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Der Leutnant Otto von Ottersleben benutzte den Sonntagvormittag zu einem Spazierritt in den Tiergarten. Er trabte schweigend zwischen seinen Freunden, dem in seiner blauen Attila weithin leuchtenden Leutnant von Wrobel und dem Baron Lohgrewe. Hinter ihren Hufen klatschten die Kotbrocken auf den morastigen Weg. Die Sonne schien schon warm. Es war Anfang April. Sie kamen am Zoologischen Garten vorbei zum Hippodrom, galoppierten über die Hindernisse und zurück zum Wasserturm, alles in stummem Ernst. Dann verfielen sie in Schritt. Der Baron warf seiner Stute die Zügel über den Hals und wollte sich oben im Sattel eine Zigarre anzünden. Da fuhren die beiden Offiziere und er mit zusammen wie beim unvermuteten Anblick eines Vorgesetzten. Und doch war weit und breit auf der Tiergartenstraße keine Uniform zu sehen. Nur eine Familie kam ihnen da entgegen, Vater, Mutter und Tochter, die beiden Damen mit schwarzen kleinen Gesangbüchern in den Händen, auf dem Rückweg vom Gottesdienst im Dom nach ihrer Villa am Kurfürstendamm. Kirchlichkeit war vornehm in Berlin, hieß Respektabilität, und Herr Bannersen, der ein Vierteljahrhundert sich über See der Baumwollbranche gewidmet hatte, und Frau Bannersen, Deutsch-Amerikanerin von Herkunft, waren kirchlich. Ihre Tochter war ein niedliches, kaum mittelgroßes, dunkelblondes Persönchen. Sie zeigte freundlich lächelnd den drei Reitern die weißen Zähne, und ihr Vater, ein stämmiger, bebrillter Herr, rief wohlwollend dem viel bei ihm verkehrenden Kleeblatt in seinem hanseatischen Tonfall nach: »Nun – ein S–pazierritt, meine Herren? Viel Vergnügen!«
Ja. Das war nun Bannersen. John Bannersen. Der Millionen-Bannersen. Der Mann mit der einzigen Tochter. Die drei jungen Leute ritten so tiefsinnig weiter, als hätten sie das Welträtsel zu lösen. Sie sprachen nicht. Sie waren jetzt wie drei Füchse, die gemeinsam jagten, aber sich dabei nicht über den Weg trauten. Besonders Otto von Ottersleben waren die beiden anderen ein Dorn im Auge. Der kleine Wrobel bestach von vornherein im Bannersenschen Hause durch seine Husarenpracht. Lohgrewe hatte sich dort noch kürzlich im roten Frack und der schwarzen Samtkappe auf dem Weg zur Parforcejagd in Döberitz gezeigt. Er, der Feldartillerist, konnte dagegen nur seine schlichte dunkle Linienuniform ins Treffen führen. Und das Schlimmste: die Familientrauer, in der er sich befand, hinderte ihn, sich in Gesellschaft zu zeigen. So kam er kaum mehr zu den Bannersens, die ein großes Haus machten und, wenn sie fünfzehn Leute zum Diner bei sich sahen, sicher hinterher noch fünfzig zum Tanz eingeladen hatten. Höchstens am Jour, des Nachmittags, trank er da eine Tasse Tee, eingekeilt zwischen alten Damen. Und dabei rückte die Zeit mit Riesenschritten vor. Im Lauf des Mai verließen die Bannersens für den ganzen Sommer Berlin. Dann hieß es alle Hoffnungen bis auf den Herbst vertagen, wenn es bis dahin nicht schon zu spät war . . .
Da, wo der Reitweg am Platz vor dem Brandenburger Tor endete, standen harrend die Burschen mit den Decken für die Pferde und den Mänteln für ihre Herren. Der Baron prüfte, nachdem er abgestiegen, die Beine der Gäule, für die er im Tattersal die Pension zahlte, ohne daß man eigentlich wußte, ob sie ihm oder wem sonst gehörten. Unterdessen stand Otto von Ottersleben mit dem Husaren seitwärts und frug gedämpft: »Sagen Sie mal, Wrobel . . . glauben Sie, daß Lohgrewe schon einmal energisch vorgegangen ist – da drüben . . .?«
Er winkte dabei mit dem hübschen dunklen Kopf nach Südwesten, nach der Richtung, wo fern die Bannersensche Villa lag.
