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Spät am Nachmittag hielt der Eilzug zum Wagenwechsel an einer winzigen elsässischen Station. Von hier führte eine kleine Stichbahn in das Vogesental hinein. Langsam rollten die Wagen dahin. Durch die vom Regen blinden Scheiben glitt vor Maximiliane von Glümke schattenhaft draußen das graue Land vorbei, auch jetzt noch, im trüben Herbstdämmern, südlicher als sonst das Deutsche Reich. Kahle Rebengelände, entblätterte Edelkastanien, Fabrikschlote, auf den Bahnhöfen deutsche und welsche Leute durcheinander – man war hier kaum weiter als eine Stunde von Frankreich entfernt. Es troff immer dichter vom Himmel. Es war kalt. Die junge Frau schloß ermüdet die Lider und fuhr aus dem Halbschlaf wieder empor und schaute um sich und frug: »Herrgott – wo bin ich denn?« Und dann wußte sie es wieder: dieser weltverlassene Flecken da vor ihr im nebligen Talkessel, dem sich die Lokomotive in fortwährendem, aufgeregtem Pfeifen näherte, mit seinen mächtigen, funkelnagelneuen, ziegelroten Kasernen und den paar Offiziersvillen dicht dabei und der weiten, kahlen, pappelumstandenen Fläche des Exerzierplatzes da drüben, das war die Garnison der Logows in den Vogesen.
Sie hatte ihnen ihre Ankunft nicht gemeldet. Niemand empfing sie. Auch kein Wagen war zu finden. Sie ließ ihr Gepäck auf der Bahn und schritt zu Fuß im Regengeriesel den kotigen Weg über die Felder zur Stadt.
Ein Gendarm kam ihr entgegen, lang, mager, schnauzbärtig, wie die Verkörperung preußischer Zucht in diesem Lande. Sie frug ihn nach der Wohnung des Hauptmanns von Logow. Er wies ihr die zweite der vier oder fünf Villen am Wege. Regenverwaschen, mit offenem Gittertor und herbstlich ödem Vorgarten lag dieses kleine Haus freudlos da. Zwei Damen traten aus der Tür, offenbar Offiziersfrauen, die sich nach dem Befinden der Patientin erkundigt hatten, und warfen den neugierigen Blick von Kleinstädterinnen, die plötzlich ein fremdes Gesicht sehen, auf Maximilianes elegante Erscheinung. Sie schritt an ihnen vorbei in den Flur. Ihn Mutter hatte sie vom Fenster aus gesehen und kam ihr entgegen.
»Wie geht's, Mama?«
»Immer gleich! Vor morgen, sagt der Stabsarzt, kann man nichts wissen! . . .«
»Ist Erich da?«
»Nein. Im Dienst! Was soll er auch hier? Wir können nichts tun als warten. Aber leg doch ab, Kind.«
Es dämmerte in den niederen Wohnräumen. Die junge Generalin setzte sich ermüdet hin. Ihre Mutter ging ab und zu, um Kaffee für sie zu besorgen. Inzwischen sah sie sich stumm in Erich von Logows vier Wänden um. Sie kannte alle diese Dinge: die Rehgehörne und Waffen, das altväterische Schreibpult, die Büsten Napoleons und Friedrichs des Großen, die Briefbeschwerer und Granatsplitter wurden lebendig. Sie flüsterten von der Vergangenheit. Die Lampe auf dem Tisch erzählte von stillen Mitternachtstunden in Berlin. Das war schon so endlos lange her – scheinbar ein halbes Menschenleben und mehr. Es war alles so anders geworden – so seltsam. Maximiliane dachte sich: Was machen die beiden nur, Erich und seine Frau, hier, ganz aufeinander angewiesen? Ulla hat keine geistigen Interessen. Sie ist nicht musikalisch. Sie treibt keinen Sport. Sie ist nur schön. Und dazu braucht sie einen anderen Hintergrund als diesen weltfernen Vogesenwinkel. Um den herum schweigen die Wälder, der Wind pfeift, der Regen rauscht, auf dem Exerzierplatz blasen und trommeln die Spielleute, von den Schießständen kommt ein ferner Knall nach dem anderen – sonst dringt kein Laut von außen in diese Herbsteinsamkeit. Hier müssen zwei einander schon sehr, sehr lieb haben, damit ihnen die Tage nicht lang werden. Erich hat ja noch seinen Dienst, seine Kompanie. Aber trotzdem . . . auch seine militärische Laufbahn hat er sich anders, ganz anders gedacht . . .
