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»Morgen marschieren wir,
Ade – ade – ade – ade!
Morgen marschieren wir –
Ade – ade – ade . . .
Wie schön schlug heut' die Nachtigall
Vor meiner Liebsten Haus . . .«
Hunderte von rauhen Kehlen sangen, die Gewehre starrten kreuz und quer über den regennassen Helmen, es ging ohne Tritt mitten durch die Straßen von Darmstadt. Kriegsgemäß. Es war Manöver. Kaisermanöver. Dort im Süden, gegen den Neckar zu, stand der Feind.
In grauen Strähnen strömte der Herbstregen herunter. Der Boden war ein zäher Brei, aufgeweicht von Nagelstiefeln, Rossehufen und Kanonenrädern der endlos von Frankfurt her durchrückenden Kolonnen, die Bürgersteige, die Fenster und Balkons schwarz von Menschen. Undurchdringliche Schilddächer von Regenschirmen säumten die Wegkreuzungen ein. Über ihnen sah man nur die Pferdeköpfe und die Oberkörper der berittenen Offiziere vorbeigleiten. Maximiliane von Glümke versuchte, vom Darmstädter Bahnhof kommend, seit zehn Minuten vergeblich, den Schnittpunkt der Rhein- und der Neckarstraße am Zivilkasino zu überschreiten, nachdem ihr Suchen nach einem Wagen heute vergeblich gewesen war. Sie stak, das Reisetäschchen in der Hand, ihre Jungfer neben sich, mitten in der Masse. Vor ihr zog es immer weiter vorüber: Generale mit ihrem Stab – Lanzenwälder, Pausen, in denen nur das dumpfe Poltern auf dem Pflaster verriet, daß Artillerie durchpassierte, und wieder schwere, schulternde Infanteriemassen. Es war ohne Anfang, ohne Ende. Es schien das achtzehnte Armeekorps zu sein. Maximiliane erkannte durch die Lücken der Menschenmauern zuweilen die Uniformen der nassauischen und kurhessischen Regimenter – das Artillerieregiment Oranien – die Wiesbadener und Homburger Füsiliere. Jetzt eben entstand im Vorbeimarsch der Einundachtziger, der Frankfurter, ein Halt. Sie benutzte die Gelegenheit und ging mit der Sicherheit einer Soldatenfrau zwischen den Sektionen hindurch. Auf der anderen Seite der breiten Rheinstraße war auch noch alles voll von Menschen, die ganze Stadt in festlich verregneter Stimmung, aber man kam doch vorwärts. Beim weißen Turm trat die junge Generalin in einen Blumenladen ein und kaufte einen Strauß zur Begrüßung für ihre Mutter, zu der sie heute für einige Zeit auf Manöverbesuch kam. Während sie auf das Binden wartete, schaute sie durch die regenblinden Scheiben ins Freie hinaus. Soldaten . . . immer wieder Soldaten . . . auch hier . . . nicht die gewohnten Truppenteile, die man im Frieden sah, sondern ganz sonderbare Formationen aus der probeweisen Mobilmachung eines Armeekorps mit kriegsstarkem Train – lange ernste Munitionskolonnen, rauchende Feldbäckereien auf Rädern, Reservehufschmieden, Ambulanzen mit dem roten Genfer Kreuz, fauchende Lastautomobile, dann, von Pionieren bewacht, eine Karrenreihe mit großen, darauf verpackten Trögen, ein Pontonbrückentrain, rechts, um die grauen Massen des Schlosses herum, am Theater vorbei bis in die Altstadt hinein, Hunderte von stillhaltenden Leiterwagen mit Heu und Stroh, von Odenwälder Bauern mit Vorspannpferden geführt – ein Bild wie aus dem Dreißigjährigen Krieg. Die junge Frau riß plötzlich die Glastür auf und rief: »Dorle . . . Dorle . . .!«
Eine kleine rundliche Dame und ein zwei Köpfe größerer, knochiger Herr in Zivil drehten sich um. Jawohl: sie waren es . . .! Dorle Grotjan stieß einen Schrei des Entzückens aus und flog ihrer schönen Schwester entgegen. Ihr Gatte, der nun schon Hauptmann bei seinen dreißigsten Pionieren in Thorn war, küßte ihr, der Exzellenz, respektvoll die Hand.
