Rudolph Stratz
Du Schwert an meiner Linken
Rudolph Stratz

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8

Der Hauptmann von Logow hatte länger als gewöhnlich im Dienst zu tun gehabt. Die Uhr zeigte Mitternacht, als er sein Haus im Hansaviertel betrat. Oben im Flur war es totenstill. Alles schlief schon. Auf den Fußspitzen, um niemanden zu wecken, durchmaß er den dämmerigen Salon, in den von nebenan, aus seinem Arbeitszimmer ein Lichtschimmer fiel. Denn auf seinem Tisch brannte ein für allemal jeden Abend in Erwartung seiner Rückkehr die Lampe und harrte seiner das Schreibwerk in der großen, festverschlossenen ledernen Mappe.

Aber heute war der Stuhl davor nicht leer. Auf der Schwelle stehend, sah er über dessen Lehne einen blonden Mädchenkopf, der sich emsig über ein Blatt Papier auf der Tischplatte beugte. Ein Aktenstück war davor, schräg gegen die Lampe gestellt. Sie schrieb es ab, ruhig, gleichmäßig, ohne einmal anderswohin als nach dem militärischen Dokument vor ihr aufzublicken. Unter der grünen Glocke her umwob das elektrische Licht ihr Haupt mit einem goldenen Schimmer, in dem einzelne verirrte Haarsträhnchen durchsichtig wie gesponnene Seide schimmerten. Ihr schmales, hübsches Gesicht, von dem er nur das Halbprofil sah, trug einen aufmerksamen Ausdruck. Sie war mit tiefem Ernst bei der Sache, um nichts zu verfehlen. Zuweilen wiederholten ihre Lippen murmelnd ein schwieriges Wort und prägten es sich so besser für das Abschreiben ein. Ihre weiße Hand glitt regelmäßig auf dem schimmernden Blatt hin und her. Das leise Knirschen der Feder war der einzige Laut in der Stille der Mitternacht, in der sie dasaß und für ihn wachte und für ihn tätig war.

Und wie er so stand und sie schweigend, unbemerkt betrachtete, da zog sich ihm das Herz plötzlich in einem wilden Weh zusammen. Er hätte auflachen können über sich, über das Schicksal, über Gott und die Welt. Nein. Nein. Über sich nur. Er allein war schuld. Er hörte ein leises Blättern. Maxe Ottersleben schlug eine Seite um und fing, immer mit derselben Pflichttreue, die nächste an. Es war bei ihr keine Spielerei einer müßigen Stunde. Sie war offenbar entschlossen, das Schriftstück heute nacht noch zu Ende zu bringen. Der hinter ihr, am Eingang, legte die Hände ineinander. Seine Züge waren düster. Er sagte sich: Dich hätte ich haben können! Du hast auf mich gewartet! Denn du hast gewußt, daß du die Rechte für mich warst, für einen Mann wie mich. Du hättest mich verstanden. Du hättest meine Arbeit geteilt, wie du sie jetzt freiwillig teilst. Du wärst mein Kamerad geworden. Alles wäre anders geworden in meinem Leben durch dich . . .

Das junge Mädchen war so in ihre Tätigkeit versunken, daß sie sein schweres Atmen, das leise Klirren eines Sporns bei einer unwillkürlichen Bewegung nicht hörte. Sie schrieb unermüdlich, und sein Auge hing an ihr, in hoffnungsloser Bitternis und Reue: Ich wär' ein anderer Mensch geworden, der, der ich zu werden hoffte. Stark und in mir einig und geschlossen, tüchtig zum Leben und zum Dienst. Was mir fehlte, hättest du in mir ergänzt. Ich aber war blind. Und bin an dir vorbeigegangen und habe das Geheimnis deiner scheuen blauen Augen nicht begriffen. Hätte ich damals gewußt, was ich jetzt weiß . . .

Maxe Ottersleben schüttelte, ihm den Rücken zudrehend, den Kopf, um eine zudringlich summende Fliege zu verscheuchen. Es war wie eine Abwehr – eine Bewegung des Entsagens: Zu spät! Zu spät! Nebenan schläft deine Frau. Sie weiß nichts von dir. Sie weiß nichts von deinem Dienst. Sie gähnt, wenn du nur davon sprichst. Sie ahnt nichts von deinem Wesen und Streben, über sie hinaus. Es erschreckt sie nur – macht sie mutlos – müde – krank. Aber es ist deine Frau. Du hast sie gewählt. Du bist an sie gebunden auf Lebenszeit . . .