Womit beschäftigte er sich wohl, wenn er nicht seine Leute drillte oder auf die Jagd ging? Sie trat an den Schreibtisch. Auf dem lag eine aufgeschlagene spanische Grammatik. Wie kam er gerade auf diese Sprache, die für die deutsche Armee doch völlig belanglos war? Nebenan am Boden lehnte der große Andresche Handatlas. Er war bei der politischen Karte von Südamerika aufgeklappt. Sonderbar. Sie wandte sich ab und schaute durch das Fenster. Weit drüben bogen sich die Zypressen des Kirchhofs im Sturm. Es fiel ihr ein, daß die Logows dort vor dreiviertel Jahren ihr einziges Kind begraben hatten. Es hatte nur vierzehn Tage gelebt. Es war schon wahr: sie fanden hier nicht Glück noch Stern! Und wer mochte wissen, wie lange sie hier noch bleiben mußten und ob man ihn je wieder in den Generalstab oder die Adjutantur berief. Das hier, das war so recht ein Ort zum Vergessenwerden . . .
Nebenan lag still die kranke Frau. Maximiliane hatte ein paarmal behutsam durch die Türspalte hineingeblickt. Sie hatte das schlafende, schöne Antlitz geschaut, das jetzt in der Fieberröte so unheimlich verändert und belebt aussah. Sie drückte leise wieder die Klinke zu und begann sich nützlich zu machen. Sie schrieb einen Stoß Depeschen und Briefe an die Verwandten und trug sie selbst in das Städtchen hinein, auf die Post. Dann kehrte sie auf demselben Weg zurück. Dabei erschrak sie plötzlich. Sie ging über das freie Feld, der Exerzierplatz lag weitab zur Linken. Ein Fußpfad führte von ihm herüber. Auf ihm näherte sich ein Offizier. Sie erkannte den Hauptmann von Logow. Er schritt rasch und gleichmäßig dahin, den Blick am Boden, dessen lehmige Wasserlachen seine hohen Stiefel bis zum Knie bespritzten. Der Regen schlug ihm gerade in das strenggeschnittene, finstere, schnurrbärtige Gesicht. Er achtete nicht darauf. Er sah auch, in seine Gedanken versunken, Maximiliane noch nicht. Sie hätte noch umdrehen können. Aber sie sagte sich entschlossen: ›Wozu? Einmal müssen wir uns doch begegnen!‹ und setzte ruhig ihren Weg fort.
Da riß er plötzlich die Augen auf, machte halt und starrte sie an wie einen Geist, der im Zwielicht aus Nebel und Regengrau vor ihm aufgestiegen war. Er stand da. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Sie gab ihm die Hand.
»Guten Tag, Erich! Ich bin lieber gleich einmal herübergekommen! Gottlob ist es ja nicht schlimmer geworden . . .«
»Nein! . . . Bis jetzt nicht . . .«
Sie gingen zusammen weiter. Sie schwiegen beide. Ein stöhnender Windstoß glitt über sie. Nässe umsprühte sie. Am Himmel flogen die Regenwolken, hingen schwer zu Tal. Ein altes Schloßgemäuer schimmerte grau und zerfallen hoch oben am Berghang. Es war schon halb verschwommen. Alle Dinge umher schattenhaft, unwirklich im Nahen der Nacht . . .
Er erzählte von Ulla und ihrer Krankheit in einer kalten, trocken-sachlichen Art. Dann brach er plötzlich geistesabwesend ab und schaute von Maximiliane weg ins Leere, so müde, wie sie es an ihm nie gesehen. Eine Hauptmannsfrau seines Regiments kam ihnen entgegen. Er sprach mit ihr beiseite. Seine Schwägerin hörte seine Bitte, ihm doch eine Matratze oder so etwas zu schicken, daß er sich für die Nacht irgendwo auf dem Boden ein Lager machen könne. Sie hätten das ganze Haus voll – Schwiegermutter, Schwägerin, die Barmherzige Schwester – er wisse nicht mehr, wo ihm der Kopf stehe . . .