»Ja . . . unsere Festungsübungen an der Weichsel waren vorgestern zu Ende. Da sind wir rasch mal hier zu Muttern 'rüber!« sagte er ganz aufgeregt auf ihre Frage. »So was sieht unsereins nicht alle Tage . . . Schau nur die Brückentrains . . . der Neckar wird morgen an fünf Stellen zugleich von fünfzigtausend Mann überschritten! Großartig! . . . was?«
»Ach, das ist noch nichts!« rief Dorle dazwischen. »Von der Rosenhöhe aus solltest du einmal sehen! . . . Die ganze Rheinebene, bis Frankfurt hin – alle Straßen schwarz!«
Und ihr Mann ergänzte begeistert: »Das ist das elfte Korps. Und heute nacht ist das ganze bayerische Armeekorps mit Sack und Pack, Pferden . . . allem . . . in achtzig Zügen von München hier herüber. Sie schiffen sich eben zwischen Aschaffenburg und Frankfurt aus . . .«
Das Ehepaar war wie berauscht. Die junge Exzellenz blieb kühler, an kriegerischen Trubel im großen Stil gewöhnt. Sie frug: »Wo ist denn der Kaiser?«
»Der Kaiser ist noch in Mainz! Das Hauptquartier geht morgen von dort direkt gegen den Neckar, in die Gegend von Ladenburg . . . Der Großherzog von Hessen ist auch drüben in Mainz. Eine Menge Fürstlichkeiten! Wir waren gestern in Mainz . . . Ich sage dir: die Stadt steht auf dem Kopf! Ein Menschengewühl . . . ein Leben . . . alles voll Fahnen . . .«
»Dabei nichts mehr zu essen und zu trinken!« lachte Frau Dorle. »Die Leute übernachten im Freien!«
»Und wir kommen hier auch nicht von der Stelle,« sagte die Generalin etwas ungeduldig. Im selben Augenblick hatte ein höherer Offizier zu Pferde, ein früherer Untergebener ihres Mannes, sie erkannt. Er grüßte Maximiliane ehrerbietig und wetterte dann den nächsten Ulanenleutnant an, der, das Reservekreuz auf der Tschapka, sehr mißvergnügt, weil er und viele Leidensgefährten, statt vor der Front querfeldeinzusprengen, hier Fuhrknechte und Karren bewachen mußte und teilnahmslos von seinem durchnäßten Gaul über diese vierräderige Trübsal hinweg ins Graue blickte.
»Zum Donnerwetter, Herr . . . wozu hat Sie denn der liebe Gott erschaffen und hierher gestellt, wenn Sie sich um nischt kümmern? . . . Da steht Ihre Exzellenz womöglich schon seit einer Stunde und wartet auf Durchlaß . . .«
Der Reserveleutnant riß, zu plötzlichem Eifer erwacht, höchst eigenhändig den nächsten Karrengaul zur Seite. »Platz für Ihre Exzellenz!« befahl er. Hinter dem Wagen schrie ein Unteroffizier: »Platz für Exzellenz!« Andere Stimmen wiederholten es: »Platz für Exzellenz!« Niemand wußte mehr, wer die Exzellenz war. Aber es bildete sich eine Gasse, durch die hindurch die drei in ruhigere Straßen und zum Hause der verwitweten Frau von Ottersleben gelangen konnten.