Der andere war ein bißchen erstaunt, daß man dies zarte Thema überhaupt zwischen ihnen berührte. Er erwiderte diplomatisch: »Keine Ahnung! . . . Gott . . . der hat Zeit . . . der ist frei . . . der kann im Sommer überall hin, wo die sind, aber unsereiner mit dem ollen Dienst . . . na . . . morgen!«
Er schritt sporenklirrend davon. Der Leutnant und der Baron entfernten sich nach der anderen Seite. Herr von Lohgrewe war mit allen Hunden gehetzt. Er hatte immer die Hand in Roßhändeln und auf Rennpferden auf Halbpart. Man konnte durch ihn sich an englischen und französischen Turfwetten beteiligen und bei Gelegenheit neue Automobile mit Preisnachlaß direkt von der Fabrik beziehen. Er vermittelte, rein aus Gefälligkeit, den Abschuß von Sechserböcken auf schlesischen Gütern und die Aufnahme in Berliner Klubs. Eigentlich ein langweiliger Mensch, mit einem länglichen, nüchternen Gesicht. Sie sprachen über einen irischen Hunter, den er zu verkaufen hatte. Als sie sich trennten, meinte er: »Nee – nee – der kleine Wrobel wird schon mit dem Schinder fertig! Springen tut das Aas ja tadellos! Ich denke, er nimmt ihn! Er braucht ihn doch in Hannover!«
»In Hannover?«
»Er ist doch zur Reitschule kommandiert! Mitten im Kursus. Zum Ersatz. Es sind ein paar dankend zurückgeschickt worden! – Doppelter Turkel, was?«
»Doppelt? Wieso?«
»Na – von Hannover bis Bremen ist doch nur ein Katzensprung, und den ganzen Sommer über ist doch der alte Bannersen in Bremen. Oder wenigstens in der Nähe. Auf seiner Besitzung!«
»Ach so!«
Der Leutnant von Ottersleben betrat in sehr gedrückter Stimmung sein möbliertes Zimmer in Charlottenburg. Er war nervös geworden. Die beiden Kerle gewannen entschieden einen Vorsprung vor ihm. Er endete schließlich noch im geschlagenen Felde. Er stand am Fenster und nagte unschlüssig an der Unterlippe. Schließlich: mehr wie abblitzen konnte man nicht! Einmal mußte man das Risiko laufen, und wenn die anderen ihm nicht gute Chancen zutrauten, wären sie doch schon längst selber zum Angriff vorgegangen! Eine fiebernde Angst ergriff ihn, hinterher der Dumme gewesen zu sein – als Gast an der Hochzeitstafel zu sitzen, statt als Bräutigam! Es wurde ihm plötzlich rücksichtslos durchgängerisch zumute. Er hatte das Gefühl: Jetzt oder nie! Er sah auf die Uhr. Es war eins. Die richtige Besuchsstunde. Er nahm blindlings den Helm und eilte den kurzen Weg hinüber nach dem Kurfürstendamm. Er wollte wenigstens dort einmal den Kopf hineinstecken. Dann konnte man ja sehen, was einem der Augenblick eingab.
Aber die Familie Bannersen war gerade bei Tisch. Der Lakai lispelte es diskret. Natürlich . . . in Berlin war man immer bei Tisch, von halb eins bis halb sieben – die eine Hälfte der Leute aß, die andere war unterwegs, um sie darin zu stören. Der Artillerist war schon im Vorgarten, da hörte er hinter sich Schritte, der Diener holte ihn atemlos ein. Die Herrschaften ließen doch bitten!
Und Frau Bannersen streckte ihm bei seinem Eintritt in das reiche Speisezimmer, in dem sonst nur noch ihr Mann und ihre Tochter waren, verbindlich die Hand zum Kuß entgegen.
»Man sieht Sie jetzt in Ihrer Trauer so selten, lieber Herr von Ottersleben . . . Man muß die Gelegenheit wahrnehmen! Haben Sie schon gefrühstückt? Nein! Nun – das trifft sich ja gut!«
So liebenswürdig war sie noch nie gewesen. Auch ihr Mann schob freigebig dem Gast die Kiebitzeier über den Tisch zu und goß ihm Sherry ein.
»Wir haben uns ja heute schon im Tiergarten gesehen!« meinte er dabei wohlwollend. »Sie s–teigen wohl leidenschaftlich zu Pferde, Herr Leutnant!«
»Ja. Die Ottersleben standen früher immer bei der Kavallerie. Meist bei den Kürassieren, bis wir in der Franzosenzeit unsere Güter verloren. Hätten wir die noch, so könnte ich jetzt noch jeden Augenblick übertreten. Man nähme mich gleich . . .«
»Oh!« sagte Fräulein Bannersen mit sichtlichem Interesse.
Er betonte: »Meine Mutter stammt doch auch aus der Kavallerie. Mein Onkel Koninck ist Husar.«
»Wohl auch eine sehr alte Familie?« erkundigte sich Frau Bannersen.
