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Silvers Gesandtschaft

. Zwei Leute standen vor der Stockade. Einer schwenkte ein weißes Tuch, andere – Silver selbst – stand ruhig dabei.

Es war noch sehr früh und der kälteste Morgen, den ich jemals draußen im Freien zugebracht hatte. Ein scharfer Frost ging mir durch Mark und Bein. Der Himmel war klar und wolkenlos, und die Spitzen der Bäume wurden vergoldet von der aufgehenden Sonne. Dort aber, wo Silver mit seinem Begleiter stand, war alles in tiefe Schatten gehüllt, und sie wateten bis an die Knie in einem niedrigen weißen Dampf, der während der Nacht aus dem Sumpfe herausgekrochen war. Frost und Dampf sagten nichts Gutes von dem Klima der Insel. Sicherlich war sie ein dumpfer, ungesunder, fieberschwangerer Erdenwinkel.

»Bleibt in Deckung, Leute,« sagte der Kapitän. »Zehn zu eins möchte ich wetten, daß das eine Falle ist.« Dann rief er die Seeräuber an.

»Wer da? Steht, oder wir feuern!«

»Parlamentärsflagge,« rief Silver.

Der Kapitän erschien an der Tür, hielt sich aber wohl in Deckung, aus Furcht vor etwaigen verräterischen Geschossen. Zuerst wandte er sich an uns:

»Doktors Wache auf dem Ausguck. Übernehmen Sie bitte die Nordseite, Herr Doktor; Jim übernimmt die Ostseite, Gray den Westen. Die Freiwache wird inzwischen die Musketen laden. Lebhaft, Leute, und Vorsicht.«

Dann wandte er sich wieder an die Meuterer.

»Was wollt ihr mit eurer Parlamentärsflagge?« rief er.

Diesmal antwortete der andere Mann.

»Kapitän Silver, Herr, wünscht an Bord zu kommen, um Verhandlungen anzuknüpfen,« rief er aus.

»Kapitän Silver! kenne ich nicht. Wer ist das?« rief der Kapitän. Und wir konnten hören, wie er mit halblauter Stimme zu sich selbst sagte: »Kapitän, so? Bei Gott, das nenne ich eine Beförderung!«

Der lange John antwortete selbst.

»Ich, Herr. Diese armen Jungens haben mich zum Kapitän gewählt nach Ihrer Desertierung, Herr.« – Dies mit einer besonderen Betonung des Wortes »Desertierung«. »Wir sind willens, uns zu unterwerfen und wollen weiter keine Geschichten und kein Aufhebens davon machen. Das einzige, was ich von Ihnen verlange, Kapitän Smollett, ist freies Geleit aus dieser Stockade und eine Minute Zeit, um nachher außer Schußweite zu kommen.«

»Mann,« sagte Kapitän Smollett, »ich habe nicht die geringste Lust, mich mit Euch zu unterhalten. Wenn Ihr mir etwas zu sagen habt, so könnt Ihr hereinkommen. Irgendwelche Verräterei wird nur von Eurer Seite zu befürchten sein, aber dann möge Euch der Himmel gnädig sein.«

»Das genügt, Herr Kapitän,« rief der lange John freundlich. »Ihr Wort genügt mir vollständig. Ich kenne einen Kavalier, wenn ich ihn sehe.«

Wir konnten sehen, wie der Mann mit der Flagge Silver zurückhalten wollte. Aber Silver lachte ihn aus und klopfte ihm auf die Schulter, als ob irgendwelche Befürchtungen einfach ausgeschlossen wären. Dann näherte er sich der Stockade, warf seine Krücke und das eine Bein über den Zaun und war im nächsten Augenblick sicher auf der anderen Seite.

Ich muß gestehen, daß ich zu sehr interessiert war mit dem, was hier vorging, als daß ich im geringsten meinen Pflichten als Wachtposten nachgekommen wäre. Ich hatte in der Tat bereits schon meinen Posten hinter der östlichen Schießscharte verlassen und kroch hinter den Kapitän, der mit dem Ellbogen auf den Knien auf der Türschwelle saß und seine Augen starr auf das Wasser gerichtet hatte, das aus dem alten Eisenkessel im Sande herausquoll. Leise pfiff er ein Liedchen vor sich hin.

» Come Lasses and Lads –«

Nur mit den größten Anstrengungen konnte Silver den Abhang hinaufkommen. Bei der Steilheit der Anhöhe, dem tiefen Sand und den dicken Baumstümpfen war er mit seiner Krücke so hilflos wie ein durchgedrehtes Schiff. Aber er verrichtete schweigend die Arbeit, und stand schließlich vor dem Kapitän, den er mit vollendeter Höflichkeit begrüßte. Er war mit seinem besten Anzug aufgetakelt, mit einem mächtigen blauen, mit Messingknöpfen versehenen Rock, der bis zu den Knien herunterhing und einem feinen, mit einem Seidenband verzierten Hut, der weit im Nacken saß.