Maximilianes Mutter wohnte mit ihrer ältesten Tochter außerhalb der eigentlichen Stadt gegen die Bessunger Kasernen zu. Es waren helle, freundliche Zimmer. Im vordersten stand, im eleganten Zivil, Otto von Ottersleben mit seiner Frau, und schaute tiefsinnig auf den Heereszug hinunter. Die Scheiben klirrten von dem dröhnenden Schritt der Bataillone, die Fensterrahmen zitterten unter dem Gerumpel der Geschützräder – jetzt setzte die Musik ein – ein Reitermarsch schmetterte durch Grau und Regen . . . lieber Gott ja – so war man früher auch mit hinausgezogen, hatte sich den Landstraßendreck ins Gesicht spritzen lassen und die Flöhe im Bauernbett gezählt und im Stall drauflos gedonnert, weil der Einjährige Meier die Roßäppel nicht mit seinen eigenen verehrlichen Pfoten zusammenkratzen wollte. Jetzt war man ein freier Mann – konnte tun und lassen, was man mochte. Besaß sein eigenes Rittergut in der Ostmark. Aber auf Otto von Otterslebens hübschem Gesicht lag ein Schatten, während er sich von den Soldaten unten ab- und den Seinen im Zimmer zuwandte.
Dort hatte Maximiliane inzwischen lachend die Mutter umarmt. Frau von Ottersleben erwiderte ihre Küsse. Dann entschuldigte sie die Älteste: »Ulla kommt gleich! Sie hat eben einen langen Brief gekriegt von ihrem Mann, aus Südamerika.«
»Wie geht's ihm denn?«
»Es scheint ganz gut, Maxe! . . . Aber 's ist doch recht traurig! . . . Da sitzt die arme Ulla nun hier . . . Ich bin ja froh! Ich habe dadurch Gesellschaft! Ihr andern kommt ja doch nur alle Jubeljahre mal! . . . Sogar du, Maxe!«
»Ja, eben wegen der Ulla, Mama!« sagte die junge Exzellenz, ernst geworden. »Ich bin ihr doch ein Dorn im Auge!«
»Warum denn nur, Kind?«
»Ich weiß nicht! . . . Ich geh' ihr aus dem Weg, wo ich kann. Aber heute ist's mir gleich. Ich muß dabei sein, wenn mein Mann . . . o Gott . . . was werden die Leute draußen naß! . . . Er natürlich auch! . . . Er schont sich ja nie . . .«
Schallend dröhnte es unten aus der grauen Flut von Helmen, Gewehrläufen und gerollten Mänteln:
»Der Hauptmann, der führt uns,
Er geht uns kühn voran.
Wir folgen ihm mutig
Auf blutiger Siegesbahn . . .«
Und während die eine Kompanie da vorn im Regen verschwand, hallte schon der Chor der nächsten:
»Er führt uns jetzt
Zu Kampf und Sieg hinaus,
Er führt uns deutsche Brüder
Ins Vaterhaus!«
Und der gestrenge Kompaniechef, der in seinem nassen Mantel vor den Seinen ritt, wandte wohlwollend den Kopf im Sattel zurück, zufrieden, daß seine Kerls trotz des Schweinewetters fidel waren, und die jungen Leutnants, die leichtfüßig, mit ihrem kleinen Tornister auf dem Rücken, neben ihren Sektionen schritten, sangen aus Langeweile mit, während es sich weit, weit in der Ferne in tausendstimmigem Chor verlor:
»Und wer den Tod
Im Heilgen Kriege fand, ja fand,
Ruht auch in fremder Erde
Im Vaterland! . . .«
Dann plötzlich Stille unten. In der Menschenmenge ein beinahe ehrfürchtiges Schweigen. Ein Generalkommando kam vorbei. Vorne der Kommandierende im Auto mit dem Chef und den Herren seines Stabes. Ein hellblauer, blondbärtiger, von Aschaffenburg herübergekommener Bayer ritt nebenbei und stenographierte sich im Gespräch mit einem der Adjutanten im Sattel Notizen in sein Taschenbuch. Dahinter die Ordonnanzoffiziere, die Stabsordonnanzen in schimmerndem Stahlhelm, berittene Burschen mit Handpferden, und weiter, zu Roß und zu Wagen, all das Gefolge: Militärintendanten, Stabsärzte, Kriegsgerichtsräte, Feldgeistlichkeit, Stabsveterinäre, Aktenfuhrwerk, eine Abteilung eines Telegraphenbataillons mit Sack und Pack – es dauerte lange, bis der Zug des Allgewaltigen vorbei war, und eben sagte Dorle Grotjan, die kleine Hauptmannsfrau, mit einem Anflug von Neid und Bewunderung zu ihrer Schwester: »So weit werdet ihr nun auch bald sein, Maxe!«