»Rheinisch-niederländischer Uradel, gnädige Frau! Schon auf dem Turnier zu Mainz unter Barbarossa!«
Es war ein Augenblick Schweigen bei diesem Blitzlicht in die Jahrhunderte zurück. Otto von Ottersleben hatte das sonderbare Gefühl, als sei er hier erwartet worden. In ihm wuchs der Wagemut. Sein Puls schlug unruhig. Er nahm seinen Vorteil wahr. Er lief Sturm mit dem Gothaer Almanach.
»Wir Ottersleben waren natürlich auch vor den Hohenzollern in der Mark,« sagte er in einem Ton, als sei bei jedem besseren Menschen dieser Vorzug selbstverständlich. »Nun sind wir ja klein geworden. Das heißt: an Zahl nicht! Wir sind augenblicklich einundzwanzig in der Armee!«
»Und die kennen sich alle untereinander?«
»Wir haben jedes Jahr hier in Berlin Familientag, gnädiges Fräulein, da kommen immer eine Masse. Die Damen benutzen die Gelegenheit und lassen sich bei Hofe vorstellen.«
»Darf denn jede Ottersleben zum Kaiser?«
»Jede.«
In dem niedlichen Puppengesicht des jungen Mädchens vor ihm belebten sich die Augen eine Sekunde in träumerischem Glanz. Während man nach Tisch im Palmengarten Kaffee trank, tauschten sie und die Mutter einen Blick. Der Vater unterdrückte ein Gähnen. Er war ein kurzes Mittagschläfchen gewöhnt. Er zog sich geräuschlos zurück. Und der sonderbare Zufall wollte es: Frau Bannersen mußte draußen einen Besuch empfangen. Nur auf einen Sprung. Dieser Gast war gar nicht vorhanden. Statt dessen trat sie zu ihrem Gatten in das Rauchkabinett. Sie brauchte ihn nicht zu wecken. Er fand heute, trotz seines Phlegmas, keinen Schlummer, sondern ging, mit den Händen in den Hosentaschen, im Zimmer herum.
»Sie sind allein drüben im Wintergarten!« sagte sie aufgeregt. John Bannersen nickte nur. Und vertiefte sich in die wählerische Untersuchung einer Havannaliste. Sie schwiegen beide. Was sollte man sich noch viel erzählen? Die Sache war in der Familie ja schon lange spruchreif. Wohl eine Viertelstunde saßen sie stumm beisammen. Dann hörte man drüben vom anderen Ende der Zimmerflucht Stimmen. Rasch sich nähernde Mädchenschritte. Die Portiere flog zurück.
»Papa . . . Mama . . . bitte, seid mir nicht böse: ich hab' mich eben verlobt! Da ist Otto!«
Die Mutter schloß die Kleine weinend in die Arme. Der Alte erhob sich, legte seine Upmann weg und dachte sich philosophisch: Nun soll ich auch noch so tun, als ob ich mich wunderte! Vor ihm stand der Leutnant von Ottersleben, hochrot im Gesicht, ganz verwirrt, und stammelte: »Verlobt darf ich es wohl noch nicht nennen . . . Ich möchte nur ganz gehorsamst um die Hand Ihres Fräulein Tochter . . .«
»Kommen Sie mal bitte da herein, Herr von Ottersleben!« sagte John Bannersen mit geschäftlicher Gelassenheit und führte ihn in ein Seitenkabinett. Sie blieben darin eine geraume Zeit, in einem Gespräch unter Männern. Als sie wieder herauskamen und der junge Ottersleben stürmisch in die Arme seiner Braut flog, sagte sein künftiger Schwiegervater gedämpft und mit hochgezogenen Brauen zu seiner Frau: »Ein merkwürdiger junger Mensch! Er hat keine Schulden! Er hat mir sein Ehrenwort darauf gegeben.«
»Das ist ja reizend, Johny!«
Aber der alte Bannersen war klüger als seine Frau. Er schüttelte bedächtig das graue Kaufmannshaupt und meinte: »Ein Leutnant ohne Schulden! . . . Der wird mich ein schönes S–tück Geld kosten!«
Es war schon gegen acht Uhr abends, als Otto von Ottersleben das Haus seiner Braut verließ. Er hatte den ganzen Tag dort zugebracht. Man hatte alles besprochen: die Verlobung sollte jetzt gleich bekannt gegeben, die Hochzeit nach dem Manöver gefeiert werden. Er lief wie berauscht durch die dämmernden, frühlingswarmen Straßen dahin, er glaubte noch kaum an sein Glück. Er hätte jeden Vorübergehenden umarmen mögen. Er mußte unter Menschen. Zu seinen Nächsten. Er rannte durch den Tiergarten in das Hansaviertel, zu den Schwestern und dem Schwager.