Er preßte die Hände ineinander, um einen Anfall von Verzweiflung beim Gedanken an die Zukunft zu bemeistern. Seit jener Aussprache vor vierzehn Tagen, in der ihm Ulla das Geheimnis ihrer Schwester verraten, war sie wieder ganz in sich zusammengesunken, stumpf geworden. Sie gab sich keine Mühe mehr. Es ging alles seinen alten Gang. Und da drüben am Tisch saß ein junger, lebensstarker, tatenfroher Mensch, dürstend danach, zu helfen, zu dienen, zu lieben, und verblühte . . . Erich von Logow schaute sie an und sagte sich wieder: Du bist Geist von meinem Geist. In dir erkenn' ich mich! Du hättest mich ergänzt. Und . . . deine Schwester war schön . . . aber du bist es auch . . .

Vorsichtig, als müsse dies blonde lebende Bild vor ihm am Tisch bei seinem Nahen wie ein Traum der Nacht zergehen, trat er heran. Sie drehte sich um und fuhr hastig empor. Sie legte die Linke ans Herz, während die Rechte noch die Feder hielt.

»Herrgott . . . hast du mich erschreckt . . .«

Das schöne, in seinem Reiz immer noch ein wenig unregelmäßige Mädchengesicht vor ihm war wirklich blaß geworden. Sie war nervös durch die stundenlange, anstrengende Arbeit, mit der sie, wie ihm ein Blick auf die angefangene Seite zeigte, beinahe zu Ende war. Er gab ihr die Hand und frug gedämpft – seltsam, wie die Stimme in der Stille des Hauses, der Ruhe des nächtlichen Berlins vor den Fenstern, widerhallte: »Maxe – was machst du denn da?«

Sie warf bei seinen fast strafend klingenden Worten trotzig den Kopf zurück, mit jener Bewegung verschlossenen Willens, die ihr von jeher eigen war. Seitdem sie neulich in das Zimmer getreten war und das Ehepaar in dem Gespräch über sie getroffen hatte, war sie gegen ihn herbe und scheu, manchmal beinahe feindselig, so als ahnte sie, daß er etwas wußte . . .

»Friß mich nur nicht gleich!« sagte sie schroff zu ihrem Schwager. »Du hast doch heute mittag geklagt, daß du zu der vielen Eisenbahnarbeit, die sie dir in Vertretung aufgehalst haben, noch diese rückständige Abschrift auf der Seele hättest. Na – da hab' ich mich eben flugs hingesetzt! Das ist doch weiter kein Verbrechen!«

»Doch! Es ist eigentlich verboten!« Er hielt die Blätter in der Hand und ließ sie durch die Finger gleiten. »Da darfst du als Zivilist von Rechts wegen nicht die Nase hineinstecken!«

Das junge Mädchen zuckte die Achseln und lächelte zu ihm in befangenem Spott: »So? Na – da nimm dich nur in acht: ich steck's morgen noch der französischen Regierung! Ich hab' schon meine Verbindungen in Paris . . . Schad' nur, daß ich die Geschichte nicht ganz kapiere . . .«

Dann wurde sie plötzlich ernst und heftig.

»Du sollst jetzt schlafen, Erich! Du brauchst deine Nerven besser als für so 'ne Tretmühle von Abschrift! Da bin ich gut genug dazu!«

»Und deine eigene Nachtruhe?«

»Was kommt's denn auf mich an? Ich kann morgen bis zehn in den Federn bleiben, wenn ich mag! Ich hab' ja auf Gottes weiter Welt nichts zu tun. Ich will mich doch ein wenig nützlich machen, wo ich euch nun schon einmal im Hause das Brot wegess'! . . . Und nun störe mich bitte nicht! Sonst verschreibe ich mich gerade noch zu guter Letzt!«

Sie setzte sich und vollendete die Schlußseite. Er stand schweigend daneben und sah ihr zu. Nach kurzem erhob sie sich mit einem Seufzer der Erleichterung und dehnte sich in den schmächtigen Schultern.

