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Um die Mittagsstunde stand ich mit Medizin und einigen kühlenden Getränken an der Tür des Kapitänzimmers. Er lag noch ganz wie wir ihn verlassen hatten und er schien schwach und aufgeregt.
»Jim,« sagte er mit matter Stimme, »du bist der einzige hier, der etwas taugt und du weißt, daß ich es immer gut mit dir gemeint habe. Da ist kein Monat vergangen, an dem du nicht dein silbernes Vierpennystück von mir bekommen hast. Nicht wahr? – Und nun hör' mir zu, Kamerad, ich bin ziemlich krank und verlassen von allen. Und Jim, du bringst mir einen Schluck Rum. Nicht wahr, Kameradchen?«
»Der Doktor –« begann ich.
Da fing er wieder an den Doktor zu verfluchen mit schwacher aber herzhafter Stimme. »Doktoren sind alle Waschlappen, und dieser Doktor hier, nun, was weiß der von seefahrenden Menschen? Ich bin in meinem Leben schon an Plätzen gewesen, die heiß waren wie Pech, wo die Kameraden um mich herum gefallen sind am gelben Fieber wie die Fliegen, an Plätzen, wo das Land sich aufgebäumt hat wie die See im Erdbeben – was wissen Doktoren von solchen Ländern? – und ich habe dort von Rum gelebt, kann ich dir sagen. Er war mir Essen und Trinken und Mann und Frau, und wenn ich meinen Rum nicht haben kann, so bin ich eine arme alte Hulk an einem Leeufer – mein Blut wird über dich kommen, Jim, über dich und über diesen Waschlappen von einem Doktor. – Sieh her, Jim, wie meine Finger zittern,« fuhr er fort in bittendem Tone. »Ich kann sie nicht still halten, nicht ich! Während des ganzen Tages habe ich noch keinen Tropfen bekommen. Der Doktor ist ein Narr, sage ich dir! Wenn ich keinen Rum bekomme, Jim, werde ich Gespenster sehen. Einige sind mir schon erschienen. Ich habe den alten Flint dort in der Ecke hinter dir gesehen, so klar wie gedruckt, und wenn ich Gespenster sehe – nun ja, ich bin ein Mann, der ein wildes Leben geführt hat, und es kommt mir auf eine Mordtat mehr oder weniger gewiß nicht an. Euer Doktor hat mir ja selbst gesagt, daß ein Glas mir nicht schaden kann. – Ein goldnes Pfund will ich dir geben für einen Schluck.«
Da er sich immer mehr in die Aufregung hereinredete, hatte ich Befürchtungen wegen meines Vaters, der gerade an jenem Tage Ruhe nötig hatte. Ich brachte ihm ein Glas Rum, das er gierig und mit einem Zuge austrank.
»Ah,« sagte er, »jetzt ist's schon besser. Und nun, Kameradchen, hat euch der Doktor verraten, wie lange ich noch liegen muß in dieser alten Koje?«
»Mindestens eine Woche,« sagte ich.
»Eine Woche? Donnerwetter! Das darf nicht sein. Sie werden mir den Schwarzen Punkt überreichen. Die Burschen sind gerade dabei, mir den Wind aus den Segeln zu nehmen; traurige Vagabunden, die das nicht halten konnten, was ihr Teil war, und die nun auch noch das der anderen wegschnappen möchten. Ist das ein seemännisches Benehmen, möchte ich wohl wissen? Ich bin ein sparsamer Mann. Niemals habe ich mein gutes Geld verschwendet oder verloren und werde sie auch diesmal wieder aufs Glatteis führen. Ich fürchte sie nicht. Ich werde noch ein Reff aus meinen Segeln schütteln und vor ihnen davonlaufen.«
Bei diesen Worten hatte er sich mit großer Schwierigkeit vom Bette erhoben und packte mich mit einem Griff, der mich beinahe laut aufschreien ließ vor Schmerz. Grimmig und lebendig wie seine Worte waren, so standen sie doch in traurigem Gegensatz zu der schwachen Stimme, mit der sie geäußert wurden. »Der Doktor hat mich umgebracht,« murmelte er, »meine Ohren singen, leg mich zurück.« Noch ehe ich ihm dabei helfen konnte, sank er zurück auf das Kissen, wo er eine Weile still lag.