Die saßen gerade beim Abendbrot. Ulla in der Mitte, in einem Lehnstuhl, ein Kissen hinter sich, noch schwach von der überstandenen Krankheit, aber mit einem sanften und freundlichen Ausdruck auf den klassischen Zügen. Neben ihr Maxes lachende, blauäugige Jugend. Und zwischen dem blonden und dem schwarzen Kopf der Schwestern Erich von Logows streng geschnittenes, aber jetzt auch lächelndes Profil mit dem kurzen dunklen Schnurrbart. Die Lampe goß von oben ihr gedämpftes Licht über die gemütliche kleine Tafelrunde.
»Hurra, Kinder . . . ich hab' mich verlobt!«
Es platzte wie eine Bombe in diesen Frieden von Tee und kaltem Aufschnitt. Es war ein Aufspringen, ein Gedränge, ein Gefrage. Der junge Leutnant schüttelte Hände, lachte, sah triumphierend um sich, setzte sich, aß, trank, erzählte in einem Atem, sich an seinen eigenen Worten begeisternd.
»Na – wie steh' ich jetzt da? Großartige Geschichte – nicht? . . . Also . . . wißt ihr . . . die Adda ist überhaupt süß! Das wird 'ne famose kleine Frau! Sie läßt euch grüßen. Sie läßt dir, Ulla, und der Maxe sagen, sie hätt' euch jetzt schon so lieb. Na – wenn ihr sie nun erst kennen lernt . . . Mir ist ganz schwindlig zumut! Das ging heut wie Ziethen aus dem Busch! Drauf und hat ihm schon!«
»Ja – wie ist denn das so rasch gekommen?«
Der Leutnant lächelte geringschätzig.
»Na also . . . Die Adda und ich . . . wir lieben uns . . . Wir lieben uns also einfach . . . das ist die ganze Chose . . . das heißt: wir lieben uns kolossal . . . eigentlich ist's natürlich von Haus aus 'ne reine Herzenssache! Maxe, sei so gut und lach nicht so dumm . . . Hast du dich schon mal verlobt? Nee – also! Da sei du mal still! . . . Gib mir lieber den Schinken . . . Ich hab' seit heute früh nichts mehr gegessen vor Aufregung . . . Danke . . . Ja, die Adda mag mich, und das Schwiegermamachen leckt sich alle zehn Finger nach mir . . . Und mit dem beau-père läßt sich's brillant reden! . . . Der alte Herr hat so vernünftige Vorstellungen vom Leben! Wißt ihr – was er uns für den Anfang gibt? – Na – ihr erratet's ja doch nicht – dreißig Mille . . . Da möcht' man vom Stuhl fallen . . . nicht?«
»Ach, du lieber Gott! Nicht mehr?«
»Was?«
»Da kannst du ja noch gar nicht heiraten! Das ist ja noch nicht die Hälfte vom Kommißvermögen!«
Otto von Ottersleben legte seiner Schwester beinahe feierlich die Hand auf den blonden Scheitel.
»Gott erhalte dir deine Einfachheit, Maxe!« sprach er. »Wie kann man nur so hübsch sein wie du und dabei so dumm! Die Dreißigtausend sind doch die Zulage jährlich . . . die Zu-la-ge! Der alte Bannersen ist ein merkwürdiger Mensch! Mir gefällt er! Und die Adda ist ein süßes Deubelchen! Du bist feierlich zu uns eingeladen, Maxe, wenn wir mal verheiratet sind! Du wirst dich wundern, mein Kind!«
Seine schlanke blonde Schwester lachte, und goß den deutschen Sekt in die Gläser. Sie hatte ihn selbst aus dem Keller geholt. Sie war ein wenig atemlos, ihre Wangen rot vom Treppenlaufen. Die Hängelampe vergoldete ihr blondes Haar, während sie dastand und behutsam, mit ernsthaft zusammengepreßten Lippen den weißen Schaum in die Kelche fließen ließ. Ihr Bruder Otto fand sie in seiner rosigen Stimmung in diesem Augenblick wirklich reizend. Ihm schien, die anderen auch. Er fiel ihr um den Hals und gab ihr einen stürmischen Kuß.
»Na – du alter Pascha!« meinte er, nachdem man angestoßen und sich wieder gesetzt hatte, vergnüglich zu seinem Schwager. »Wie fühlst du dich denn so zwischen den beiden Schönheiten? Das ist doch was anderes, als so 'n flatteriger Junggeselle sein! Zu nett ist's hier! Es hat mir hier noch nie so gefallen wie heute.«
Wieder ließ er den Blick durch die Räume schweifen. Eigentlich hatte sich nichts verändert, und doch war alles anheimelnder geworden. Frühlingsblüten und Palmkätzchen standen umher, Blumentöpfe am Fenster. Den Tisch deckte ein gestickter Läufer. Kleine, mattgelbe Seidenhüllen milderten das grelle elektrische Licht. Es gab nette Zutaten zum Essen. Drollige Kissen waren bequem für Ulla auf dem Diwan aufgestapelt. Nebenan, im Rauchzimmer, waren die Möbel ein wenig gerückt, so daß der Stuhl für den Hausherrn bequemer stand. Die Abendzeitung lag davor. Auf dem Tischchen brannte die Kerze zum Anzünden der Verdauungszigarre. Es war überall mollig. Der Leutnant von Ottersleben nickte befriedigt seiner älteren Schwester zu.