»Da!« sagte sie wenig liebenswürdig, ihm die Arbeit hinschiebend. »Gute Nacht! Du mußt mir versprechen, daß du auch schlafen gehst!«

»Erst muß ich noch die Abschrift vergleichen! Sie muß morgen früh weg!«

»Ich wußt's doch! . . .«

Maxe Ottersleben machte eine ungeduldige Bewegung und meinte dann nach einer Pause: »Ich hab' auf alle Fälle Kaffee warm gestellt . . . Du kannst ja nicht mehr aus den Augen schauen . . . Wart, . . . ich bringe dir . . .«

Sie lief davon und kam nach kurzem mit der dampfenden Kanne und zwei Tassen zurück. Sie goß ihm im Stehen ein. Ihre Hände berührten sich, als er den Schalenrand ergriff, und zuckten so rasch auseinander, daß der Löffel klirrte. Auch ihre Blicke mieden sich. Sie waren wie zwei gute Freunde, die Angst voreinander hatten, ohne einander zu verraten, warum. Und um sie das feierliche, fast geheimnisvolle Schweigen. Man hörte förmlich die Stille in diesen Stunden zwischen Mitternacht und Morgen.

Er setzte sich in einen Lehnstuhl, zog die Brauen hoch und begann, Maximilianes Werk nachzuprüfen.

Sie stand am Tisch. Sie meinte gleichgültig, geschäftsmäßig: »Du – gib mir unterdessen doch ein paar von den Tabellen . . .«

»Jetzt noch? Bist du verrückt? Nee – Kind: jetzt heißt's marsch in die Baba!«

Aber sie beharrte: »Ich muß erst wissen, ob die Abschrift ordentlich geworden ist! Inzwischen kann ich schon noch Kästchen machen!«

Und mit einem halben, nicht ganz freien Lachen fügte sie hinzu: »Ich krieg' doch von dir zehn Pfennig für jede Seite. Zusammen ist das für mich 'ne Masse! Ich spar' schon auf einen Sommerhut in 'nem Laden in der Potsdamer Straße. Den hab' ich mir dann ums Vaterland verdient!«

Er tat ihr den Willen und reichte ihr die Bogen. Sie nickte verständnisvoll und saß neben ihm wie sein Adjutant und begann, was sie ›Kästchenmachen‹ nannte: sie umrahmte mit geübter Hand gewisse Vierecke in den Listen einer Mobilmachungsänderung. Er hatte sich in den umfangreichen Bericht vertieft. Beide waren stumm. Zwischen ihnen braute der Kaffeedampf. Die Uhr tickte. Fern verkündeten Schläge von einem Turm schwer dröhnend die zweite Stunde. Alles schlief. Nur sie – der Mann und das Mädchen – wachten, für die Sicherheit des Reiches . . .

Endlich sprang er auf, klappte den Aktendeckel zu und verschloß alles im Schreibtisch.

»Gut so!« sagte er laut und befriedigt. »Du machst das wirklich wie ein Alter! Da ist mir wirklich eine Last von der Seele! . . . Mir hat vor dieser Büffelei geradezu gegraut! Ich danke dir!«

Er drückte ihr die Hand.

»Gute Nacht!« sagte er hastig. »Gute Nacht, liebe Maxe!«

Er vermied es dabei, ihrem Blick zu begegnen. Er wandte sich so rasch ab, daß er ihr leises ›Gute Nacht‹ kaum mehr hörte, und ging mit langen Schritten aus dem Zimmer und im Dunkeln auf den Fußspitzen weiter über den Flur. Sie stand und schaute ihm nach. Ein banges Frösteln überlief ihre schlanke Gestalt. Sie atmete schwer auf. Dann löschte sie das Licht, das er in seiner Eile, seiner förmlichen Flucht, auszudrehen vergessen, und schritt langsam, mit gesenktem Haupt hinüber in ihre Stube.

Am übernächsten Mittag kam Peter Ottersleben, ihr jüngster Bruder, von den dreizehnten schlesischen Grenadieren, der für ein paar Tage in Berlin auf Urlaub war, zu Tisch. Er erzählte als neugebackener Leutnant eifrig von seiner Garnison und seinem Regiment. In dem waren zwei Herren, die der Hauptmann von Logow von früher, vom gleichen Cötus in der Kriegsakademie her, kannte. Sie ließen ihn grüßen. Erich von Logow fuhr aus seinen Gedanken auf und sagte hastig: »Ja . . . ja . . . natürlich . . . da hast du recht!«

Der junge Schwager lachte.