»Oder wir gehn in Wiesbaden unterm Regenschirm spazieren!« lachte die junge Exzellenz. »Wir sind auf alles gefaßt!«
Neben ihr versetzte ihr Bruder Otto: »Und ich hab' manchmal umgekehrt förmlich wieder Lust, ein bißchen mitzumachen!«
Durch die Hülle des Millionärs und Dandys hindurch regte sich in ihm beim Anblick des Waffentreibens da unten das kriegerische Blut seines Stammes. Die Tür zum Nebenzimmer ging auf. Ulla von Logow kam herein, den Brief ihres Mannes in der Rechten. Sie ging auf Maxe zu und reichte ihr gleichmütig die Hand in einer Art von geistesabwesender Ruhe, die nichts Feindseliges an sich hatte. Sie erzählte ganz unbefangen von dem, was Erich von Logow ihr schrieb. Jeden Monat einmal kam ein Brief von ihm. Es stand ungefähr immer dasselbe drin, wie heute: Viel Dienst – viel Ärger – viel Strapazen – etwas Erfolg – annähernd so eben das, was er sich gewünscht und erwartet hatte. Ihr, seiner Frau, schien es mit der Gesundheit besser zu gehen. Sie sah wohler aus, sie war etwas lebhafter als früher und schlug selbst nach Tisch, als der Himmel sich aufzuhellen begann, ihrer Schwester Maximiliane, die sie seit fast einem Jahre, seit ihrer schweren Krankheit, nicht mehr gesehen, einen Spaziergang vor. Es war dabei etwas in ihren dunklen, ruhigen Augen, das hieß: Ich habe mit dir zu sprechen. Die beiden jungen Frauen machten sich fertig und traten vorsichtig, die Röcke zwischen den Regenpfützen raffend, hinaus in das Straßengewühl.
Ringsum war heller Jubel. Ein Lärm wie noch nie. Die einheimischen Truppen marschierten durch, die Regimenter der fünfundzwanzigsten Division, die bisher in Oberhessen im Manöver gewesen. Zwar die Kavalleriebrigade, die russischgrünen Dragoner mit ihren roten und weißen Kragen, war schon längst voraus in der Rheinebene, wo der Vortrab der Reiterschwärme seit dem Morgen mit dem Gegner plänkelte und seinen Vorpostenschleier zu zerreißen suchte, aber die ganze Straße hinunter war alles voll von den Hundertfünfzehnern und ihren weißen Gardelitzen und ihrem klingenden Spiel. Auf Hunderten und aber Hunderten von Helmen schimmerte unter dem hessischen Löwen die Jahreszahl »1621« des zweitältesten Regiments der Armee, das noch den Beginn des Dreißigjährigen Krieges gesehen, die langen Kerle der Leibkompanie grinsten und nickten in die Menschenmauern, Zurufe und Scherze flogen, Gejohle, Mädchengekreisch – die Babettchen und Sannchen am Küchenfenster winkten ihren Gardisten und Gardefüsilieren zu. Und hinterdrein fluteten die weißen Achselklappen der Gießener, die blauen Mainzer, die gelben Offenbacher – ferne Musik kündete das Nahen immer neuer Truppenteile – es hatte den Anschein, als höre das nun überhaupt nicht mehr auf, als würde, so wie ein Strom tagaus tagein durch sein Bett fließt, die deutsche Armee ohne Ende ihre bunten Fluten hier vorüberwälzen. Die beiden, Frau von Glümke und Frau von Logow, hatten eine Weile mit unwillkürlichem Sachverständnis dem Vorbeimarsch zugeschaut. Dann wandten sie sich