»Na – Ullimaus – wie geht's? Drei Wochen war der Frosch sehr krank – jetzt lacht er wieder, Gott sei Dank! . . . Fabelhaft hast du dich 'rausgemausert, seit ich das letztemal hier war.«
»Sie pflegen mich ja auch so gut!« sagte die blasse junge Frau. Ein freundlicher Blick streifte dabei ihren Mann. Der erwiderte ihn. Sie lächelten sich in stillem Einverständnis zu. Der Leutnant traute seinen Augen nicht.
»Kinder – das ist ja zu nett, wie ihr euch da so anplinkert . . . ich will meine Frau auch immer riesig gern haben! . . . Kann sie verlangen! . . . Na . . . Prost, ihr lieben Leute! . . . Und auf deinen unbekannten Zukünftigen auch, Maxe! . . . Weißt du übrigens, Erich, daß du auch viel besser aussiehst, gegen früher? . . . So noch vor vier Wochen konnte man wirklich in Angst um deine Gesundheit sein. Nun ist wohl die tollste Arbeit im Generalstab vorüber?«
»Ach wo – rasend hat er zu tun!« rief Maxe eifrig über den Tisch.
»Bei den Eisenbahnleuten stoppt's jetzt vielleicht!« sagte Logow. »In meiner Abteilung ist die Tretmühle immer gleich. Aber die Nerven gewöhnen sich allmählich daran. Besonders, wenn man sonst seine Ruhe hat . . .«
Maxe kam eben geschäftig aus dem Nebenzimmer.
»Du, Erich: ich hab' deine Schreibereien doch lieber in die Schublade getan. Eure Minna versteht zwar nicht Russisch, aber immerhin . . . Vorhin hat auch eine Ordonnanz etwas gebracht. Es liegt unter deinem Briefbeschwerer rechts. Ich hab' hineingeschaut. Es ist wegen der Generalstabsreise . . .«
»Danke schön!« sagte Erich von Logow in einem Ton, der verriet, daß er an diese kleinen Hilfeleistungen schon gewöhnt war.
Als er wieder allein mit seinem Schwager bei der Zigarre zusammen saß, meinte der erstaunt: »Also dafür interessiert sich die Maxe bei euch auch? Komisch: zu Hause hat sie doch nie viel getan!«
»Hier macht sie einfach alles!« sagte Erich von Logow, »sie ist unermüdlich! Ich weiß nicht, wie ich ihr danken soll für das, was sie in diesen Wochen geleistet hat. Sie war uns wirklich ein treuer Kamerad in der schweren Zeit . . .«
Sein Schwager bejahte.
»Ich will dir's ehrlich gestehen: früher war's bei euch ungemütlich. So etwas Kaltes. Woran es lag, weiß der Kuckuck. Aber man fühlte so: es hatte niemand so rechte Freude daran . . .« er erhob sich und rief ins Nebenzimmer: »Du, Maxe . . . klingen dir nicht die Ohren? . . . hier wird eben auf dich geschimpft . . . nach Noten . . .«
»Stör' mich jetzt nicht . . .« Maximilianes helle Stimme antwortete es von drinnen. »Ich muß Ulla ihre Tropfen geben!«
Sie beugte sich über die andere und flößte ihr vorsichtig mit einem Teelöffel die Arznei ein, nicht wie eine wirkliche, sondern wie eine barmherzige Schwester. Von nebenan sah ihr Erich von Logow zu. Dann wandte er sich zu seinem Schwager.