»Du hast ja gar nicht zugehört!«

»Ja . . . verzeih . . .«

»Du bist überhaupt so geistesabwesend diesmal! Was hast du denn im Kopf?«

»Er ist müde!« sagte Maxe. »Laß ihn doch!«

Fast zugleich versetzte Ulla, die die ganze Zeit über wie gewöhnlich geschwiegen, über ihren Suppenlöffel hinweg: »Ja – verteidige du ihn nur immer . . .«

Es waren an sich belanglose Worte. Nur eine sonderbare kalte Betonung. Einen Augenblick flog ein Engel durch das Zimmer. Der kleine Leutnant merkte nichts. Er meinte harmlos: »Du, Erich! Was machst du nur, wenn die Maxe mal weggeht?«

Logow zog die Augenbrauen hoch und goß ihm Wein ein.

»Wieso?« frug er dabei schroff.

»Na – du bist doch so an sie gewöhnt! Sie ist doch deine rechte Hand . . .«

»Wer behauptet denn das?«

»Ja. Das merkt man doch! . . . Vorhin hättest du sehen sollen, wie sie auf deinem Schreibtisch abgestaubt hat, so behutsam, als ob jedes Blättchen von Gold wäre! . . . Ich weiß nicht, Maxe – früher warst du doch nicht so furchtbar ordentlich . . . Ist das erst so, seit du im Großen Generalstab bist?«

Seine blonde Schwester fuhr ihm mit der Hand über den Kopf wie einem Kind.

»Ich denk' immer, du spielst noch mit Bleisoldaten, Peterchen . . . Und dabei macht der kleine Mann schon Witze! Na – sie sind auch danach! Sei lieber still!«

Sie redeten von anderen Dingen. Aber beim Kaffee fing der junge Bruder wieder an: »Gestern war ich bei Ottos Schwiegereltern! Du, Maxe – bei denen hast du den Vogel abgeschossen! Die finden dich reizend! Besonders der Alte! Der meinte, sie hätten dich zu gern mal bei sich in Bremen auf Besuch. Aber ich hab' gleich gesagt: Nee! Die darf nicht! Die hat mein Schwager zu nötig. Die gibt er nicht her!«

Er lachte unbefangen und fuhr dann verblüfft zurück und setzte sich aufrecht. Der Hauptmann von Logow hatte auf den Tisch geschlagen, daß die Tassen klirrten.

»Zum Donnerwetter, Peter . . . was ist denn das für eine dumme Art? Sei so gut und hör jetzt mal auf!«

Solch ein Zornausbruch war bei seiner eisernen Selbstbeherrschung etwas ganz Unerhörtes. Ulla und Maxe schauten schweigend vor sich hin. Der Kleine saß still wie ein begossener Pudel. Erst als sein Schwager zu einer Ordonnanz in den Flur gerufen war, forschte er kleinlaut: »Was ist denn nur mit dem Erich? So kenn' ich ihn ja gar nicht . . .«

Ulla stand auf und ging in das Nebenzimmer. Maxe, die sitzen geblieben war, versetzte ruhig: »Warum ärgerst du ihn aber auch unnütz, Peterchen?«

»Ich mein' es doch nicht bös! . . . Wenn ich ein paar harmlose Späße darüber mach', daß ihr so ein Herz und eine Seele seid – wie's alle tun . . .«

»Wieso – wie's alle tun?«

»Herrgott . . . du erschreckst einen ja, Maxe! Sieh einen doch nicht so an!«

»Du hast eben gesagt: ›Wie's alle tun!‹ . . . Also hast du's auch von anderen gehört?«

»Vielleicht mal . . . Aber da ist doch nichts weiter dabei!«

»Nein! Ich wollt' es auch nur wissen!« sagte Maximiliane von Ottersleben. Sie hatte schon wieder ganz ihre gelassene und hier im Hause immer dienstwillige Art. Sie wandte den hübschen Kopf zur Tür. »Gut, daß du kommst, Erich! Der arme Peter sitzt da und hat keinen Kognak und hat nichts zu rauchen!«

Es war wieder eine Woche später, da trat sie eines Abends gegen zehn Uhr in das Arbeitszimmer ihres Schwagers. Sie wußte nicht, ob er darin war. Niemand hatte auf ihr zögerndes Klopfen geantwortet. Innen blieb sie mit großen, bangen Augen stehen. Erich von Logow saß an seinem Tisch, im hellen Schein der Lampe. Aber er schrieb nicht. Er hatte die Arme auf die grünüberspannte Platte gelegt und die Stirne, mit vornübergesunkenem Haupt, darauf gepreßt. Es war, als ob er schlafe . . . oder Schmerzen habe . . . oder irgendwie mit sich ringe . . . Bei ihrem Eintritt drehte er sich um und stand langsam auf. Sein dunkles Haar war verwildert, sein Blick unstet.