Er tat ihr so leid, mit diesen Lasten des Alltags, die ihm wohl auch in Ullas gesunden Zeiten niemand abnahm. Da vor dem Hause stand schon wartend der Feldwebel mit seiner Brieftasche. Eine Sekunde war Erich von Logow bei seinem Anblick nervös. Dann sagte er mit dienstlicher Ruhe: ». . . Abend, Krause! . . . Morgen ist Sonntag . . . Also nur nach dem Kirchgang Appell im Ausgehanzug. Dazu Herr Oberleutnant Kupper. Ich für meine Person möchte gern morgen etwas Ruhe. Ist die Schießkladde drinnen? Der Strafrapport für den Monat auch? . . . Schön! . . .«
Der Feldwebel machte linksum kehrt und verschwand schweren Schrittes im Dunkel der Nacht, die nun schon alles umhüllte. Nur vor dem Eingang der Villa zitterte das Licht einer Laterne. An der schritten sie beide vorbei und wieder zurück, ein-, zweimal. Er konnte sich nicht entschließen, mit ihr einzutreten. Er kämpfte mit sich. Plötzlich blieb er stehen und versetzte hastig: »Bevor du mein Haus betrittst, Maxe . . . und mir damit einen Vertrauensbeweis gibst, den ich eigentlich nicht um dich verdient hab' . . . Ich hab' nicht gedacht, daß du dich je so weit überwinden könntest, noch einmal zu uns zu kommen . . . Also vorher bin ich dir etwas schuldig: Ich bitte dich um Verzeihung . . . Wegen damals . . . Ich war wie verrückt . . . Ich versteh' es jetzt selbst nicht mehr . . .«
Er hielt inne und setzte dann stockend, aber entschlossen hinzu: »Jetzt hab' ich mich besser in der Gewalt! Man lernt manches! Das Leben macht einen mürbe! Ich gebe dir mein Wort: es kommt nicht wieder vor! . . . Mit keinem Blick und mit keinem Ton. Du kannst ruhig mein Gast sein. Verzeih mir!«
Maximiliane von Glümke erwiderte nichts. Sie ging einfach vor ihm ins Haus. Unter der Laterne sah sie auf der Türschwelle, daß er ganz rot geworden war. Da färbten sich plötzlich auch ihre Wangen. Sie blickten einander nicht mehr an. Stumm traten sie in den Flur und von da auf den Fußspitzen in das Krankenzimmer. Ulla lag noch immer apathisch, mit fieberheißem Kopf da. Ihre großen dunklen Augen waren offen. Sie ruhten mit einem schläfrigen, undurchdringlichen Glanz auf dem Paar am Bettende. Niemand konnte sagen, ob sie die beiden erkannte oder nicht. Es schien doch nicht der Fall. Sie seufzte plötzlich tief auf, wie von Schmerzen geplagt, und wurde unruhig. Die Wärterin huschte wie ein Schatten aus dem Dämmerlicht hinzu, und die zwei, Erich von Logow und Maximiliane, zogen sich geräuschlos zurück. Und selbst dies leise Zumachen der Tür, dies Flüstern beklemmte sie. Es war, als hätten sie etwas miteinander vor andern zu verbergen.
Stumm saßen sie mit Frau von Ottersleben beim Abendbrot. Draußen heulte der Sturm und goß der Regen. Man ahnte durch die Nacht die unwirtlichen Grenzgebirge ringsumher. Es war einem zumut wie am Ende der Welt. Erich von Logow hatte etwas Finsteres, Verächtliches in seinen Zügen. Er aß fast nichts, langte aber, gegen seine frühere Gewohnheit, ziemlich häufig nach der Flasche mit rotem Elsässer Wein. Er war froh, als seine Schwiegermutter gleich nach Tisch gute Nacht sagte. Maxe wollte ihr folgen. Er stellte sich neben sie und bat halblaut: »Bleib doch noch ein bißchen!«
Sie zögerte.
Er setzte hinzu: »Du bist doch gekommen, um uns zu helfen. Ulla kannst du's vorderhand nicht! Aber mir!«
Er trat mit ihr in sein Arbeitszimmer. Dort zündete er sich eine Zigarre an und stand düster da, ihren Blick vermeidend. Sie wollte dies gefährliche, so vielsagende, an so viel erinnernde Schweigen zwischen ihnen nicht aufkommen lassen. Sie griff nach dem Nächstliegenden und frug, auf die Grammatik auf dem Tische weisend: »Erich, warum lernst du denn um Gottes willen Spanisch? Lohnt sich denn das der Mühe?«
Er drehte ihr sein energisches, wettergebräuntes Antlitz zu.
»Für mich schon!«
»Willst du denn einmal nach Spanien fahren?«
»Weiter!«
Er ging durch das Zimmer, blieb vor ihr stehen und versetzte, plötzlich in einen raschen, gleichgültigen Gesprächston verfallend: »In Chile wird Spanisch gesprochen. Und es sind doch immer eine ganze Reihe von deutschen Offizieren in die chilenische Armee kommandiert. Diese Armee ist ganz nach unserem Muster gebildet. Ihr höchster General ist – das weißt du vielleicht – seit vielen Jahren ein preußischer Leutnant. Das ist also ein Land, wo man sich nützlich machen kann . . .«
»Und da . . .«
Sie vollendete die Frage nicht. Er beantwortete sie selbst.
