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Die Vorbereitungen zu unserer Seereise dauerten doch etwas länger als der Gutsherr sich in seiner ersten Begeisterung gedacht hatte, und keiner unserer ersten Pläne – nicht einmal Doktor Liveseys Absicht, mich in seiner Nähe zu behalten – wurde so ausgeführt, wie wir es ursprünglich beabsichtigt hatten. Der Doktor mußte nach London reisen, um einen Stellvertreter für seine Praxis zu suchen, der Gutsherr hatte alle Hände voll zu tun in Bristol, und ich wohnte im Gutshause unter Aufsicht des alten Jagdhüters Redruth, beinahe wie ein Gefangener, aber mit dem Kopf voller Seeträume und den köstlichen Ahnungen von fernen, fremden Inseln und wilden Abenteuern. Stundenlang brütete ich über der Karte, die ich bald schon auswendig kannte bis in die kleinsten Einzelheiten. Im Geiste erforschte ich jeden Quadratmeter der Insel, tausendmal stieg ich in meinen Gedanken hinauf zu jenem Hügel, den sie das Fernglas nannten und hatte von seinem Gipfel die wunderbarste und wechselndste Aussicht. Zuweilen wimmelte es dort von Wilden, mit denen ich glorreiche Kämpfe ausfocht, zuweilen war sie voll der gefährlichsten Tiere, aber in allen meinen Wachträumen passierte nichts, was so seltsam und tragisch war als das, was wir später in Wirklichkeit dorten erleben sollten.
So vergingen die Wochen, bis eines Tages ein an Doktor Livesey adressierter Brief ankam mit der Bemerkung: »Falls verreist, zu öffnen von Tom Redruth oder dem jungen Hawkins.« In Ausführung dieses Befehles fanden wir – oder vielmehr ich, – denn der Jagdhüter war kein Held im Lesen von anderen als gedruckten Buchstaben – die wichtige Neuigkeit vom Erwerb eines schönen Schoners und von der Anheuerung eines wahren Juwels von einem Seemann, der ein Bein verloren hatte im Dienste des Königs – und trotz seines Gebrechens nicht nur ein ausgezeichneter Schiffskoch, sondern auch eine große Hilfe bei der Aussuchung der Mannschaft war.
Die Aufregung, in die mich dieser Brief versetzte, kann man sich leicht vorstellen. Ich war außer mir vor Freude, und wenn es in jenem Augenblick jemand gab, den ich verachtete, so war es der alte Tom Redruth, der nicht aufhören wollte mit Murren und Räsonieren.
Am nächsten Morgen gingen wir beide zu Fuß nach dem »Admiral Benbow«, wo ich meine Mutter bei guter Laune und Gesundheit antraf, zumal der Kapitän, der so lange eine Quelle des Unfriedens gewesen war, nun endlich dahin gegangen war, wo die Bösen nicht mehr schaden können. Der Gutsherr hatte alles wieder herstellen lasten. Das Wirtszimmer und das Wirtsschild hatten einen neuen Anstrich bekommen und er hatte auch einige neue Möbel angeschafft, darunter einen schönen Sessel für die Mutter. Damit sie während meiner Abwesenheit nicht ohne Hilfe wäre, hatte er einen Lehrjungen angestellt.
Der Anblick jenes Jungen brachte mir zum erstenmal meine Lage so recht zum Bewußtsein. Bisher hatte ich nur an die bevorstehenden Abenteuer gedacht und darüber ganz vergessen, daß ich auch meine Heimat verlassen sollte. Nun aber, da ich mir den plumpen, unbeholfenen Fremden ansah, der fortan an meiner Stelle neben der Mutter leben sollte, konnte ich mich der Tränen nicht erwehren. Ich fürchte, daß ich jenem armen Jungen das Leben sauer gemacht habe während meiner Anwesenheit, denn da er noch unerfahren war in der Arbeit, hatte ich hundert Gelegenheiten ihn zu kränken und zurechtzuweisen, und ich benutzte auch jede mir dazu gebotene Gelegenheit.
Am nächsten Tage machten wir uns wieder auf den Weg. Ich verabschiedete mich von meiner Mutter, von der alten Bucht, wo ich immer gelebt hatte so lang ich denken konnte und von dem lieben alten »Admiral Benbow«, der mir schon nicht mehr ganz so lieb war, seitdem er einen neuen Anstrich erhalten hatte. Bei Dunkelwerden erreichten wir die Postkutsche. Ich wurde eingepfercht zwischen Redruth und einem dicken alten Herrn, die mich zusammen so sehr einzwängten, daß ich trotz der schnellen Fahrt der Kutsche und der kalten Nachtluft kaum Luft schnappen konnte. Eine Weile döste ich vor mich hin in einem dämmerigen Halbschlaf, dann aber schlief ich richtig ein und wachte nicht mehr auf, bis wir vor einem großen Gebäude in einer städtischen Straße standen, als der Tag schon lange angebrochen war.
»Wo sind wir?« fragte ich.
»Bristol,« sagte Tom. »Komm' herunter.«
Wir gingen zusammen nach Herrn Trelawney's Wohnung, und auf unserem Wege, der entlang der Kais führte, sahen wir viele Schiffe von allen Größen und Nationalitäten. In einem sangen die Matrosen bei ihrer Arbeit, in einem anderen arbeiteten sie in der Takelage, wo sie hoch über dem Kopf in Fäden hingen, die mir nicht dicker als Spinngewebe schienen. Mein ganzes bisheriges Leben hatte ich an der Wasserkante zugebracht, aber nun schien es mir, als ob ich heute zum ersten Male an die See gekommen wäre. Der Geruch von Teer und Salz war mir etwas Neues. Ich sah die wunderbarsten Gallionsfiguren, die schon über alle Meere gefahren waren. Ich sah viele alte Matrosen mit Ohrringen und in langen Ringen gekräuselten Bärten, mit teerigen Zöpfen und dem schweren, wankenden Matrosengang, und ich hätte nicht begeisterter sein können, wenn es so viele Könige oder Erzbischöfe gewesen wären.
Und ich – ich selbst sollte nun zur See fahren, zur See in einem Schoner mit einem pfeifenden Bootsmann und bezopften singenden Matrosen, zur See nach einem unbekannten Land, auf der Suche nach vergrabenen Schätzen!
Während ich noch ganz diesen lieblichen Träumen nachging, standen wir schon vor einem großen Wirtshause, wo der ganz als Seeoffizier gekleidete Gutsherr Trelawney auf uns zukam mit freundlichem Lächeln und mit einer fabelhaften Imitation eines Seemannsganges.
»Da seid ihr ja,« rief er, »der Doktor ist auch schon hier. – Bravo! Die Mannschaft ist vollzählig!«
»Oh, Herr,« rief ich aus, »wann werden wir in See gehen?«
»In See?« rief er. »Wir segeln morgen!«