»Was willst du denn?« frug er kurz und rauh.

»Erich,« sagte sie leise. »Warum bist du denn so unwirsch mit mir?«

»Verzeih!« Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, wie um da etwas zu verscheuchen, und ging auf sie zu. Nun sah sie deutlich die Verwüstung auf seinen Zügen. Er lächelte. Er zwang sich zur Freundlichkeit. »Was möchtest du denn gern, Maxe?«

»Dir helfen – wie gewöhnlich . . .«

»Heute gerade ist nichts zu tun, Kind . . .«

»Aber dein ganzer Tisch liegt ja voll . . .«

»Das sind leider alles Sachen, an die sogar du nicht heran darfst! Ich allein! . . . Ich dank' dir schön . . . Gute Nacht!«

Er gab ihr die Hand. Ihre Finger legten sich ineinander. Die seinen waren eiskalt. Sie glaubte zu fühlen, wie sie zitterten. Sie ging nicht. Sie machte noch einen letzten Versuch.

»Es ist aber schon seit einer Woche nichts mehr für mich zu tun, Erich!«

»Ja. Die gröbste Arbeit ist jetzt Gott sei Dank vorbei!«

»Ach wo! Du warst gestern nacht wieder bis um drei Uhr auf. Ich hör' dich doch! . . . Ich schlaf' ja oft die halbe Nacht nicht . . .«

Er erwiderte nichts.

Sie fügte hinzu: ». . . und ich könnte so gut in den Stunden, wenn alles so hübsch still ist, sitzen und für dich schreiben. Ich hatte so Freude daran. Ich war so stolz darauf. Du kränkst mich, wenn du mir das entziehst . . .«

Es ist besser, wir lassen's!«

Er sprach es kurz. Sie wandte sich um. Beide schwiegen. Sie hörte aus seinen Worten das nachklingen, was er eigentlich meinte: ›die Leute reden schon darüber. Die Unbefangenheit zwischen uns ist weg! . . .‹ Sie stand, von ihm abgekehrt, und spielte mechanisch mit der Quaste des Kanapees neben ihr. Sie fühlte: jetzt schaut er mich wieder von der Seite an – lange – seltsam – nicht so, wie ein Mann die Schwester seiner Frau ansehen sollte – nein – das ist mehr – das ist das andere . . .! Eine unermeßliche, grenzenlose Angst hob sich in ihr, hob sie selbst über sich hier empor, immer höher – bis zur Betäubung, daß sie wie in einem Schwindel schwebte, alle Dinge unter sich, in Rausch und Todesangst vor dem Sturze in die Tiefen. Ein Schauer überlief sie. Unwillkürlich schloß sie die Augen. Dann vernahm sie hinter sich eine leise Bewegung. Sie hielt es nicht mehr aus. Sie wandte sich um. Das Zimmer war leer. Er hatte es schweigend verlassen. Aber in der Stille der Luft lag es noch wie ein unheimliches Zittern . . . Und sie stand da, das Haupt gesenkt, die Hände gefaltet, mit starren Augen und halboffenen Lippen, ein Entsetzen vor dem Wunder . . .

Als bald darauf ihr Bruder Otto bei ihnen war, frug sie: »Du, sag mal: ich hatte dich doch gebeten . . . hast du nicht auch einmal an Mama geschrieben, was nun eigentlich mit ihr wird? Sie soll sich doch einmal über ihre Zukunftspläne entscheiden! Ich krieg' nichts aus ihr heraus . . .«

Der hübsche Artillerist bejahte. Die Mutter erachtete sich vorläufig noch in Thorn, wo man bei Grotjans Familienzuwachs erwartete, für unentbehrlich. Sie wollte bis in den Herbst hinein dort bleiben und dann weiter sehen. Er las den Schluß ihres Briefes vor:

»Maxe ist ja in Berlin so gut aufgehoben, daß ich mich wegen ihr nicht zu beunruhigen brauche. Sie hat sich wohl jetzt dort ganz eingelebt, und ich gönne ihr von Herzen die vielen Anregungen und Zerstreuungen. Sie wird gar keine so große Lust haben, die glänzende Reichshauptstadt zu verlassen, und nach Ablauf des Trauerjahres mit mir in irgendein stilles Pensionopolis zu ziehen, wie etwa, woran ich immer mehr denke: Darmstadt. Was meint Ihr Kinder dazu? Herzliche Grüße an Euch alle! Eure alte Mutter.«