»Ich weiß es noch nicht!« versetzte er. »Ich trag' mich nur mit dem Gedanken. Ich bereite mich wenigstens auf alle Fälle vor. Stände ich allein – ja, dann wüßt' ich wirklich nichts, was mich zurückhielte, auf Jahre hinaus das Meer zwischen mich und . . . und das alles hier zu legen. Das begreift wohl kein Mensch besser wie du, nicht wahr?«
Er nahm seine Wanderung durch das Zimmer wieder auf. Er sprach vor sich hin, wie in Gedanken mit sich selber kämpfend.
»Aber da ich doch einmal mit deiner Schwester Ulla verheiratet bin, ach Gott, Maxe . . . Ich weiß ja . . . Ich sollte über das alles nicht reden, am wenigsten zu dir . . . Und kann doch nicht anders und danke meinem Schöpfer, daß ich endlich einmal reden darf, statt mich immer nur einsam zu quälen . . . Denn wer versteht mich denn . . . Wer kennt mich denn . . . außer dir? . . . Nein . . . Bleib nur ruhig sitzen, Maxe! Du hast doch mein Wort! Du sollst nichts hören, was du nicht hören darfst . . .«
Er atmete auf und streifte seine Zigarrenasche ab.
»Darf ich übers Meer in fremde Dienste und meine Frau hier lassen? Das ist die Frage, über die ich schon seit einem halben Jahr nicht wegkomme! Mitnehmen kann ich sie nicht. Da schlepp' ich nur unser ewiges Elend von den Vogesen nach den Kordilleren, damit ist nichts geholfen. Da bleib' ich lieber gleich hier: und hier bleiben kann ich nicht . . . Die Aussicht, acht Jahre noch in diesem Nest zu hocken, allen Ehrgeiz zu begraben, den man noch vor kurzem und mit Recht gehabt hat . . . es ginge ja noch – es ließe sich ertragen, wenn man in seinen vier Wänden als Ersatz dafür das Glück fände! . . . Aber da fehlt es eben, und weil es fehlt, darum habe ich auch dienstlich den Erwartungen nicht entsprochen. Das hängt alles zusammen – eines bedingt das andere – und für mich gibt es nur eine Rettung, so wie ich hier gestrandet bin – heraus aus allem! . . . Aus allem . . . aus allem . . . Ich muß vergessen lernen, Maxe – das vergessen, wovon ich eben gesprochen habe, und noch mehr das, wovon ich dir nicht sprechen darf! . . . Und wenn man ins Weite will, hat man die Kette am Bein. Man kann nicht fort!«
Von drüben über dem Flur her hörte man das schwere Aufhusten der Kranken. Erich von Logow ging leise hinüber, öffnete den Türspalt und überzeugte sich durch einen Blick, daß alles beim Alten war. Dann kehrte er zurück und lachte bitter auf.
»Ja – du hast's gut, Maxe! Du sitzest da und legst die Hände in den Schoß und siehst mich seelenruhig an und hörst zu, was ich dir da vorheule! . . . Du warst tapfer und hast aus deinem Leben alles gemacht, was zu machen war. Aber unsereiner . . . Man sollte natürlich eigentlich die Zähne zusammenbeißen und das Maul halten und seinen Dienst tun und seine kranke Frau pflegen, die in gesunden Tagen viel, viel unausstehlicher ist wie jetzt, wo sie still daliegt . . . Aber manchmal drückt es einem die Seele ab . . . Da ist man Mitte der Dreißig, hat noch ein langes Leben vor sich . . . und in dem Leben nichts, nichts . . . Nichts von alledem hat sich erfüllt, was ich vor zwei, drei Jahren noch mir als absolut sicher gedacht hab'. Ich bin in der Ulla ihre Schönheit hineingeflattert wie die Motte ins Licht . . . und nicht nur aus Liebe – nein – auch aus Eitelkeit und Selbstgefälligkeit – ich dachte, für jemandem wie mich sei die Schönste im Lande gerade gut genug, um mit ihr Staat zu machen. Das muß ich nun büßen . . . Man versauert hier in dem Hundenest, man wird als Major abgehalftert, man trägt sein Hauskreuz bis an sein seliges Ende . . . Ach . . . es ist gräßlich . . .«
Er hielt inne, holte sich aus dem Nebenzimmer den roten Elsässer und trank wieder hastig ein Glas. Es war nicht der Wein, der ihm zu Kopf stieg. Die innere Erregung glänzte fiebrig aus seinen dunkeln Augen. Dabei waren seine Wangen blaß. Er schwieg. Maximiliane auch. Sie wußte nicht, was sie ihm hätte erwidern sollen. Sie konnte nur hier sitzen und seine Beichte mitanhören. Mehr wollte er auch nicht. Er hub wieder an.