»Da seid Ihr ja, Mann,« sagte der Kapitän, indem er den Kopf hob.

»Wollen Sie mich nicht hereinlassen, Herr Kapitän?« beklagte sich der lange John. »Der Morgen ist zu verflucht kalt, Herr, um auf dem Sande draußen zu sitzen.«

»Silver,« antwortete der Kapitän, »wenn es Euch gefallen hätte, ein ehrlicher Mann zu bleiben, so könntet Ihr heut in Eurer warmen Kombüse sitzen. Es ist Eure eigene Schuld, wenn das nicht der Fall ist. Entweder seid Ihr mein Schiffskoch und habt Anspruch auf eine anständige Behandlung, oder aber Kapitän Silver, ein gewöhnlicher Meuterer und Pirat und als solcher könnt Ihr meinetwegen zum Teufel gehen!«

»Gut, gut, Kapitän,« antwortete der Seekoch, indem er sich auf den Sand setzte, »Sie werden mir nachher wieder aufhelfen müssen, weiter hat das nichts auf sich. – Ein süßes kleines Plätzchen habt Ihr hier. – Ah, da ist ja auch Jim! Schön guten Morgen, Jim. Herr Doktor, ich stehe zu Ihren Diensten. Ja, was? da seid ihr ja alle wie eine glückliche Familie, sozusagen.«

»Wenn Ihr was zu sagen habt, so sagt es gleich,« sagte der Kapitän.

»Da haben Sie recht, Herr Kapitän,« antwortete Silver. »Pflicht ist Pflicht, wahrhaftig. Nun, wissen Sie was, das war kein schlechtes Stück Arbeit heute Nacht. Ich leugne das nicht; keinen Augenblick tue ich das. Einige von euch scheinen mir ziemlich geschickt im Umgang mit einer Handspeiche. Und ich will auch nicht leugnen, daß einige meiner Leute drei Strich im Winde waren – vielleicht waren sie es alle, vielleicht war ich es selbst; vielleicht ist das gerade der Grund, warum ich hier bin zum Verhandeln. Aber merken Sie sich das, Herr Kapitän, zum zweiten Male werden Sie so etwas nicht fertigbringen, beim Donner! Wir werden Wachtposten ausstellen und auch um einige Striche abfallen müssen mit dem Rum. Gewiß denken Sie, daß wir alle miteinander einen Strich im Winde waren. Aber ich war nüchtern, wie ich Ihnen versichern kann. Nur hundemüde war ich; und wenn ich eine Sekunde früher aufgewacht wäre, hätte ich euch bei frischer Tat ertappt. Er war noch nicht tot als ich hinkam.«

»Nun?« sagte Kapitän Smollett völlig ruhig und kühl.

Alles das, was Silver zu ihm sagte, war ihm ein Rätsel, aber nicht durch ein Wort oder eine Miene verriet er sein Erstaunen. In mir selbst begann allerdings eine Ahnung aufzusteigen. Ich erinnerte mich an Ben Gunns letzte Worte, ich fing an zu vermuten, daß er den betrunkenen Räubern einen nächtlichen Besuch abgestattet hatte und rechnete mit Freuden nach, daß wir es nur noch mit vierzehn Feinden zu tun hatten.

»So liegen die Dinge,« sagte Silver. » Wir wollen den Schatz und wir werden ihn haben – das ist unser Standpunkt! Ihr möchtet wohl gerne euer Leben retten, wie ich denke; und darauf sollte es euch zunächst ankommen. Ihr habt eine Karte, nicht wahr?« »Möglich,« erwiderte der Kapitän.

»O ja, Ihr habt eine Karte, ich weiß es,« erwiderte der lange John. »Braucht Euch nicht so zu verstellen; es kommt wirklich nichts dabei heraus. Wir wollen die Karte. Nun, ich habe Euch doch noch nie etwas zuleide getan.«

»Das ist doch ein bißchen zu stark,« unterbrach ihn der Kapitän. »Wir wissen genau, was Ihr mit uns vorgehabt habt, und es liegt uns auch nichts daran, denn jetzt könnt Ihr's ja doch nicht mehr tun.«

Der Kapitän schaute ihn ruhig an und stopfte weiter an seiner Pfeife.

»Wenn Abe Gray,« sagte Silver.