Maxe senkte den Kopf. Die Hoffnung, anderswo als hier ein Heim zu finden, war wieder weit hinausgerückt. Ihr Bruder lachte. Er war in rosiger Laune, wie jetzt immer als Bräutigam. Er wollte jedem etwas Angenehmes sagen. Erst machte er Ulla Komplimente über ihr Aussehen. Dann wandte er sich an die jüngere Schwester: »Du, Maxe – weißt du, daß du anfängst, in Berlin aufzufallen? Ich bin schon ein paarmal gefragt worden: wer ist denn die reizende junge Dame in Trauer, die man jetzt immer mit den Logows sieht?«

»Ach, kümmere du dich um deine Braut.«

Er befühlte den schwarzen Stoff ihres Kleides.

»Ist das das berühmte Kostüm, Maxe?« neckte er.

»Ich weiß nicht, welches du meinst!«

»Erich erzählte mir neulich, wie ich ihn vom Generalstab abholte, ein Langes und Breites, du hättest eine Toilette – in der sähst du ganz besonders gut aus . . .«

»Erich fand ein halsfreies Kleid bei Maxe so nett!« versetzte Ulla. »Seitdem trägt sie alles halsfrei. Heute auch!«

Maximiliane von Ottersleben saß ein paar Sekunden in dem allgemeinen Schweigen hilflos still. Dann überfiel sie ein Zittern. Sie wurde plötzlich blutrot. »Das ist nicht wahr!« sagte sie hart und gepreßt, stand auf und verließ das Zimmer.

Eine Stunde später, nachdem Otto gegangen, suchte sie ihre Schwester auf. Sie fand sie allein.

»Ich muß mit dir sprechen, Ulla!« begann sie ohne Einleitung. »Was habt ihr gegen mich? Ihr seid verändert – in letzter Zeit. Und täglich mehr. Immer unfreundlicher. Es ist eine Unruhe im Haus. Ich kann nichts dafür. Und doch ist es für mich wie ein Vorwurf. Fortwährend. Seit heute kommt nun die offene Kränkung! Von dir aus! . . . Und deine Ungerechtigkeit dazu: ich bin nicht kokett. Das weißt du. Und am wenigsten gegenüber deinem Mann! Aber was heißt das, jemanden so verletzen, der auf euren Schutz angewiesen ist und unter eurem Dach wohnt? Ihr braucht mir nur ein Wort zu sagen, so geh' ich. Wenn ich auch noch nicht weiß, wohin. Ich werd' schon ein Plätzchen finden! Ich will euch wirklich nicht zur Last fallen, Ulla!«

Die bleiche junge Frau ihr gegenüber war schon wieder dem Weinen nahe. Sie hatte einen trostlosen Ausdruck in den großen dunklen Augen. Sie streckte flehend im Sitzen beide Hände nach dem jungen Mädchen aus und zog sie zu sich heran.

»Es war ja nur wieder eine unbedachte Redensart von mir, Schatz! Verzeih!«

Ihre Schwester blieb vor ihr stehen und schaute ernst auf sie nieder.

»Ich will hier nicht anklagen und nicht verzeihen! Ich will nur wissen, wie du auf so was kommst . . . Du mußt doch einen Grund haben, mich kränken zu wollen . . .«

Ulla von Logow brach plötzlich in verzweifelte Tränen aus. Sie ballte die Fäuste, warf sich in den Sessel zurück, zerwühlte, von einem Weinkrampf geschüttelt, in den Kissen ihr Haar, stieß leidenschaftlich mit den Füßen gegen den Teppich. Ihre Lippen zitterten, ihr Leib bebte. Maxe konnte ihr Stöhnen kaum verstehen.

»Ach . . . ich . . . ich . . .«

»Was denn, Ulla?«

»Ich war so dumm! . . . So wahnsinnig dumm . . .«

»Was heißt das?«

»So dumm kann nur ich sein . . . Jetzt büß' ich's . . . es geschieht mir recht . . .«

»Ich begreife dich nicht . . .«

»Das fehlte auch noch! . . . Ach . . . Ich Unglücksmensch bin an allem schuld! Immer mach' ich's falsch . . .«

»Was hast du denn falsch gemacht?«

Ulla hörte sie nicht.