ruhigeren Gassen zu nach der Altstadt und, an der verlassenen Kaserne des Leibgarderegiments vorbei, durch die Dieburger Straße hinaus ins Freie. Hier war es mit einem Schlag einsam und still: schwach violett, sanftgestreckt, zum Greifen nah, lagen in der klaren Luft die Odenwaldberge. Ein Sergeant in blauer Feldlitewka kam mit einer Meldung von dort, von Osten her, in rasender Eile auf einem knatternden Motorzweirad, heran und flitzte wie ein Schatten vorbei – dann zwei, drei Militärradfahrer – Es war hier wie ein Verklingen des großen kriegerischen Schauspiels in der Ferne – Nun rührte sich wieder nichts. Noch prangte das bunte Laub an den Bäumen und zeigten im Geäst auf den Feldern die Äpfel ihre roten Backen. Aber mehr als ein welkes Blatt kreiste bei jedem Luftzug zu Boden, deckte die Erde, daß man beim Gehen das herbstliche Rauschen unter den Füßen hörte, wie eine Mahnung: die grauen Tage sind nah. In dies leise, müde Knistern klangen jetzt von ferne her dumpfe, hallende Schläge. Sie waren viele Stunden weit entfernt. Man hörte sie nur, wenn gerade der Wind aus Südwesten kam. Dann war es, als grollte dort drüben über der Rheinebene ein Gewitter: die beiden Schwestern waren stehen geblieben und horchten, und Maxe sagte: ». . . Kanonen! . . . Jetzt geraten sie schon ordentlich aneinander . . .«
Und dann im Weitergehen: »Möchte nur mein Mann so recht tüchtig nach vorn 'rankommen! . . . Unter den Augen von Majestät!«
»Er wird schon!« meinte Ulla phlegmatisch.
»Ja – wenn alle Leute die Dinge so pomadig ansähen wie du! . . . Glück muß der Mensch haben! . . . Gottlob . . . Olaf hat's eigentlich immer! . . . Er ist so veranlagt! . . . Er zwingt sich's herbei . . .«
Die blasse brünette Frau neben ihr nickte. Sie sagte gepreßt, in einem Ton, der ihre eigene Schicksalslast verriet: »Freilich . . . du bist zu beneiden, Maxe . . .«
Nach einer Weile setzte sie schleppend und traurig hinzu: »Du weißt ja gar nicht, wie gut du es hast!«
Sie waren dicht vor dem Waldrand der Fasanerie. Aus dem schoß jäh ein Automobil, stutzte an der Wegkreuzung und stand still. Ein älterer, vornehmer Herr in der Uniform des Freiwilligen Automobilkorps führte es. Neben ihm und hinter ihm im Wagen saßen gedrängt Generalstabsoffiziere mit umgeschnallten Feldstechern und Landkarten auf den Knieen. Er lüftete seine Kappe: »Bitte, meine Damen! Ist das der nächste Weg nach Darmstadt? . . . Ja? . . . Danke gehorsamst! Danke!« Und schon war alles wieder in Rattern und Benzindampf um die Ecke.
Ulla von Logow ließ im Weitergehen den Kopf hängen. Ihre dunklen, schwermütigen Augen hafteten am Boden. Sie sah ihre Schwester nicht an.
»Wenn man so zurückdenkt, wie das alles so gekommen ist, Maxe,« sagte sie. »Und wenn man sich mit dir vergleicht . . . ich bin doch in einer recht elenden Lage – nicht? In einer lächerlichen: wenn ich Witwe wäre, so wär' ich frei. Wenn ich geschieden wäre, so wär' ich frei! . . . Wenn ich du wäre oder die Dorle, so hätt' ich meinen Mann. So aber hab' ich keinen Mann und bin doch nicht frei! Ich hab' nur das Elend von beidem. Und weiter nichts! . . . Das ist doch eine Lage, in der sonst niemand ist . . . Ich kann mir das gar nicht erklären . . . Ich hab' immer das Gefühl, daß irgendwie ein großes Unrecht an mir begangen worden ist!«
Sie kämpfte mit sich und setzte mit Überwindung hinzu, während es vor Bitternis um ihre Lippen zuckte.