»Ist das nicht schrecklich . . . Maxe . . . solch eine Ehe, wo beide Teile manchmal denken müssen, es wäre besser, einer von ihnen wäre nicht mehr? . . . Und der andere wäre frei . . .?« Er merkte eine erschrockene Bewegung der jungen Generalin. »Mißversteh mich nicht . . . Ich brauche ja nicht der zu sein, der frei wird . . . Ich könnte ja auch der sein, der frei macht . . . Mir wär's gleich . . . Mir liegt gar nichts am Leben . . . Wenn mich in Chile der Teufel holte, wär's mir auch recht! . . . Aber ist man nicht schon rein mit sich und allem zu Ende, wenn man überhaupt so etwas denken kann? Sage ehrlich . . .«
Maximiliane von Glümke schüttelte bang das blonde Haupt.
Er murmelte zwischen den Zähnen weiter: »Es ist doch solch ein Widersinn: zwei Menschen sind auf Lebenszeit zusammengekoppelt, machen sich bloß gegenseitig das Leben schwer, machen einander für das Leben untauglich und können nicht auseinander . . . Und ziehen immer weiter an dem verfluchten Karren . . . Immer weiter, bis er schließlich ganz im Dreck festsitzt . . . Entschuldige . . . Ich verbauere hier schon so sachte . . . Ich spreche ja eigentlich nur noch auf dem Exerzierplatz zu meinen Kerlen – sonst mit keiner Menschenseele . . . Ulla schweigt ja. Sie schweigt immer. Sie sitzt am Fenster und starrt in den Regen hinaus. Stundenlang. Es ist zum Haarausraufen.«
Nun entschloß sich Maximiliane zum erstenmal zu reden.
»Eines versteh' ich dabei aber nicht, Erich! Wenn eure Ehe so unglücklich ist, warum laßt ihr euch denn dann nicht lieber in Gottes Namen scheiden?«
Der Hauptmann von Logow zuckte die Achseln und lehnte sich aufseufzend an das Fenster. Vor dem war kein Laden. Man sah draußen die unbestimmten Umrisse der Nacht – die Ballen von Regenwolken am Himmel, die Schattenkronen kahler, vom Sturm schief gewehter Bäume. Weit und breit kein Lichtpunkt auf Erden, kein Stern da oben.
»Das ist nicht so leicht, Maxe!« versetzte er. »Im Gegenteil . . . das ist furchtbar schwer! Finde du einmal bei zwei Menschen, die an sich anständig sind, und anständig leben und eben nur das Unglück haben, daß sie absolut nicht zueinander passen – finde du da einmal einen genügenden Grund, daß ich vor Gericht gehen kann und sagen: so, jetzt will ich meine Freiheit wieder! . . . Solch einen Grund gibt mir Ulla nie und wird sie mir Gott sei Dank nie geben, und ich selber werde ebensowenig je der Schuldige sein!«
Die junge Generalin war erstaunt.
»Ich hab' aber doch immer gehört, daß zum Beispiel, wenn ein Teil aus dem Hause weggeht und der andere läßt sich das nicht gefallen und klagt, daß dann . . .«
»Ja. Dazu gehören eben zwei.«
»Ihr seid doch zwei! Und seid doch beide, wenn auch nicht in anderen Dingen, so doch darin einig, daß . . .«
»Nein. Das sind wir nicht!« Erich von Logow holte tief Atem und streckte die Arme aus, als wollte er eine unsichtbare Kette zerreißen. »Nein! Das ist eben das Letzte und Tollste: Ulla gibt mich niemals freiwillig los. Niemals! Sie will lieber unglücklich sein und mich unglücklich machen, als mich gar nicht haben!«
»Mein Gott . . . was sind das alles für Sachen!« sagte Maximiliane von Glümke bang und stand auf.