»Ach . . . hätt' ich nur damals geschwiegen!« murmelte sie verstört vor sich hin, die Hände ineinandergepreßt. Sie wagte nicht, die Schwester anzusehen, die sich, die Hand auf ihrer Schulter, forschend, mit schreckensbangen Augen über sie beugte. Und plötzlich wurde es Maxe klar: Das war es, wovon sie neulich über mich mit ihrem Mann gesprochen hat! . . . Sie hat in ihrer Eifersucht mein Letztes und Heiligstes preisgegeben . . . Da stieß sie einen halb unterdrückten Laut des Schmerzes aus. Sie hörte nicht, was ihr Ulla nachrief. Sie floh aus dem Gemach.

In ihrem Zimmer verriegelte sie die Tür hinter sich, warf sich erschöpft auf einen Stuhl, stützte den Kopf auf die Hand und sann. Und was sie auch an Möglichkeiten der Reihe nach an ihrem Geist vorüberziehen ließ: es blieb schließlich immer nur die eine übrig, die sie in letzter Zeit schon oft bei sich erwogen. Sie kümmerte sich nicht darum, daß es bei ihr außen klopfte. Sie erkannte Ullas Stimme. Sie bat, man möge sie in Ruhe lassen. Als die Schritte im Flur wieder verhallt waren, faßte sie ihre Kraft zusammen. Sie rückte ihren Sessel nach dem Ecktisch herum, nahm entschlossen die Feder zur Hand und schrieb zuerst, militärisch genau als Soldatentochter, die Adresse auf dem Umschlag.

»An den Königlichen Oberst und Kommandeur des 9. Unterelsässischen Infanterieregiments Nr. 244, Ritter hoher Orden,

Herrn von Ottersleben
                        Hochwohlgeboren
                                              Straßburg i. Elsaß.«

Dann den Brief selbst – so, wie ihn Onkel Bruno in seiner nüchternen, klaren und bestimmten Generalstabsart liebte, ohne viel Umschweife. Gleich zur Sache.

»Lieber Onkel!

Seit Papas Tod habe ich kein Heim, sondern muß vorläufig bei den Verwandten hospitieren. Erichs hier sind sehr lieb gegen mich. Aber ich war nun lange genug hier. Ich möchte einmal anderswohin. Darf ich Euch ein bißchen in Straßburg zur Last fallen? Bitte, sag es mir offen, wenn ich Euch zu viel bin. Ich scheue keine Tätigkeit, vom Staubwischen bis zum Abschreiben für den Großen Generalstab. Nicht wahr, Du gibst mir bald Bescheid? Mit herzlichen Grüßen an Dich und Tante

Deine getreue Nichte

Maxe.«

Sie ging die beiden nächsten Tage wenig aus ihrem Zimmer. Bei Tisch saß sie still und aß nichts. Des Abends, wenn man beisammen war, sprach sie kein Wort. Und da Erich von Logow von Natur einsilbig war und seine Frau sich in die schweigende Teilnahmlosigkeit ihrer Ehe hineingewöhnt und hineingedämmert hatte, so merkte man jetzt recht, wie sehr dies stumme Haus bisher durch Maxes gute Laune und Arbeitsfrische belebt worden war. Die waren nun dahin. Beide, Schwager wie Schwester, bemühten sich, sie wieder zu erwecken. Sie waren freundlich zu Maxe, voll einer beinahe ängstlichen Rücksichtnahme, sie lächelten ihr zu, schlugen ihr Vergnügungen vor, aber sie wich ihnen scheu aus. Sie war nicht mehr zu fassen. Sie war froh, wenn sie wieder allein war, und atmete auf, als sie endlich die postwendend pünktliche Antwort des Onkels in Händen hielt:

»Meine liebe Maxe!

Das war ja eine überraschende und erfreuliche Neuigkeit! Wenn Du wirklich dem Sündenbabel an der Spree den Rücken kehren willst und Dich vor uns zwei gesetzten Leuten und der Straßburger Hitze und den Rheinschnaken nicht fürchtest, wir hängen Dir ein Schild an die Tür: ›Herzlich willkommen!‹ Seit meine beiden Jungen im Korps sind, ist unser Haus leer. Wir freuen uns auf ein bißchen Jugend darin und ernennen Dich feierlich zu unserer Vizetochter! Zu nett von Dir! Wir danken Dir dafür! Komm bald!

