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Kriegsrat

. Im Augenblick gab es draußen ein großes Füßegetrampel und ich benützte die Gelegenheit, um unbemerkt aus dem Faß herauszuschlüpfen. Ich huschte hinter das Focksegel und rannte nach dem Achterdeck, wo ich gerade Hunter und Doktor Livesey antraf, die nach dem Luvbug rannten.

Alle Mann waren dort bereits vollzählig versammelt. Mit dem Mondaufgang hatte sich auch der Nebelgürtel gehoben. Weit draußen im Südwesten zeigten sich zwei niedrige Hügel im Abstand von einer Seemeile, und hinter ihnen ein dritter, höherer Hügel, dessen Gipfel noch von Nebel eingehüllt war, alle drei von scharfen, konischen Umrissen.

Alles das sah ich mehr wie im Traum, denn ich war noch voll der Schrecken der vergangenen halben Stunde. Dann hörte ich die Befehle des Kapitäns. Die »Hispaniola« wurde einige Striche näher an den Wind geholt und segelte nun so, daß wir dicht am Ostende der Insel vorbeifahren mußten.

»Und nun, Leute,« sagte der Kapitän, als die Arbeit getan war, »hat einer von euch schon einmal diese Insel gesehen?«

»Ich, Herr,« sagte Silver, »wir haben einmal hier Wasser eingenommen auf einem Kopraschoner, auf dem ich Koch war.«

»Der Ankergrund ist wohl im Süden, hinter jener Insel?« fragte Smollet.

»Ja, Herr, sie nennen sie die Skelettinsel. Es war einmal ein Hauptplatz für Piraten, und wir hatten einen Mann an Bord, der alle Namen kannte. Jene Anhöhe im Norden nannten sie den Fockmast. Die drei Hügel, die sich in einer Reihe nach Süden ziehen, den Fok, Großmast und Besan. Den Großmast – das ist der in der Wolke – pflegten sie gewöhnlich das »Fernrohr« zu nennen, weil sie von dort einen Ausguck postierten, wenn sie in der Bai beim Überholen ihrer Schiffe waren, mit Erlaubnis, Herr.«

»Ich habe hier eine Karte,« sagte Kapitän Smollet, »ist das der Platz?«

Die Augen des langen John brannten in seinem Kopf, als er die Karte zur Hand nahm; aber beim ersten Blick flog ein Schatten der Enttäuschung über sein Gesicht. Es war in der Tat nicht die Karte, die wir in des Kapitäns Kiste gefunden hatten, sondern nur eine genaue Kopie mit allen Namen, Höhen- und Tiefenangaben, aber ohne die Kreuze und die handschriftlichen Anmerkungen. Trotz der bitteren Enttäuschung blieb Silver vollkommen ruhig.

»Ja, Herr,« sagte er, »das ist der Platz; sehr hübsch ausgeführt, das kann man wohl sagen. Wer das wohl gemacht hat? Die Piraten sicher nicht, denn die waren zu unwissend dazu. – Ah, da steht's! ›Kapitän Kidds Ankergrund‹ – gerade so nannte es mein Schiffskamerad. Eine starke Strömung rennt hier entlang der Südküste. Sie haben recht getan, als Sie näher an den Wind holten und im Luv der Insel blieben, wenn Sie überhaupt die Absicht haben hier einzulaufen. Einen besseren Platz gibt es jedenfalls nicht.«

»Danke,« sagte Kapitän Smollett, »ich werde Euch nachher noch einmal rufen lassen, wenn ich Euch brauche. Ihr könnt jetzt gehen.«

Die Kaltblütigkeit, mit der John seine Kenntnis der Insel preisgab, überraschte mich, und ich muß gestehen, daß es mir kalt über den Rücken lief, als er nun auf mich zukam. Freilich konnte er nicht wissen, daß ich sein Gespräch überhört hatte, aber mein Schrecken vor seiner mächtigen Grausamkeit und Doppelzüngigkeit war so groß, daß es mir schaudernd durch und durch ging, als er seine Hand auf meine Schulter legte.