Er nickte. »Wie ich Ulla heiratete, Maxe – da war ich verliebt! Blindlings, wahnsinnig . . . und sie hat sich weiter nicht viel aus mir gemacht. Ich wußt' es auch! . . . Dann hat sich das Blatt gewendet. Ich bin allmählich erkaltet, an ihrer Gleichgültigkeit. Sie blieb, wie sie war. Sie war ja meiner sicher. Und dann eines Tages . . . da sah sie, daß sie im Begriff war, mich zu verlieren – nein – daß sie mich verloren hatte . . . auf immer! . . . Ich kann es nicht ändern. Und sie – sie kann es nicht fassen. Jetzt will sie das Versäumte nachholen. Seitdem kämpft sie um mich. Seitdem klammert sie sich an mich – verzehrt sich . . . nicht eigentlich in Liebe – wenn sie mich liebte, ließe sie mich frei – nein – in Eifersucht! . . . Sie will nicht hergeben, was ihr gehört . . . Sie pocht auf ihr gutes Recht. Innerlich gibt sie sich gar keine Mühe, mich zu gewinnen! Sie hat mich ja . . . auf Lebenszeit! . . . Das ist ihrer Selbstsucht genug . . . So . . . Maxe . . . da hast du die ganze Tragik meines Lebens . . .«
»Ich weiß ja: sie ist krank!« fing er nach einer langen Pause an, in der wieder der Husten von drüben durch die Stille der Nacht geklungen war. »Ich sag' es mir ja auch immer zum letzten Trost: es ist alles krankhaft, ihre Teilnahmlosigkeit – ihr Trübsinn – diese blinde Zähigkeit, mit der sie mein Leben aussaugt, aushöhlt, von innen heraus ganz zunichte macht. Sieh mal, Maxe: wenn einer aus Liebe alles opfert, und alles hinschmeißt, daß die Scherben fliegen, und sagt: ›Hol's der Deubel . . . Ich kann nicht anders!‹ – Na schön . . . das ist groß! . . . Das verstehe ich . . . Aber die Ulla und ich – wir gehen zugrunde ohne Liebe! Das ist's, worüber man verrückt werden könnte!«
»Und doch hätten wir all diese Kälte und Freudlosigkeit noch miteinander ertragen,« sagte er endlich, »wenn nicht von einer anderen Seite her die Liebe in unser Leben gekommen wäre, Maxe! . . . In mein Leben! . . . Sei unbesorgt . . . du hast mein Wort . . . Es gibt Dinge, die braucht man nicht auszusprechen . . . Aber das war der Stoß ins Herz für mich und unsere Ehe – die Strafe, weil ich blind gewesen war. Wir verbluten uns hier, in den Vogesen, fern von der Welt, still an einer, die nichts dafür kann – die das Glück hatte, stärker zu sein als wir – die über uns ihren Weg weitergegangen ist, zu Glanz und Ehren – der ich allen Segen und alles Gute für ihren Lebensweg vom Himmel wünsche – obwohl sie mein Schicksal war und weiß Gott kein gnädiges . . . Verzeih mir, Maxe . . . und hab' Dank, daß du mich das hast aussprechen lassen! . . . Du warst so oft in meinen Gedanken mein lebendes Gewissen . . . Nun hab' ich dir das endlich einmal sagen dürfen . . . So . . . nun ist's vorbei . . .«
Sie senkte den Kopf, damit er den feuchten Schimmer in ihren Augen nicht sähe. Sie wagte nicht zu sprechen. Er trat auf sie zu und gab ihr die Hand.
»Gute Nacht, Maxe!« sagte er leise. »Es ist bald Mitternacht. Du wirst schlafen wollen!«
Er sah sie nicht an. So zog er sich zurück. Sie hörte, wie er langsam hinüber in das Krankenzimmer ging. Dort schickte er die Wärterin zur Ruhe, rückte einen Stuhl an das Bett, setzte sich nieder und bewachte, das Kinn in die Hand und den Arm auf das Knie gestützt, still bis zum Morgengrauen den Fieberschlaf seiner Frau.
Frühmorgens kam der Stabsarzt. Er machte ein ernstes Gesicht. Die Krisis war da. Nun frug es sich, wieweit die Kräfte der Kranken standhielten. Den ganzen Vormittag herrschte im Hause die gedämpfte, gequälte Unruhe des Abwartens. Schleichende Schritte, flüsternde Worte. Draußen, auf der gepflasterten Landstraße, lag Stroh. Es wäre kaum nötig gewesen. Heute, am Sonntag, rührte sich nichts in dem stillen Vogesennest. Der Himmel war novembergrau, die Wolken hingen an den Bergflanken tief zu Tal, unten im Grunde brummte und summte vom Städtchen her eine Kirchenglocke durch den weißen Dunst . . . sie verstummte – wieder das Schweigen – ein Aufhusten aus dem Krankenzimmer – ein Windstoß, der vereinzelte Strohhalme von der Villa weg über die Felder trieb – unheimlich – gerade nach dem fern unter Zypressen dämmernden Kirchhof zu – dann wieder die Stimme des Doktors, der alle zwei, drei Stunden nachsah.