»Das Pflichtbewußtsein hätt' ich der Maxe allenfalls zugetraut. Aber daß man dabei merkt: sie tut's freiwillig! . . . gern! . . . Nie sieht man bei ihr eine saure Miene – auch wenn Ulla einmal unausstehlich ist – was übrigens bei ihr kaum mehr vorkommt! . . . Die Maxe ist wirklich ein ganzer Kerl! Wer die mal kriegt, kann sich gratulieren!«
»Aber Zeit wär's nachgerade!« meinte der Leutnant nachdenklich und rüstete sich zum Gehen. »Wißt ihr eigentlich, warum sie ums Totschlagen nicht heiratet?«
»Nein. Von sich spricht sie nie. Sie ist darin merkwürdig verschlossen, trotz ihrer Heiterkeit. Na, gute Nacht, Otto!«
»Gute Nacht! . . . Ja . . . mein alter Erich, nun tret' ich in deine Fußtapfen . . .«, Otto von Ottersleben küßte galant Ulla die Hand, ». . . und hoffentlich mit demselben Glück! Und dich, Maxe, bringen wir jetzt auch unter die Haube! Wart nur, Schwesterchen! Ist ja schade um dich! Adieu!«
Sein Schwager geleitete ihn selbst hinunter, um ihm die Haustür aufzuschließen. Als er zurückkam, fand er Ulla allein im Zimmer. Maximiliane war drüben beschäftigt, den Tisch abzudecken und das Geschirr fortzustellen. Denn das Mädchen hatte heute, am Sonntag, Ausgang, und der Bursche zerschlug ihr zu viel. Erich von Logow schaute sich behaglich in seinen vier Wänden um. Die paar Gläser Sekt hatten ihn, der oft die ganze Zeit hindurch keinen Alkohol trank, angenehm angeregt. Er war gesprächiger als sonst. Er ging, die Zigarre in der Hand, auf und ab und plauderte mit seiner Frau. Zuerst natürlich von der Verlobung. Im Grunde seines Herzens billigte er ja diese für einen Offizier zu reiche Partie nicht, aber schließlich: der Otto war großjährig. Der mußte selber wissen, was er tat.
»Jedenfalls hat's mich gefreut, daß er heut hier alles so nett gefunden hat!« meinte er. »Gut, wenn man's auch mal aus anderem Munde hört! Ich hab' mir schon manchmal gedacht, es ist bei mir bloß Einbildung, wenn ich mich jetzt daheim so pudelwohl fühle, bei euch . . . die ganze verfluchte Mietwohnung hat ein anderes Ansehen! . . . Und wenn's zehnmal alles nur Kleinigkeiten sind – Herrgott . . . aus denen setzt sich das Leben zusammen. Die großen Tage sind rar!«
»Ja! die Maxe versteht's . . .« sagte Ulla. Sie blickte mit einem eigenen, träumerischen, aber ganz freundlichen Lächeln in das verschleierte Lampenlicht, in dessen Dämmerung ihr schöner Kopf matt wie Marmor schimmerte. Er beugte sich zu ihr nieder und gab ihr einen Kuß.
»Du verstehst's auch, Schatz!« versetzte er.
»Ich? . . . Was kann denn ich tun? . . . Ich bin ja krank . . . Ich sitz' nur da und lege die Hände in den Schoß . . .«
»Aber innerlich hast du dich ganz umgekrempelt!«
Er blickte ihr ermutigend in die schwermütigen Augen. »Fühlst du das nicht selber, wie dich die Maxe mit ihrem Gewirtschafte und Gesinge und ihrem Frohsinn allmählich angesteckt hat? Komisch, wie so was unbewußt in einem vor sich geht! . . . Du bist ja wie ausgetauscht, Herz!«
»Merkst du das wirklich?«
Sie sprach das leise und hob langsam die dunkeln Wimpern zu ihm empor. Er ließ seine Rechte auf ihrer Schulter ruhen. Er bejahte eifrig und freundlich
»Na – du lachst doch seitdem wieder! . . . Du schaust einen mal lieb an! Du hast ein gutes Wort für mich . . . Kind . . . Dafür ist man doch so dankbar . . . das vermißt man doch so . . . Was hat man denn sonst vom Leben, außer der ewigen Schinderei im Dienst? . . . Ich seh's doch sogar daran, wie du dir die Frisur machst . . . und wie du dich anziehst, daß du wieder ein bißchen Freude an dir hast und mir durch dich Freude machen willst! In Worte läßt sich das nicht so fassen . . . es ist so etwas Unbestimmtes . . . So wie es eben sein soll und leider Gottes zwischen uns nicht mehr war.«
Er setzte sich neben sie und faßte ihre Hände.
»Große Worte wie eben kann man ja nicht immer machen! . . . Aber die hundert alltäglichen kleinen Geschichten, die reden auch ihre Sprache. Die sind wie ein Gleichnis dafür, daß man sich gern hat. Glaub mir: man ist dafür empfänglich, auch wenn man es nicht sagt, es kaum zu bemerken scheint!«
»Ach – du bemerkst es wohl. Alles, was sich die Maxe so ausdenkt! . . . Sie ist ja auch kolossal erfinderisch darin, es dir bequem zu machen . . .«
Die junge Frau lächelte müde. Er sah sie befremdet, etwas ernüchtert und aus seiner gehobenen Stimmung gerissen, an und sagte dann nachdrücklich: »Ich rede jetzt gar nicht von mir! Bei dir bemerke ich die segensreiche Veränderung! . . . Die kann ich nicht mir zuschreiben, sondern deiner Schwester. Wir alten Eheleute können wirklich von ihr lernen, wie man das Leben von der rechten Seite nimmt! Sie gibt uns das gute Beispiel, weil sie den guten Willen hat! Darauf kommt schließlich alles an, Ulla!«
»Ja. Lob sie nur . . .«
»Aber Ulla – was ist denn das für eine Empfindlichkeit?«
»Sie ist eben gesund, und ich bin krank!«
»Und ich danke meinem Schöpfer, daß ich sie, wie du krank warst, gebeten hab', zu kommen und dich wieder gesund zu machen. Sie wird auch einmal wieder gehen. Aber wir wollen für uns die Lehren aus der Zeit ziehen, liebste Ulla . . .«
Sie erwiderte nichts, sondern blickte still und leer, mit einem Anflug ihrer früheren Teilnahmlosigkeit vor sich hin. Er erhob sich achselzuckend und nahm seine Wanderung durch das Zimmer wieder auf. In der Ferne hörte man durch die geschlossenen Türen Tellergeklapper und Maxes leichte, geschäftige Schritte im Flur. Ihre Schwester wandte einen Moment aufhorchend, unruhig den Kopf und ließ ihn dann müde wieder sinken.
