Ich seh' gut aus. Die Leute freuen sich, wenn ich komme. Aber man wird älter! Was tu' ich denn in späteren Jahren? Soll ich denn da ewig noch, in dreißig oder vierzig Jahren, als die vor undenklicher Zeit mit achtundzwanzig verwitwete Exzellenz Soundso herumlaufen und dem lieben Herrgott die Tage stehlen?«

»Heiraten sollst du!«

». . . da will ich mich doch lieber nützlich machen,« schloß Maximiliane, als hätte sie nichts von den Worten der Schwester vernommen. »Das kann mir wirklich niemand verargen!«

Die junge Hauptmannsfrau faßte die lange, schmale, weiße Hand der Älteren und hielt sie zwischen ihren eigenen, molligen, rundlichen Patschen.

»Nützlich macht man sich, wenn man glücklich macht, Maxchen! Dazu hast du doch das Zeug wie wenige. Es ist ja jammerschad' um dich! . . . Du mußt dich jetzt an den Gedanken gewöhnen, wieder zu heiraten! . . . An Bewerbern kann es dir doch in Berlin nicht fehlen! Es war doch gewiß schon mehr als einer da!«

Die Generalin mußte über die Naivität der kleinen Grenzbewohnerin lachen.

»Einer, Dorle?« sagte sie. »Eine Legion! Ich kann mich gar nicht vor ihnen retten! Sie laufen mir das Haus ein! Ich mach' schon, wenn ich Einladungen annehme, bei meinen Freunden zur Bedingung, daß ich nur verheiratete Leute zu Tischherren kriege! . . . Nein, was das betrifft, da hätt' ich wirklich die Wahl . . .«

»Ja, da wähl doch in Gottes Namen!«

Maximiliane von Glümke war wieder ernst geworden. Sie machte ihre Rechte frei, legte die Hände im Schoß zusammen und versetzte ruhig: »Du vergißt immer – und mir scheint, ihr alle vergeßt es immer ein wenig, wenn ihr euch meinen Kopf zerbrecht: meine Ehe ist sehr, sehr glücklich gewesen. Ich kann es wirklich jetzt hinterher noch, wo die Zeit alles geklärt hat, mit gutem Gewissen sagen. Ich habe nie, auch nur einen Augenblick, die Stunde bereut, wo ich ›ja‹ gesagt hab', trotz des Altersunterschieds. Aber daß die Ehe glücklich war, war eben ein Glück. Das kehrt so leicht nicht wieder!«

»Das kommt nur auf den Zweiten an!«

»Ja eben, Kind! . . . Ich kann dir nur wiederholen: ich war in einer äußerlich glänzenden Stellung. In meiner Zeit als Mädchen hatte ich in der Hinsicht nur zu gewinnen, jetzt als Witwe hab' ich auch viel zu verlieren! . . . Soll ich mir die Stellung bewahren, die ich jetzt inne habe . . . so muß ich jemanden zum Mann nehmen, der schon in hohem Amt und Würden ist! . . . Es gibt ja solche Leute in der Armee und in der Verwaltung, die es so eilig hatten, Karriere zu machen, daß sie darüber das Heiraten vergaßen, bis sie eines schönen Tages vor dem Spiegel ihre grauen Haare entdecken! . . . Solche großen Tiere kommen wohl auch in meinen Gesichtskreis. Für solch eine Vernunftehe dank' ich! . . . Für eine zweite! . . . Da bleib' ich lieber frei und behalte, was ich ohnedies schon hab'!«

»Es gibt doch auch noch andere Menschen auf der Welt!« sagte Dorle.

»Kind, das verstehst du nicht . . . Man kann sich nicht von heute auf morgen umkrempeln wie einen alten Handschuh und in kleine Verhältnisse zurück. Wenn man gewöhnt war, daß die Damen einer ganzen Division einen zuerst grüßten, daß der Regierungspräsident einen zu Tisch führte und Fürstlichkeiten einem die Hand küßten . . . und dann hinterher . . . nein, so bescheiden bin ich nicht . . .«

»Aber das hängt doch nur davon ab, Maxe . . .«

»Es wäre ein Unrecht an dem Zweiten! Ich habe Angst, was da alles kommen könnte! . . . Nein, lieber nicht! Lieber schon die Einsamkeit, da bin ich wenigstens nur für mich verantwortlich! . . . Warum lachst du denn auf einmal so dumm, Dorle?«

»Ach . . . ich denke mir so mein Teil!«

»Was heißt das?«

Frau Grotjan legte der Generalin die Hand auf die Schulter.