»Siehst du, Maxe – so weit bin ich schon gekommen – so verlassen und überflüssig fühle ich mich . . . daß ich mich schon an dich klammere . . . An dich! . . . Ich muß mir selber immer klar machen, was das heißt! . . . Denn du bist doch meine natürliche Feindin im Leben . . .«
»Ich bin deine Schwester, Ulla . . .«
»Ach Gott ja . . . deswegen gehen wir doch an dir zugrunde, er und ich – und es drückt mir das Herz ab, und ich kann es niemandem ausschütten als dir . . . ausgerechnet dir . . . ich muß . . . wenn ich dich seh', muß ich von ihm sprechen! . . . Ich hab' gar keinen Stolz – nicht?«
Sie lachte verzweifelt auf und fuhr fort: »Ja. Es war damals eine Vernunftpartie. Aber du hast nachher doch auch eine gemacht – sogar noch viel offenbarer – warum ist's nun bei dir damit so gut ausgegangen und bei mir so jammervoll? Das möcht' ich bloß wissen!«
»Vielleicht, weil ich vorher mein Herz hab' zum Schweigen bringen müssen!« sagte Maximiliane. »Das ist dir erspart geblieben! . . . Du hast ja nie in deinem Leben wirklich geliebt – höchstens dich lieben lassen . . . Du weißt nicht, was man da durchmacht . . .«
Die beiden jungen Frauen schwiegen. Sie schritten unter den hohen Buchen des Waldes dahin. Hier merkte man nichts mehr von dem Krieg im Frieden draußen. Kein Mensch war zu sehen. Ulla schaute noch immer vor sich, auf die knorrigen Wurzeln, die quer über den Pfad liefen und den Fuß hemmten. Dann hob sie plötzlich den Kopf und sagte: »Du meinst, ich hätte nie geliebt! Weißt du, daß das ein schreckliches Wort ist, wenn's wahr ist?«
»Ja.«
»Aber es ist nicht wahr!«
Sie holte tief Atem.
»Weißt du, Maxe . . . wie du damals anfingst, auf ihn Eindruck zu machen, da kam's über mich! Da fing ich an und wollt' ihn selber haben. Da war's schon zu spät. Da entglitt er mir. Es war ein verzweifelter, aussichtsloser Kampf all die Jahre – eigentlich nicht gegen ihn, sondern gegen dich. Du warst mein Verhängnis . . . Sei nicht böse . . . Ich mein' es auch nicht böse. Du kannst ja nichts dafür. Ich hab' es wohl auch nicht richtig angepackt. Ich hatte Zeiten der Mutlosigkeit und Verbitterung . . . Da hab' ich die Hände in den Schoß gelegt und die Dinge laufen lassen, wie sie wollten, und ihn durch meine Gleichgültigkeit erst recht wieder abgestoßen, zu dir hin . . . immer zu dir . . . ach Gott, Maxe – was hab' ich gelitten durch dich . . . Und du warst unterdessen in Glück und Glanz!«
»Komm, wir wollen umdrehen, Ulla,« sagte die Generalin. »Es wird zu spät. Ich versäume sonst noch in der Stadt meinen Mann!«
Die beiden Schwestern schlugen den Rückweg ein. Nach kurzer Pause hob Frau von Logow wieder an: »Ja, dein Mann . . . du hast einen Mann! Aber ich . . . meiner ist fern . . . und seit er fern ist, weiß ich erst ganz, was ich an ihm hab'! Glaub mir, Maxe – diese Zeit unserer Trennung – die hat aus mir einen anderen Menschen gemacht. Ich bin so weich geworden – so voll Sehnsucht . . . ich fühle mich so verlassen . . . ich lieb' ihn so . . . ich hab' ihn schon die Jahre geliebt – aber nie so wie jetzt . . . jetzt ist das alles erst ganz in mir wach geworden . . . ich weiß jetzt, daß ich im Leben nie mehr etwas ohne ihn anfangen kann, nie mehr froh werden ohne ihn . . . Ich denke nur an ihn . . . ich zähle die Tage, bis die Post aus Südamerika kommt . . . Gottlob . . . seine Briefe sind immer lang und freundlich . . . er ist gut zu mir übers Meer . . . ich bin so glücklich, wenn ich sitzen und ihm schreiben kann . . . ich rechne mir jetzt schon immer aus: In zweieinhalb Jahren ist's überstanden. Dann kommt er zurück. Dann hab' ich ihn wieder . . .«
»Aber warum fährst du denn nicht jetzt gleich zu ihm hinüber? Es hält dich hier doch nichts?«
Ein tiefer Kummer legte sich über Ullas bleiche Züge.