»Dummes Zeug!« rief Mr. Smollett. »Gray hat mir nichts gesagt und ich habe ihn auch nichts gefragt; und im übrigen könntet Ihr und er und diese ganze Insel zur Hölle fahren, ehe ich mich mit Euch auf etwas einlasse.«

Dieser kleine Temperamentsausbruch hatte eine beruhigende Wirkung auf Silver. Er war etwas nervös geworden, aber nun nahm er sich sichtlich zusammen. »Leicht möglich,« sagte er. »Ich will mich nicht aussprechen über das, was ein Gentleman als schiffsgemäß ansieht und was nicht. Und da ich sehe, daß Sie eben eine Pfeife rauchen wollen, Herr Kapitän, werde ich so frei sein und es ebenfalls tun.«

Er füllte seine Pfeife, steckte sie an, und die beiden Männer saßen sich eine Weile schweigend und rauchend gegenüber, wobei sie zuweilen einander anschauten, zuweilen den Tabak stopften und dann wieder vorwärtslehnten um zu spucken. Es war so gut wie ein Theater.

»Ja,« nahm Silver das Gespräch wieder auf, »so steht es. Gebt uns die Karte, mit deren Hilfe wir den Schatz finden können und hört auf, arme Seeleute totzuschießen und ihnen im Schlaf die Schädel einzuschlagen. Tut das, und wir werden Euch die Wahl geben zwischen zwei Dingen. Entweder kommt Ihr mit uns an Bord sobald wir den Schatz haben, wobei ich Euch auf Ehrenwort versichere, daß ich Euch irgendwo sicher an Land bringe, oder, wenn Ihr das vorzieht – denn einige meiner Leute sind rauh und haben alte Rechnungen wegen des Treibens und Schikanierens an Bord – Ihr könnt hier auf der Insel bleiben. In diesem Falle werden wir Mann für Mann die Vorräte mit Euch teilen und ich gebe Euch von neuem mein Ehrenwort, daß ich das nächste in Sicht kommende Schiff anrufen werde, damit es Euch aufsuche. Ihr werdet zugeben müssen, daß das ein vernünftiger Vorschlag ist. Einen anständigeren könnt Ihr wirklich nicht erwarten in Eurer Lage. Und ich hoffe, – hier hob er seine Stimme – daß alle Mann in diesem Blockhause meine Worte überholen werden, denn was ich dem einen versprochen habe, gilt für alle.«

Kapitän Smollett erhob sich von seinem Sitze und klopfte die Asche seiner Pfeife in die flache linke Hand. »Weiter nichts?« fragte er.

»Das allerletzte Wort, beim Teufel!« antwortete John. »Verweigert das, und Ihr werdet in Zukunft von mir nichts mehr sehen als Flintenkugeln.«

»Ausgezeichnet,« sagte der Kapitän. »Nun werdet Ihr mich anhören: Wenn ihr alle, einer nach dem anderen, unbewaffnet an Bord kommt, verpflichte ich mich, euch alle in Eisen zu legen und heimzubringen für eine unparteiische Gerichtsverhandlung in England. Wenn nicht, mein Name ist Alexander Smollett, ich habe meines Königs Farben gehißt und werde dafür sorgen, daß ihr allesamt zu David Jonas geht. Ihr könnt den Schatz nicht finden. Ihr könnt das Schiff nicht segeln – nicht einer unter euch ist dazu imstande. Euer Schiff ist in Eisen, Meister Silver; Ihr seid an einem Leeufer, Ihr werdet es bald selbst herausfinden. Ich sage Euch das hier, und es sind die letzten guten Worte, die Ihr von mir hört, denn, bei Gott, ich werde eine Kugel in Euren Rücken jagen, wenn ich Euch nochmal sehe. Marsch, mein Junge. Mach, daß du herauskommst, aber fix!«

Silvers Gesicht war sehenswert in diesem Augenblick, die Wut ließ die Augen förmlich aus ihren Höhlen treten. Er schüttelte das Feuer aus der Pfeife. »Helft mir auf!« rief er.

»Ich nicht,« erwiderte der Kapitän.

»Wer wird mir aufhelfen?« brüllte er.

Keiner machte eine Miene ihm zu helfen. Mit den greulichsten Verwünschungen kroch er über den Sand bis zur Tür, wo er sich wieder auf seiner Krücke aufrichten konnte. Dann spuckte er in den Brunnen.

»Da!« rief er, »das ist's, was ich von Euch denke. Noch ehe die Stunde aus ist, werde ich Euer Blockhaus zusammengeschlagen haben wie ein altes Rumfaß. – Lacht, beim Donner, lacht! Noch ehe die Stunde aus ist, werdet ihr anders lachen. Die, die sterben, werden die Glücklichen sein!«

Mit einem schauerlichen Fluch humpelte er davon und pflügte durch den Sand bis zur Stockade. Nach vier oder fünf vergeblichen Versuchen half ihm der Mann mit der Parlamentärsflagge über den Zaun und beide verschwanden augenblicklich zwischen den Bäumen.


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