»Ah,« sagte er, »dieses ist ein süßes Plätzchen – ein süßes Plätzchen für einen fixen Jungen an Land. Dort kannst du baden und auf die Bäume klettern und Ziegen jagen. Jawohl! Und auf den Hügeln wirst du herumspringen, als ob du selbst so eine kleine Ziege wärst. Es macht mich jung, wenn ich nur an so etwas denke, und fast hätte ich darüber mein Holzbein vergessen. Ach, das Leben ist schön, wenn man jung ist und zehn Zehen hat. Wenn du einmal etwas auf Entdeckungsreisen dort drüben ausgehen willst, so frage du nur den alten John, und der wird das Nötige schon besorgen.«

Mit einem freundlichen Schlag auf die Schulter humpelte er nach vorne.

Kapitän Smollett, der Gutsherr und Doktor Livesey unterhielten sich auf dem Achterdeck und ich getraute mich zuerst nicht, sie zu stören, trotz der wichtigen Neuigkeit, die ich ihnen mitzuteilen hatte. Während ich noch unschlüssig dastand und meinen Kopf anstrengte auf der Suche nach einer passenden Entschuldigung, rief mich der Doktor, der ein fanatischer Tabakraucher war, zur Seite und bat mich, seinen Tabaksbeutel aus der Kajüte heraufzubringen. Sobald ich nahe genug war, flüsterte ich ihm ins Ohr: »Herr Doktor, lassen Sie mich bitte reden. Lassen Sie den Kapitän und den Gutsherrn in die Kajüte bitten und mich rufen unter irgendeinem Vorwand. Ich bringe schreckliche Nachrichten.«

Doktor Livesey erblaßte ein wenig, nahm sich aber sofort wieder zusammen. »Ich danke dir, Jim,« sagte er mit lauter Stimme, »weiter brauche ich nichts.«

Dann drehte er sich kurz herum und redete weiter mit den anderen. Die Unterhaltung ging noch ein wenig weiter, und obwohl keiner von den Herren äußerlich irgendwelche Überraschung zeigte, war es doch klar, daß Doktor Livesey den anderen meine Bitte mitgeteilt hatte, denn im nächsten Augenblicke hörte ich, wie der Kapitän dem Bootsmann Job Anderson einen Befehl erteilte und alle Mann achteraus gerufen wurden.

»Jungens,« begann der Kapitän, »das Land, das eben in Sicht gekommen ist, ist unser Bestimmungsort. Mr. Trelawney, von dem ihr alle wißt, daß er ein sehr freigebiger Herr ist, hat mich soeben ein paar Worte gefragt, und zu meiner Freude habe ich ihm mitteilen können, daß alle Mann an Bord ihre Pflicht getan haben auf eine Art, wie man es billigerweise nicht besser verlangen kann. Er, ich und der Doktor werden nun hinuntergehen, um auf eure Gesundheit zu trinken, und wir werden nun einen Grog für alle Mann ausgeben, damit ihr das gleiche tun könnt auf die unsere. Ich will euch meine Ansicht sagen über den Vorschlag: Er ist hübsch und anständig. Und wenn ihr denkt wie ich, so werdet ihr jetzt ein kräftiges Hoch ausbringen auf den Herrn.«

Natürlich wurde das Hoch ausgebracht, aber es klang so voll und herzlich, daß man nie auf die Vermutung hätte kommen können, es seien dieselben Leute, die in diesem Augenblick mit allen Gedanken nach unserem Leben trachteten.

»Noch eins für Kapitän Smollett!« rief John nach dem Verklingen des ersten. Auch das wurde herzhaft und kräftig aufgenommen.

Hierauf gingen die drei Herren hinunter, und nicht lange darnach wurde Jim Hawkins in die Kajüte gerufen.

Als ich eintrat, saßen alle drei um den runden Tisch, auf dem eine Flasche spanischen Weins stand mit einigen Rosinen. Der Doktor rauchte Volldampf und hatte dabei seine Perücke auf dem Schoße, wie er immer zu tun pflegte, wenn er in Aufregung war. Das Heckfenster war offen, denn es war eine warme Nacht mit klarem Mondlicht, das hell auf dem Kielwasser lag.

»Nun, Hawkins,« sagte der Gutsherr, »du hast uns was zu sagen.«

Ich tat wie mir geheißen und erzählte so kurz als möglich die von mir überhörte Unterhaltung mit allen Einzelheiten. Niemand unterbrach meine Erzählung, keiner machte auch nur eine Bewegung, aber alle hatten starr ihre Augen auf mich gerichtet.