»Ich hab' zwei, drei Ärzte gefragt! Immer dasselbe: Mit meiner Lunge geh' ich in dem Klima da drüben in kurzem drauf. Oder wenn nicht ganz, so doch halb! Darunter hat er schon hier genug gelitten. Was macht er erst dort mit einer siechen Frau, ohne rechte Pflege? Das darf ich ihm nicht aufpacken! Da verliert er wieder seine Spannkraft. Daran will ich nicht schuld sein. Ich muß schon hier bleiben und warten. Ich entziehe ihm ja dadurch nichts. Er braucht mich ja nicht. Nur ich ihn . . .«
Ein warmer Schimmer durchleuchtete ihre großen dunklen Augen. Um ihre blassen Lippen spielte ein hoffnungsvolles Lächeln.
»Wenn er dann wieder daheim ist, dann kommt meine Zeit! Dann will ich alles daran setzen, um alles wieder gutzumachen. Dann muß er mein sein und bleiben. Ich möchte bloß leben bleiben, um das Glück zu erleben!«
Sie blieb stehen und faßte die Hand der Jüngeren.
»Und das, Maxe – das ist der Segen für mich, daß ich mich auf dich verlassen kann. Du hast ja alles in der Hand. Aber du hast ihn nie mit einem Blick, mit einer Silbe auf etwas anderes als auf seine Pflicht hingewiesen! Und das hat mir den Mut gegeben, jetzt mit dir so offen darüber zu reden. Ich weiß: wenn er zurückkehrt, wirst du, die du selbst so glücklich bist, mein Glück nicht stören . . .«
»Da sei Gott vor!« sagte Maximiliane von Glümke leise und ernst.
Die zwei jungen Frauen blickten sich an und beugten sich dann, von der gleichen Eingebung ergriffen, mit einem schmerzlichen Lächeln gegeneinander und gaben sich einen stummen, schwesterlichen Kuß. Beide hatten Tränen in den Augen. Still kehrten sie in die Stadt zurück.
Dort war immer noch dasselbe Bild: Menschenmauern, über ihnen, in rastlosem Dahingleiten, die Züge der Pickelhauben und Gewehrläufe, Pferdeköpfe, eine in schwarzes Wachstuch gewickelte Fahnenstange – der Schellenbaum mit Glöckchengeklingel und Roßschweifwehen – Paukenschlag und Trompetengeschmetter – immer neue Regimenter und Bataillone. Von den Fenstern der Otterslebenschen Wohnung sah man nicht mehr auf sie hinunter. Alle standen und musterten ein paar sonderbare, kreisende Libellen fern in der Luft, über dem Waldsaum, der den Exerzierplatz hinter dem Bahnhof abschloß. Das waren Militärflugzeuge, die vom Griesheimer Sand herüberkamen. Sie flatterten, verschwanden wieder in der Richtung gegen den Rhein, und während noch die Blicke der Familie an den Luftseglern hingen, wandte sich Maximiliane mit einem plötzlichen leisen Aufschrei der Freude um und lief nach der Tür. Sie hatte draußen die Stimme ihres Mannes gehört. Fast zugleich stand er schon auf der Schwelle, streckte lachend die Arme aus und zog sie stürmisch an sich.