»Lehren aus der Zeit?« wiederholte sie, halb geistesabwesend. »Wie soll ich denn das machen?«
Er unterdrückte eine Ungeduld, daß er gerade jetzt, in dieser seltenen Feiertagstunde zwischen ihnen, wieder an ihrem Ohr vorbeisprach. Sie verstand auch nie, den rechten Augenblick bei ihm wahrzunehmen. Er trat näher zu ihr heran.
»Einfach dir sagen: was die Maxe gekonnt hat . . .«
»Du machst mich schon ganz nervös mit der ewigen Maxe . . .«
»Bitte, laß mich ausreden: was die Maxe gekonnt hat, das kann ich auch! In Zukunft hier im Hause frisch und frei und fröhlich sein, dich auch ein bißchen um meinen Beruf kümmern – meine dienstlichen Interessen teilen, wie es die Maxe tut – ein gemeinsames Leben mit mir führen!«
»Das Leben ist so schwer!«
»Aber wir haben uns nun einmal gelobt, es Hand in Hand zu gehen! Schau, Ulla: du hast in diesen letzten Wochen so einen guten Anfang gemacht, zum erstenmal in unserer Ehe – ich hab' wohl gefühlt, wie du dich manchmal, trotz deiner Schwäche, zusammengenommen hast . . . Ich bitte dich, bleib so . . . bleib auf dem Weg, auf den dich schließlich eben doch die Maxe gebracht hat – bleib nicht wieder stehen, wenn sie uns mal verläßt . . . Mir ist schrecklich zumut bei dem Gedanken, daß dann das alte Elend wieder anfangen könnte . . .«
Sie sagte langsam, mit einem forschenden Blick von unten: »Möchtest du denn, daß sie fort wäre?«
»Einmal wird sie's natürlich tun! Je länger sie bleibt, desto lieber ist mir's . . .«
»Das glaub' ich . . .« Sie murmelte es vor sich hin.
Er überhörte es. Er fuhr fort: »Denn desto mehr befestigt sich der gute Geist, der durch sie in unser Haus gekommen ist! . . . Paß nur mal auf, Ulli – nun wird alles gut!«
Er zog ihre Hand an die Lippen und drückte einen Kuß darauf. Sie ließ es geschehen. Sie stak mit der Hartnäckigkeit der Kranken in ihren eigenen Gedanken fest.
»Ich hoff' es ja auch, Erich! Aber wenn du mit mir zufrieden bist – warum du mir da eigentlich immer und immer wieder die Maxe als Vorbild vor Augen stellst . . .«
»Ich spreche gar nicht von der Maxe! Du fängst immer an!«
»Nein. Du!«
»Von Vorbild ist gar nicht die Rede! Ich meine nur: wenn sie das hier spielend, im Handumdrehen fertig bringt – das ist doch ein Beweis, daß du als meine Frau in unseren vier Pfählen erst recht Sonnenschein verbreiten kannst, wenn du nur willst. Ich hab' mir schon manchmal gedacht: es fehlt dir nur an Mut! Du traust dir nicht so viel zu! Aber du kannst mir so unendlich viel sein! Ich muß es dir in dieser Stunde sagen. Es gibt Stunden – in denen muß man reden!«
»Nun – hauptsächlich redest du ja von der Maxe.«
»Aber . . . Ulla . . .«
»Sie kann wirklich stolz darauf sein, wie du sie bewunderst!«
Er zog unmutig die Brauen hoch.