»Du hast ganz recht, Maxe! . . . Du bist noch nicht so weit! . . . Du mußt warten, bis der Richtige kommt!«

»Woran erkenne ich denn den?«

Die Schwester lachte wieder.

»Daran, daß du dich in ihn verliebst, du Unglücksgeschöpf . . . Aber gründlich verliebst! Bis über die Ohren! . . . Das fehlt dir! . . . Das ist dein ganzes Unglück! . . . Verlieb dich nur mal recht herzhaft, Maxe! Dann sind deine Diakonissengeschichten gleich beim Kuckuck! . . . Dann ist dir's auch ganz gleich, ob er Hauptmann oder General ist. Du, Hand aufs Herz, Maxe: Hast du denn wirklich gar nichts da im Herzen drinnen?«

»Nein!« erwiderte Exzellenz von Glümke. In einem plötzlich kalten und gleichgültigen Ton, vor dessen Abwehr ihre Schwester verstummte, und stand auf. »Sag mal: wo ist dein Mann denn eigentlich hingeraten, und die Kinder?«

»Irgendwo voraus! Laß sie doch nur!«

»Nein. Ich finde, es wird kalt hier!« sagte Maximiliane mit sonderbar unbewegtem Gesicht und frostiger Stimme und knöpfte sich die Jacke zu. »Die Sonne ist auch schon unter! . . . Komm – wir wollen nach Hause!«

Der Abend verlief still und gemütlich. Die Grotjans waren die rechten Heimchen am Herde. Natürlich erschienen auch wieder Kameraden mit ihren Frauen. Das Pionierehepaar konnte sich dies offene Haus leisten, trotz seiner beschränkten Mittel. Denn hier war die Einfachheit noch an der Tagesordnung, das berühmte altpreußische Butterbrot, dessen Name sonst wie eine Sage aus verklungenen spartanischen Zeiten in den modernen Wohlstand der Armee hineinklang, noch leibhaftig auf der Schüssel zu schauen. Hinterher tranken die Herren Bier, die Damen Tee. Die Herren saßen im Zimmer rechts, die Damen im Zimmer links. Die einen sprachen vom Dienst, die anderen von den Dienstboten. Maximiliane hörte mit geistesabwesendem Lächeln den Hausstandsorgen um sie herum zu. Ihre Gedanken waren wo anders. Es war eine Unterströmung in ihrer Seele – eine Nachwirkung des Gesprächs von vorhin – die alte Traurigkeit und Ruhelosigkeit . . . Und dann, mitten in der Nacht, schlug sie die Augen auf. Sie hatte Herzklopfen. Sie konnte nicht schlafen. Dies unermüdliche, hastige Hämmern raubte ihr alle Ruhe. Dabei war gar kein Grund dazu vorhanden. Sie wußte wenigstens keinen. Sie sah in das Dunkel vor sich empor. Im Wandern ihrer Gedanken hörte sie wieder die Worte ihrer Schwester: ›Warum heiratest du eigentlich nicht?‹ Das war der Schlüssel zu dem ganzen Sein und Schicksal. Es stand einer zwischen ihr und dem Leben und trat immer wieder in ihren Gesichtskreis und kam jetzt wieder zurück. Sie wollte nichts von ihm sehen und wissen, und doch . . . was sie vorhin sich und der Schwester verschwiegen und verneint, das sprach jetzt zu ihr die Stille der Mitternacht: ›Ich liebe ja doch, wenn ich's auch zehnmal abgeleugnet hab' . . . Ich lieb', solange ich zurückdenken kann, lieb' ich den einen! . . . Ich hab' ihn fern von mir gesehen, losgelöst, nur noch ein Bild heiliger Erinnerung, in den Jahren meiner Ehe . . . Jetzt, in meiner Einsamkeit, ist er wieder da . . .‹

Sie stand auf, ging vorsichtig durch das dunkle Zimmer zum Fenster und schlug den Vorhang zurück. Draußen lag heller Mondschein auf den breiten, hellen Straßen und Plätzen der Thorner Neustadt. Drüben schimmerten in dem blauen Dämmern die Dächer und Höfe der Fußartilleriekasernen. Einsam schildernde Posten vor dem Tor. Der Pfiff einer Lokomotive vom nahen Stadtbahnhof. Und in ihrem Ohr, durch das ewige Hämmern des Herzens, etwas wie ein Rauschen – wie Wellenstrudeln und Windeswehen – und vor ihren Augen etwas Unbestimmtes – eine Rauchwolke dort am Horizont – ein Dampfer fern auf dem Meer – er war in voller Fahrt – er näherte sich – er hatte schon Teneriffa im Rücken . . . bald legte er im Heimatshafen an.