»Jim,« sagte er schließlich, »hast du heute den Seemann noch einmal gesehen?« – »Den Schwarzen Hund?«
»Ah! Der Schwarze Hund. Er ist schlimm genug, aber es sind Schlimmere, die ihn mir auf die Spur hetzen. Nun, höre mir zu: wenn ich nirgendwie fortkann und sie mir den Schwarzen Punkt überreichen – 's ist meine alte Seekiste, hinter der sie her sind – so wirst du an Bord eines Pferdes gehen – das kannst du doch? Also, du wirst an Bord eines Pferdes gehen und dich auf den Weg machen nach – gut, ja, ich will! – zu dem einfältigen Waschlappen von einem Doktor und wirst ihm sagen, daß er alle Mann an Deck rufe – Magistrate und solche Leute –, daß er sie an Bord des »Admiral Benbow« bringe und dort die ganze alte Mannschaft des Kapitän Flint, Mann und Junge, oder das was davon übrig geblieben ist, gefangen nehme. Ich – ich selbst! – war erster Offizier im Schiffe des alten Flint und ich bin der einzige, der den Platz weiß. Er verriet ihn mir in Savannah, als er im Sterben lag, so ungefähr wie ich hier. Aber versprich mir, daß du kein Wort von alledem verraten wirst, bis sie mir den Schwarzen Punkt überreicht haben, oder bis du den Schwarzen Hund wieder siehst, oder einen Seemann mit einem Bein. – Jim – diesen vor allen!«
»Aber was ist denn der Schwarze Punkt, Kapitän?«
»'s ist eine Aufforderung, Kamerad. Du wirst es schon noch sehen. Aber halte dein Wetterauge offen, Jim, und ich werde ehrlich mit dir teilen, auf Ehrenwort will ich das – «
Noch eine Weile sprach er so weiter mit immer schwächerer Stimme, bis ich ihm die Medizin gab, die er, folgsam wie ein Kind, zu sich nahm mit den Worten: »Wenn je ein Seemann Medizin brauchte, so bin ich es.« Schließlich fiel er in einen schweren Schlaf. Noch heute weiß ich nicht, was ich getan hätte, wenn alles gut abgelaufen wäre. Vielleicht hätte ich die Sache dem Doktor erzählt, denn ich hatte eine tödliche Angst davor, daß der Kapitän doch noch sein Bekenntnis bereuen und mich beiseite schaffen könne. Wie die Dinge aber lagen, starb mein Vater ganz plötzlich an jenem Abend, so daß darüber alle anderen Angelegenheiten in Vergessenheit gerieten. Unsere natürliche Trauer, die Besuche der Nachbarn, die Veranstaltung des Begräbnisses und daneben die laufende Arbeit in der Wirtschaft hielten mich derart in Atem, daß ich keine Zeit hatte an den Kapitän zu denken oder gar mich vor ihm zu fürchten. In der Tat kam er denn auch schon am nächsten Morgen wieder herunter zu seiner Mahlzeit und aß wenig, trank aber, wie ich fürchtete, mehr als sein gewöhnliches Quantum Rum, denn er ging selbst nach dem Schanktisch und holte, was ihm gefiel, wobei er durch Fauchen und Stirnrunzeln jeden verscheuchte, der ihm in die Quere kam.
So gingen die Dinge weiter bis zum Tag nach dem Begräbnis, als ich an einem bitterkalten, nebeligen Nachmittag etwa um 3 Uhr einen Augenblick vor der Tür stand mit einem Kopf voll trauriger Gedanken und jemand langsam die Straße entlang kommen sah. Offenbar war er blind, denn er tappte vor sich her mit einem Stock und trug ein großes grünes Schild über Augen und Nase. Er war bucklig von Alter und Schwäche und trug einen alten, schlotternden Seemantel mit einer Kaputze, die ihn vollends wie eine Mißgeburt aussehen machte. Nie in meinem Leben hatte ich eine schrecklichere Gestalt gesehen. Einen Augenblick stand er still vor dem Wirtshaus und fing an in die Luft hinein zu reden in einem sonderbaren Singsang:
»Ist hier ein gütiger Freund, der einem armen, blinden Mann, der sein kostbares Augenlicht verloren hat bei der glorreichen Verteidigung seines englischen Vaterlandes, im Dienste des Königs – Gott segne ihn! – sagen könnte, in welchem Teile dieses Landes er sich eben befindet?«
»Sie befinden sich beim ›Admiral Benbow‹, Black Hillbucht, mein guter Mann,« sagte ich.