Exzellenz von Glümke war feldmarschmäßig gestiefelt und gespornt, so wie er eben aus dem Sattel gestiegen. Sein Gefolge hielt als ein stattlicher Reitertrupp, Generalstäbler, Adjutant, Stabsordonnanzen, Burschen mit Handpferden, vor dem Hause inmitten einer rasch zusammengeströmten Menge von Neugierigen. Er war seiner nachrückenden Division vorausgaloppiert. Ein Hauch von Herbstluft und Stoppelwind, von Frohsinn und Frische des Manövers umwitterte ihn. Seine Wangen waren gerötet. Seine blauen Augen blitzten. Jetzt, wo der Helm das angegraute Haar bedeckte, glich er in der Lebhaftigkeit seiner Sprache, dem Ungestüm seiner Art weniger einem preußischen General der schweigsamen, gemessenen Moltkeschen Schule als einem Napoleonischen Marschall, einem der verwegenen Troupiers, die aus Mord und Kaput die Truppen mit sich in das Feuer und zum Siege rissen. Er goß ein Glas Wein herunter, das ihm seine Frau gebracht, wischte sich den Schnurrbart und lachte.
»Na – nu geht's los! . . . Eine Riesenwirtschaft . . . Drüben am Main, wo ich herkomm', ist alles himmelblau von Bayern. Die sind noch zurück. Aber sie schließen mit einem Nachtmarsch auf. Morgen wird was an Pulver verknallt . . .«
»Schade nur, daß du so weit hinten bist!« meinte Maximiliane betrübt.
Er verneinte eifrig.
»Schadet gar nichts, Schatz! Die Teten beißen sich doch am Feinde fest. Die kommen doch nicht vorwärts. Aber wir marschieren am Flügel auf . . . Ich hab' so die Idee, daß wir uns bei Weinheim seitwärts in die Büsche schlagen . . . das wäre ein Spaß: über den Odenwald urplötzlich morgens die Württemberger und Badenser aus ihren Biwaks kitzeln . . . na . . . Gott geb's!«
Er küßte seine Frau zum Abschied.
»Also hört mal . . . wer von euch morgen was sehen will – meine Heldentaten im Gebirge könnt ihr doch nicht verfolgen – immer dahin, wo Seine Majestät ist . . . in die Rheinebenelinie Heidelberg-Ladenburg-Mannheim – sag mal, Otto . . . schämst du dich nicht an so 'nem Tag wie heute bis in die Knochen, als freiwilliger Ziviliste? Junger, gesunder Kerl und spielt den Schlachtenbummler und läßt sich von uns alten Leuten was vorschwitzen und vorgaloppieren . . . Unter den Augen des Kriegsherrn?«
Otto von Ottersleben wandte sich finster ab. In der Tür erschien die Gestalt des Divisionsadjutanten.
»Ich bitte gehorsamst um Entschuldigung, gnädige Frau! . . . Exzellenz: die Spitzen der Division sind schon . . .«
Von unten klang neue, rasch näherkommende Musik durch den ewigen, gleichmäßig schlitternden Marschschritt der Bataillone. General von Glümke winkte.
»Ja . . . ich komm' schon, mein lieber Gutgesell! Adieu, Kinder! . . . Gott . . . wird das morgen famos!«
Er eilte die Treppe hinab. Unten auf der Straße ertönten die gellenden Rufe: »Achtung!« Und pflanzten sich weithin über die marschierenden Kolonnen fort, um dem Divisionskommandeur den Weg links frei zu machen. In sausendem Galopp flog der General von Glümke mit seinem Stab an ihnen vorbei, gegen Süden, in der Richtung wider den Feind.