»Ich bleibe jetzt vorläufig hier! Herr von Logow – tun Sie mir den einzigen Gefallen und gehen Sie inzwischen wenigstens auf eine halbe Stunde an die frische Luft und erholen Sie sich – Sie halten mir das sonst nicht mehr aus – nach dem Dienst am Tag und der Nachtwache hinterher . . . Ich bitte gehorsamst: Helfen Sie mir, Exzellenz! . . . Oder noch besser . . . nehmen Sie ihn einfach mit! Exzellenz sind ja seine Vorgesetzte! Ihnen muß er gehorchen!«
Erich von Logow half seiner Schwägerin schweigend in die Jacke. Und warf sich den Mantel um die Schultern. Sie gingen aus dem Hause, über Wiesen, den Berg hinauf, durch Rebhalden. Keine Seele war weit und breit. Der Boden dampfte feucht. Der Nebel braute um das kahle Geäst der Nußbäume. Er bildete eine weiße, zähe zurückweichende Wand, in die man hineintauchte, die hinter einem zusammenschlug. Man konnte kaum auf zehn, zwanzig Schritte vor sich sehen.
»Wird es dir zu viel mit dem Steigen?« frug er. Sie verneinte stumm. Der Wald nahm sie auf. Sie wanderten den schmalen Pfad dahin: Aus dem Dämmern tauchten zwischen den kahlen Stämmen Trümmerwerk und Gemäuer auf. Eine der unzähligen Burgruinen des Elsaß. An einem klaren Tag hatte man hier wohl einen weiten Rundblick über die Tiefe. Jetzt war da nur ein grauer Schein. Der Hauptmann von Logow schaute, schwindelfrei, hart am Abgrund stehend, gleichgültig hinunter und sagte zwischen den Zähnen: »Bis morgen oder übermorgen weiß ich wenigstens, ob ich ein Witwer werden soll oder nicht . . .«
Ein Wort des Trostes lag ihr auf den Lippen. Aber dann fiel ihr etwas Schreckliches ein, wovon er gestern gesprochen, in der Stille der Nacht: Der Tod im Hintergrund . . . als Erlöser einer unglücklichen Ehe . . . Gewiß: Er hatte nicht seine Frau gemeint . . . sondern viel eher sich selbst . . . Aber trotzdem . . . es überlief sie kalt . . . bei dem Gedanken, was alles in einer Menschenbrust möglich war – was am Ende gar in ihr auch schlummerte und erwacht wäre, wenn es das Schicksal mit ihr nicht so gnädig gemeint hätte. Sie blickte zu Boden, auf den steinigen Steg, und schwieg. Er hatte die Mütze abgenommen und gab, während sie den Rückweg antraten, seinen dunklen, wettergebräunten Kopf dem Herbstwind preis. Nach einer Weile begann er: »Ich hab' dir alles erzählt, Maxe! Und du mir nichts!«
»Was willst du denn von mir wissen?«
»Ich bin ein recht unglücklicher Mensch geworden! . . . Ich möchte von dir hören, wie's dir geht.«
»Gut, Erich!«
»Bist du zufrieden?«
»Ja. Die Wünsche, die ich überhaupt noch ans Leben hatte, die haben sich erfüllt. Sogar hundertmal reichlicher und größer, als ich es erwarten durfte und als ich es verdiene.«
»Freilich . . . du bist Exzellenz . . .«
»Nicht nur dies Äußerliche, Erich! . . . Mehr: Ich liebe meinen Mann. Er ist es wert. Er trägt mich auf den Händen. Es ist um mich herum klar und heiter . . . Und ich selber bin's auch . . .«
Er senkte das Haupt und lächelte bitter. Und sprach kein Wort mehr.
Sie kämpfte mit sich und sagte: »Ich weiß wohl, was du dir jetzt denkst, Erich! . . . Aber es ist nicht richtig! Ich hab' dich nicht vergessen . . .«
Er schaute rasch auf und beinahe ängstlich in ihr schönes Gesicht, das seine Ruhe bewahrte.