»Ich höre eine Stimme,« sagte er – »eine junge Stimme. Gib mir deine Hand, mein guter junger Freund und führe mich hinein.«
Ich hielt ihm meine Hand hin, die die schreckliche, glattzüngige, augenlose Kreatur sogleich wie in einem Schraubstock packte, so daß ich eine unwillkürliche Bewegung machte, um sie seinem Griffe zu entziehen. Aber der blinde Mann zog mich dicht heran mit einer einzigen Bewegung seines Armes.
»Führe mich hinein zum Kapitän!« befahl er.
»Herr,« sagte ich, »auf Ehrenwort, ich wage es nicht!«
»Oh,« fuhr er höhnisch fort, »so steht die Sache! Führ' mich sofort hinein oder ich breche deinen Arm.« Dabei preßte er ihn, daß ich laut aufschreien mußte.
»Herr,« sagte ich, »ich fürchtete um euretwillen. Der Kapitän ist nicht mehr so wie er war. Er sitzt am Tisch mit einem Säbel. Ein anderer Herr – «
»Vorwärts! keine Worte!« unterbrach er mich mit einer Stimme, wie ich sie so rauh und kalt und häßlich noch nie gehört hatte, und die mich mehr einschüchterte, als selbst der Schmerz im Arm. Ich folgte ihm sogleich, und wir gingen geradewegs in das Zimmer, wo unser kranker alter Seeräuber schon wieder halbbeduselt hinter einem Glase Rum saß. Der blinde Mann hielt sich dicht neben mir. Noch immer umklammerte er mein Handgelenk mit seiner eisernen Faust, während ich unter seinem Gewicht fast zusammenbrach. »Führe mich geradewegs zu ihm, und wenn ich in Sicht bin, so wirst du rufen: ›Hier kommt Euer Freund, Bill,‹ wenn nicht, so werde ich so machen!« und damit verdrehte er mein Handgelenk auf eine Weise, die mir fast die Besinnung raubte. So groß war meine Furcht vor dem blinden Bettler, daß ihm gegenüber sogar der Kapitän seine Schrecken verlor, und als ich die Tür öffnete, rief ich gewissenhaft, aber mit zitternder Stimme die Worte aus, die er mir befohlen hatte.
Der Kapitän schaute auf, und mit dem ersten Blick war aller Rum von ihm gegangen. In seinem Gesichtsausdruck spiegelte sich weniger der Schrecken als eine tödliche Krankheit. Vergebens suchte er aufzustehen.
»Bleib nur sitzen wo du bist, Bill,« sagte der Bettler. »Wenn ich auch nichts sehen kann, so höre ich doch jeden Finger, der sich bewegt. Geschäft ist Geschäft. Reden wir von Geschäften! Zeig' deine linke Hand! Nimm diese linke Hand beim Gelenk, Junge, und lege sie neben meine rechte.«
Wir beide gehorchten ihm gewissenhaft, und ich sah, wie er etwas aus seiner Hand in die des Kapitäns gleiten ließ.
»So, das wäre gemacht,« sagte der Blinde, während er mich plötzlich losließ und mit unglaublicher Geschwindigkeit aus dem Zimmer hinaus in die Straße hüpfte, wo ich noch immer wie versteinert stand, während man noch das Tapp, Tapp seines Stockes in der Ferne hörte.
Es dauerte eine Weile, ehe der Kapitän und ich selbst wieder ganz zum Bewußtsein der Lage kamen. Der Kapitän öffnete die Hand und schaute scharf auf den Zettel. »Zehn Uhr!« rief er. »Noch sechs Stunden. Das genügt. Wir werden doch noch mit ihnen fertig werden!«
Mit einem Satz sprang er auf die Füße, aber zugleich begann er zu taumeln und fuhr mit der Hand nach der Gurgel. Einen Augenblick schwankte die mächtige Gestalt hin und her und fiel dann dumpf auf den Boden, mit dem Gesicht nach unten.
Ich rief nach meiner Mutter und rannte herbei, um ihm zu helfen. Aber alle Eile war umsonst. Der Kapitän war das Opfer eines neuen Schlaganfalls geworden. Ich schaute ihn an, und ich weiß es nicht wie es kam, mir selbst kommt es heute sonderbar vor, aber sobald ich sah, daß er tot war, brach ich in eine Flut von Tränen aus. Es war der zweite Todesfall, den ich erleben mußte in meinem jungen Leben, und die Trauer über den ersten war noch frisch.