»Jim,« sagte der Doktor, »nimm Platz.«

Sie setzten mich auf einen Stuhl, gaben mir ein Glas Wein, füllten meine Hände mit Rosinen und jeder der drei trank mir zu mit einer Verbeugung und einer Gratulation für mein Glück und meinen Mut.

»Kapitän,« sagte der Gutsherr, »Sie haben recht und ich unrecht gehabt. Ich gebe zu, daß ich ein Esel bin und erwarte Ihre Befehle.«

»Kein größerer wie ich, Herr,« erwiderte der Kapitän. »Noch nie habe ich eine Meuterei erlebt, die sich nicht vorher angezeigt hätte für jemanden, der Augen hatte und sehen wollte. – Aber diese Mannschaft geht über meine Begriffe.«

»Herr Kapitän,« sagte Doktor Livesey, »erlauben Sie mir diese Bemerkung: Das war Silver. Wirklich ein bemerkenswerter Mann.«

»Er würde noch bemerkenswerter aussehen von einer Raanock,« antwortete der Kapitän. »Aber diese Reden bringen uns nicht weiter. Ich sehe drei Punkte, die wir ins Auge fasten müssen, und mit Mr. Trelawneys Erlaubnis werde ich sie Ihnen aufzählen.«

»Sie, Herr, sind der Kapitän! Sprechen Sie, bitte,« antwortete der Gutsherr mit einer großen Geste.

»Zunächst,« begann Kapitän Smollett, »wir müssen die Fahrt fortsetzen, denn eine Rückkehr ist unmöglich. Wenn ich heute den Befehl zum Wenden gäbe, würden sie sich sofort erheben. Zweitens: Es bleibt uns noch etwas Zeit, zum mindesten so lange, bis der Schatz gehoben ist. Punkt drei: Es gibt noch vertrauenswürdige Menschen an Bord. Nun, meine Herren, einmal muß es ja zum Krachen kommen, und so schlage ich vor, die Gelegenheit beim Schopfe zu ergreifen und sie zu überrumpeln, wenn sie es am wenigsten erwarten. Ich denke, daß wir dabei auf Ihre persönlichen Diener zählen können, Herr?«

»Wie auf mich selbst,« erklärte der Gutsherr.

»Drei,« zählte der Kapitän, »mit uns selbst, einschließlich dem jungen Hawkins hier, macht das sieben. – Bleibt nun noch die Frage nach der Zahl der ehrlichen Leute.«

»Wahrscheinlich Trelawneys eigene Leute,« sagte der Doktor, »die, die er selbst aussuchte, ehe er mit Silver zusammentraf.«

»Nein,« antwortete der Gutsherr, »Hands war einer von denen.«

»Ich glaubte selbst, mich auf Hands verlassen zu können,« antwortete der Kapitän.

»Und zu denken, daß sich so was Männer nennt!« schimpfte der Gutsherr.

»Meine Herren,« sagte der Kapitän, »ich kann da wirklich auch nicht raten. Wir werden beidrehen, wenn Ihnen das so recht ist, und inzwischen einen hellen Ausguck halten. Das ist natürlich sehr aufreibend für einen Mann. Hübscher wäre es schon, wenn man gleich losschlagen könnte. Wir können indes nichts tun, ehe wir das Terrain erkundet haben. ›Dreh' bei und pfeife für einen guten Wind‹, das ist meine Auffassung.«

»Jim hier kann uns mehr helfen als irgend jemand,« sagte der Doktor. »Er ist aufgeweckt und die Leute sind nicht zurückhaltend ihm gegenüber.«

»Hawkins,« fügte der Gutsherr hinzu, »wir trauen dir blind!«

Nach allen diesen Reden fühlte ich mich ziemlich verzweifelt und ganz und gar hilflos. Und doch sollte es eine sonderbare Verkettung der Umstände zuletzt noch so fügen, daß in der Tat durch mich die Rettung kam. Inzwischen konnte man rechnen so lange man wollte, es blieben unter sechsundzwanzig vorerst nur sieben, auf die wir uns verlassen konnten, und von diesen war einer ein halbes Kind, so daß sechs erwachsene Männer gegen neunzehn standen.


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