»Vielleicht hab' ich die Pflicht, Erich, gegen dich auch ganz offen zu sein, und weiß, du wirst es nicht mißverstehen . . . Am Anfang meines Lebens hast du gestanden. Und wirst für mich in der Erinnerung immer da stehen und, im letzten Sinn, das Bestimmende, das Schicksal für mich gewesen sein. Aber dies Schicksal hat sich eben erfüllt, ohne meine Schuld und ohne mein Zutun. Es liegt hinter mir.«
Sie suchte, während sie durch das stille Nebelland weitergingen, nach den richtigen Worten und schloß: »Was es mich gekostet hat, das ist ein Ding für sich. Das gehört nur mir. Das ändert sich nicht mehr. Es ist mir ein Heiligtum der Vergangenheit. Es hat nichts mehr mit dir jetzt und mit der Gegenwart gemein. Es war mir die höchste Weihe des Lebens – es war mein Wunder – mein Erlebnis, das nie wiederkehrt. Ich bereue die Schmerzen nicht! . . . Durch die bin ich erst ganz Mensch geworden und reif für das, was ich jetzt bin. Aber ich brauche diese Schmerzen und diese Erinnerung mit niemandem zu teilen – am wenigsten gerade mit dir! . . . So – und nun wollen wir's für immer begraben sein lassen, Erich . . .«
Als sie beide wieder im Abendgrauen die Villa erreichten, empfing sie der Stabsarzt. Gottlob, es ging besser. Die Hoffnung stieg. Die Patientin war bei Besinnung. Sie hatte schon nach den Ihren verlangt.
»Schauen Exzellenz doch einmal zu ihr hinein,« flüsterte er. »Aber nicht viel sprechen! . . . Nur einen Augenblick! Nicht wahr?«
Maximiliane von Glümke trat geräuschlos in das verdunkelte Krankenzimmer. Im Schein des Lämpchens sah sie die blassen Züge ihrer Schwester. Die großen dunklen Augen sahen sie erstaunt und ungläubig an. Dann hörte sie Ullas traumbefangene Stimme: »Bist du das, Maxe?«
»Ja, Ulli!«
»Du bist hier?«
»Seit gestern schon!«
»Warum bist du hier?«
»Um ein bißchen zu helfen. Wir wollen dich doch recht bald wieder gesund pflegen!«
Ein Schatten von Unruhe und Angst glitt über das Antlitz der Leidenden. Ihre Pupillen belebten sich in einem feindseligen Glanz.
»Erich pflegt mich! . . . Erich ist gut zu mir! . . . Du brauchst mich nicht zu pflegen!«
Sie flüsterte es mit Anstrengung und versuchte sich aufzurichten: »Du brauchst hier nicht zu sein, Maxe . . . Ich will nicht, daß du hier im Haus bist! . . . Geh . . .«
Ein Hustenanfall schüttelte sie. Sie sank erschöpft, von der herbeigeeilten Pflegerin unterstützt, in die Kissen zurück. Von der Tür her mahnte der eingetretene Arzt: »Nur ja keine Aufregung für die Patientin! . . . Kommen Sie rasch, Exzellenz . . . Kommen Sie! . . . Das hab' ich natürlich nicht gewußt, daß Ihr Anblick solch eine Wirkung haben würde!«
Am anderen Morgen packte Maximiliane von Glümke ihren Koffer.
»Das einzig Richtige ist, ich fahre mit dem nächsten Zug!« sagte sie zu ihrer Mutter. »Ulla fragt ja fortwährend, ob ich noch da sei . . . Und es geht ihr ja auch viel besser!«
»Außer Gefahr ist sie immer noch nicht ganz!«
»Eben darum muß alles weg, was ihren Zustand wieder verschlimmern könnte. Also auch ich!«
Frau von Ottersleben rang die Hände.
»Ja, was hat sie denn nur gegen dich um Himmels willen?«
»Laß das nur gut sein, Mama!« Die junge Generalin schloß ihr kostbares Nezessaire aus Krokodilleder. »Sie ist krank! Weiter nichts!«
Ein paar Stunden darauf reiste sie ab. Erich von Logow brachte sie an die Bahn. Er half ihr in das Abteil erster Klasse und schaute, untenstehend, mit einem schwermütig sehnsüchtigen Lächeln, das plötzlich sein düsteres Antlitz erhellte, zu ihr empor, während sie sich aus dem Fenster herauslehnte und der Zug sich langsam in Bewegung setzte.
»Ach ja . . . du mein altes blondes Mädel . . .« sagte er. »Du lieber Kamerad von einst . . . Weißt du noch? In Berlin? . . . Jetzt bist du Exzellenz und eine große Dame! Fahr nur wieder heim in deine Herrlichkeit! Denk nicht mehr an uns hier in dem Nebelloch. Es ist das beste!«
Die Wagen rollten rascher dahin. Maximiliane von Glümke sah zurück. Dort hinten auf dem Bahnsteig war noch ihres Schwagers Gestalt, im roten Mützenrand und hellgrauen Mantel. Er stand und blickte ihr nach und wurde immer kleiner und undeutlicher in der trüben Luft und verschwand.