Dein Dich liebender Onkel.«

Und darunter in kräftiger Damenhandschrift: »Und dito Tante!«

Maximiliane von Ottersleben verschloß den Brief sorgfältig und ging hinüber zum zweiten Frühstück. Das war ein zeitlich schwankendes Ereignis, je nachdem ihr Schwager vom Dienst kam oder zum Dienst mußte. Meist wartete man lange auf ihn. Auch heute erschien er abgearbeitet, schon die Mappe für den Nachmittag in der Hand, und aß zerstreut und hastig, alle paar Minuten nach der Uhr sehend. Am Schluß der schweigsamen und ungemütlichen Mahlzeit sagte das junge Mädchen plötzlich: »Bitte – versprecht mir, daß ihr jetzt keine Geschichten macht. Ich dank' euch herzlich für eure Gastfreundschaft. Aber alles auf der Welt muß ja leider einmal ein Ende haben . . .«

»Wieso denn?«

Die Wanduhr schlug dreiviertel Zwei. Erich von Logow sprang mit dem letzten Bissen im Munde auf und griff nach seinen Akten.

»Wieso denn?« wiederholte er, halb schon im Geiste beim Dienst. »Was ist denn geschehen?«

»Nichts! Ich fahre nur heute nachmittag nach Straßburg zu Onkel Bruno. Ich packe jetzt gleich meine Sachen. Geld hab' ich.«

Ulla saß sprachlos da. Ihr Mann riß seine dunklen Augen auf, in maßloser Verblüffung und Ungeduld zugleich. Er mußte zum Dienst! Er kam zu spät! Konnte diese Bombe nicht zu einer anderen Zeit platzen? Und dabei war es doch nur ein Schreckschuß! Er nahm ihn nicht ernst! So aus heiler Haut reiste man doch nicht plötzlich in die Weite! Das war nur, um ihm dies alles hier noch schwerer zu machen! Er runzelte die Stirne.

»Na – darüber reden wir noch!« sagte er, seinen Überrock zuknöpfend und den Säbel umschnallend. »Das ist ja heller, lichter Unsinn! Das weißt du ja selbst!«

»Da gibt's nicht mehr viel zu reden, Erich!«

»So? . . . Na – heute abend wasch' ich dir den Kopf! Aber gehörig – Jesus nein . . . ist das eine Idee . . .«

»Heute abend bin ich nicht mehr hier!«

»Natürlich bist du's!« Er raffte Mappe, Mütze, Handschuhe zusammen. »Herrgott . . . ich versäum' den Vortrag! Der General . . .« Plötzlich wurde er zornig und fuhr seine Frau an. »Und du sitzt natürlich wieder da und döst, als ginge dich das gar nichts an! Wann wirst du mir je im Leben ein bißchen helfen! . . . Schau, daß sie keine Dummheiten macht, bis ich heimkomm'! Auf Wiedersehen, Maxe! Bitte . . . werde unterdessen vernünftig! Ich muß jetzt fort!«

Er stürzte davon. Er kürzte heute seine Arbeit am Königsplatz möglichst ab. Aber es wurde doch Abend, bis das Nötigste erledigt war. Er hatte, obwohl er sich selbst über seine grundlose Unruhe ärgerte, doch ein sonderbares Gefühl der Beklemmung, als er seine Wohnung wieder betrat. Die lag im Dämmern des Frühlingsabends. Seine Frau saß allein am Fenster, die Hände im Schoß, den Blick ins Leere. Er trat auf sie zu.

»Wo ist Maxe?«

»Abgereist!«

Sie sagte es müde, ohne ihre Stellung zu verändern. Er glaubte es im ersten Moment nicht. Er fuhr vor Schrecken zurück.

»Und du hast sie fortgelassen?«

»Wie kann man einen erwachsenen Menschen halten, wenn er gehen will?«

Nun kam der Zorn über ihn. Eine heiße Blutwelle färbte sein scharfgeschnittenes Gesicht.

»Als ob man so da durchs Fenster wegflöge! Man muß doch 'ne Droschke holen, Koffer 'runterschleppen – was weiß ich! . . . In der Zeit hättest du mir doch zehnmal telephonieren können, oder den Burschen mit einem Zettel schicken! . . . Dann wär' ich gekommen und hätt' es verhindert . . .«

Die junge Frau rührte sich immer noch nicht. Ihr blasses Gesicht war steinern. Sie sagte langsam und dumpf: »Vielleicht war es besser so!«

Er biß sich auf die Lippen und schwieg. Es war eine Stille.

Dann setzte sie hinzu: »Du wirst sie freilich sehr vermissen . . . Zu sehr . . .«

Er wandte sich ab. Er gab ihr keine Antwort. In dem schweren Schweigen zwischen den beiden Gatten klang plötzlich als einziger Laut ihr leises, helles, verzweifeltes Weinen.



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