Sie atmete schwer auf. Sie sagte sich: Gottlob – wenn auch Logow jetzt wieder nach Deutschland kommt, unsere Wege kreuzen sich nicht. Sie werden ihn irgendwo an den Rhein bringen. Mama schreibt das nicht umsonst. Sie hat schon ihre Quellen. Da bleibt er. Da mag er mit Ulla so glücklich sein, als er vermag. Vielleicht finden sich jetzt die beiden! Ich will das einzige dazu tun, was in meinen Kräften steht: ich will seine Nähe fliehen. Es ist zu seinem Besten. Und zu meinem eigenen erst recht . . .

Am anderen Morgen merkten ihr die Verwandten nichts von den durchwachten Nachtstunden an. Sie nahm heiter und unbefangen Abschied von dem Grotjanschen Hause, küßte die Kinder, beschenkte die Dienstboten und fuhr dann mit dem Ehepaar auf dem Krümperwagen über die große Brücke hinüber, nach der Hauptstation. Dort gingen sie auf dem Bahnsteig auf und nieder und warteten auf den von Rußland herkommenden Zug. Draußen auf dem freien Gelände zwischen Bahnhof und Fluß war ein Kommen und Gehen zu den nahen Kasernen. Offiziere zu Fuß und zu Pferd. Ein Hauptmann sah den Pionier und seine Frau, blieb grüßend stehen und rief hinüber: »Haben Sie schon 's neueste Militärwochenblatt gelesen, Grotjan?«

»Nee!«

»Gestern abend erschienen! Warten Sie . . . Ich hab's bei mir . . . da ist nämlich was drin, was Sie auch interessiert! . . . Sie sind doch nahe verwandt mit dem Logow, dem bisherigen Chilenen?«

»Ja. Unsere Frauen sind Schwestern!«

»Na – da sehen Sie . . . Glück muß der Mensch haben!«

Er trat heran und zeigte dem andern eine Stelle in der Zeitung, und Maximilianes Schwager las halblaut: »Von Logow, Hauptmann à la suite der Armee, bisher in chilenischen Diensten, vom 25. Mai ab in den Großen Generalstab versetzt!«

»Donnerwetter ja!« sagte er, gab dem Hauptmann, der sich mit erneutem Gruß entfernte, das Blatt zurück und wandte sich, über sein ganzes langes, ehrliches Gesicht von neidloser Genugtuung strahlend, zu den Damen. »Na – das gönn' ich dem Logow! . . . Das gönn' ich ihm von Herzen! . . . Da muß er sich ja riesig wieder herausgemacht haben in Südamerika! Nun hat er wieder seinen Stein im Brett!«

»Einsteigen!« schrie der Schaffner. Der D-Zug aus Eydtkuhnen war eingelaufen. Maximiliane von Glümke nahm in ihrem Abteil Platz und ordnete mechanisch ihre Sachen. Dann beugte sie sich zum Fenster hinaus. Unten standen die Geschwister und freuten sich noch immer über die gute Nachricht. Sie waren stolz auf den Schwager.

Der Hauptmann Grotjan rief: »Na . . . grüß den Erich schön von uns! Du wirst ihn ja nun bald zu sehen kriegen! . . .«

»Ja . . . ich weiß es nicht . . .« sagte die Generalin von Glümke. Sie war blaß geworden. Die fröhlichen Leutchen da unten beachteten es nicht.

Der Pionier lachte: »Wieso? Wo ihr jetzt beide in Berlin wohnt – die Logows und du . . . Du, hör mal: Erich und seine Frau müssen jetzt uns auch hier in Thorn besuchen! . . . Schärf es ihnen jedesmal ein, so oft du mit ihnen zusammen bist! . . . Vergiß es nicht . . .«

»Ich werde daran denken . . .« Die Stimme der jungen Frau war tonlos. Die Räder knarrten. Der Zug setzte sich in Bewegung und rollte in der Richtung nach Berlin.



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