»Ich begreife dich nicht! Ich hab' ihr selber nie ein Wort darüber gesagt! Du auch nicht! Aber wenn wir hier unter uns sind, müssen wir es uns doch eingestehen: mit solchem Pflichtgefühl wie sie hat man doch vollen Anspruch auf unsern Dank!«
»Schau mal her!«
»Wieso?«
»Ach – laß mal! . . .«
»Was soll denn das nun wieder heißen, Ulla?«
»Nichts!«
»Du bist wirklich komisch!«
»Du auch!« sagte die junge Frau mit einem gepreßten Seufzer. Und nach einer Weile seltsamen Schweigens setzte sie hinzu: »Jedenfalls hab' ich jetzt genug von der Maxe und ihrem Pflichtgefühl gehört.«
»Warum betonst du denn das Wort ›Pflichtgefühl‹ so ironisch?«
»Gott – ich denk' mir mein Teil!«
»Findest du denn nicht, daß sie ihre Pflicht in vollem Umfang tut?«
»Oh – noch viel mehr als das!«
»Nun also! Das muß man doch auch anerkennen.«
»Mir tut sie leid . . .« Ulla lächelte sonderbar vor sich auf den Boden nieder.
»Das braucht sie gar nicht! Sie fühlt sich ganz wohl in ihrer Haut. Ich hab' alle Hochachtung vor dem Mädel! Ulla . . . verzeih . . . aber du hast wirklich auf einmal einen Gesichtsausdruck an dir . . . Ich weiß nicht, wie ich den deuten soll.«
Es zuckte fiebrig um ihre Mundwinkel. Die bewahrten dabei immer noch das rätselhafte Lächeln.
»Ach, komm, wir wollen schlafen gehen!« sagte sie aufstehend und unterdrückte ein Gähnen. »Ich bin müde. Und du bist ein blinder Hesse . . . Also gut!«
Sie schritt nach der Tür. Er stellte sich mit gerunzelter Stirn vor sie hin. Seine Stimme klang unangenehm fest.
»Nee – bitte gehorsamst . . . Mit diesen undeutlichen Anspielungen sagen wir uns nicht gute Nacht! Nun gefälligst heraus mit der Sprache! Was meinst du eigentlich?«
Da warf sie den Kopf zurück und lachte gereizt auf.
»Bildest du dir wirklich ein, die Maxe drängte sich überall so zur Hilfeleistung wie hier? Ach, du lieber Gott! Ich kenne sie doch! Länger als du! Besser als du! Sie ist so wenig ein Engel wie wir andern! Sie ist auch nur ein Mensch! Sie weiß schon, warum sie sich dir so aufopfert! Und ich weiß es auch!«
Er trat einen Schritt zurück.
»Ulla – um Gottes willen . . . Überlege, was du da sagst.«
Sie erwiderte nichts. Sie nagte nervös an der Unterlippe, als bereute sie schon ihre im Zorn herausgestoßenen Worte.
»Ulla – ich weiß nicht, ob ich dich recht verstehe? Was meinst du damit?«
»Nichts! Gar nichts! Ich hätt' überhaupt still sein sollen! Es wäre besser gewesen! Ich hab' auch gar nichts gegen die Maxe! Sie ist ja wirklich so gut und nett. Aber du ärgerst mich nun schon seit einer geschlagenen Stunde mit ihr . . .«
»Bitte, jetzt keine Umschweife! Was war der Sinn deiner Antwort vorhin?«
»Gott . . . ich hab' es dir ja schon seinerzeit einmal gesagt – gleich am Tag nach unserer Verlobung – sie hätte was für dich übrig!«
»Ja, damals hast du diesen Unsinn behauptet!«
»Und sie hat's noch! Sehr sogar! Mehr als mir lieb ist!«
»Ulla!«
»Wenn ich in so was bösartig wär', hätt' ich längst Lärm geschlagen. Aber ich bin nicht so . . .«
»Ulla . . . wenn du das dir einbildetest, hättest du es mir beizeiten sagen müssen!«
»Habt ihr mich denn gefragt? Ich war ja krank, wie sie kam!«
Weicher, die Hände bittend gefaltet, setzte sie hinzu: »Und ich kenn' dich doch: Erich! Ich weiß ja: ich kann ruhig sein! . . . Schau mich nur nicht so an! Gott . . . hätt' ich doch nicht geredet!«
Die Tür ging auf. Eine helle Mädchenstimme rief: »Du, Erich . . . da ist noch viel Bier in der Flasche! Willst du's nicht austrinken?«
Maxe stand auf der Schwelle. Sie hatte sich die Tür mit dem Ellbogen aufgeklinkt. In den Händen hielt sie ein Tablett. Ihr fröhliches Gesicht veränderte sich. Sie sah die beiden, wartete umsonst auf Antwort, merkte, daß man von ihr gesprochen. Sie verfärbte sich langsam. Er gab sich alle Mühe, sich zu beherrschen.
»Danke schön!« sagte er mit ruhiger Stimme und goß sich ein. Während er trank, schaute er über das Glas hinweg auf sie. Ihre Blicke trafen sich und irrten blitzschnell auseinander. Es war ein Schweigen . . .