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Vom Abhange des Hügels, der hier steil und steinig war, löste sich etwas Geröll, das prasselnd und hüpfend herunterkam. Unwillkürlich schaute ich hinauf und sah eine hüpfende Gestalt zwischen den Stämmen der Tannen. Beim besten Willen konnte ich nicht sagen, ob es ein Mensch, ein Bär oder ein Affe war. Sie war dunkel und zottig, mehr konnte ich nicht sehen. Aber der Schrecken vor der neuen Erscheinung lähmte mir die Schritte.
Nun war ich offenbar abgeschnitten von beiden Seiten; hinter mir die Mörder, vor mir dieses lauernde, unbestimmte Etwas. Eine Gefahr, die man kennt, ist indes besser als eine, die man nicht kennt. Silver selbst in all seiner Schrecklichkeit schien harmlos im Vergleich mit dieser Kreatur des Waldes. Ich rannte zurück nach den Booten und schaute dabei ständig über die Schulter.
Die seltsame Gestalt setzte sich gleichfalls in Bewegung und fing an, mir den Weg abzuschneiden in einem großen Bogen. Das war nun weiter nicht schwierig, da ich müde und atemlos war; aber selbst wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, hätte ich mich doch bald von der Zwecklosigkeit eines Wettlaufes mit solchem Gegner überzeugen müssen. Flink wie ein Reh, lief die Kreatur von Stamm zu Stamm, wie ein Mensch auf zwei Beinen, aber dennoch so menschenunähnlich wie nur möglich, weit vorgebeugt, fast bis zum Boden. Dennoch konnte ich nicht länger daran zweifeln, daß ich es mit einem Menschen zu tun hatte.
Ich erinnerte mich an alles das, was ich über Menschenfresser gehört hatte und war drauf und dran, um Hilfe zu rufen. Atemlos stand ich still und sah mich um nach einem Ausweg. Zu rechter Zeit erinnerte ich mich an meine Pistole; der Mut begann mir wieder lebendig zu werden, ich schaute dem Inselmann ins Gesicht und ging gerade auf ihn zu.
Er war eben hinter einem Baume verborgen, mußte mich aber genau beobachtet haben; denn sobald er merkte, daß ich auf ihn zukam, trat auch er einige Schritte näher. Dann zögerte er wieder, ging einige Schritte zurück, kam wieder näher und zuletzt warf er sich zu meinem größten Erstaunen vor mir auf die Knie mit erhobenen Händen. »Wer bist du?« fragte ich.
»Ben Gunn,« antwortete er mit einer Stimme, die rauh und unbeholfen war wie ein rostiges Schloß. »Ich bin der arme Ben Gunn, ich; und ich habe seit drei Jahren nicht mehr mit einem Christenmenschen gesprochen.«
Ich hatte nun Gelegenheit, ihn näher anzusehen und fand, daß er ein weißer Mann war, wie ich selbst. Seine Haut war braun gebrannt von der Sonne, seine Lippen waren sogar schwarz, und die blauen Augen leuchteten hell auf dem dunklen Gesicht. Von allen Bettlern, denen ich je begegnet bin in Wirklichkeit und in meinen Träumen, war dieser der zerlumpteste. Seine Kleidung bestand aus Fetzen von altem Segeltuch, die über und über geflickt und genäht waren und nur noch mühsam zusammengehalten wurden durch ein äußerst verwickeltes System der seltsamsten Befestigungen, wie Messingknöpfen, kleinen Stöcken und Stücken teerigen Seisings. Das einzig Solide an dieser »Kleidung« war ein alter Ledergürtel mit Messingschnalle.
»Drei Jahre!« rief ich entsetzt. »Hast du Schiffbruch erlitten?«
»Nein, Kamerad,« sagte er, »man hat mich ausgesetzt.«
Unwillkürlich überlief mich ein Schauder bei dieser Antwort. Von so etwas hatte ich früher schon gehört und wußte, daß es eine nicht selten angewandte Strafe an Bord der Piratenschiffe war. Der Sünder wurde mit einem Gewehr und ein wenig Pulver und Blei irgendwo an Land gesetzt.
»Das war vor drei Jahren,« fuhr er wehmütig fort, »und seither habe ich nur von wilden Ziegen gelebt, und von Beeren, Austern und solchen Dingen. Es ist mir immer leidlich ergangen; denn wenn einer ein Seemann ist, sage ich, so wird er sich immer und überall zu helfen wissen – aber, Kamerad, mein Herz ist krank nach christlicher Nahrung. Hast du nicht vielleicht irgendwie ein Stück Käse bei dir? Nein? Nun, manche lange Nacht habe ich von Käse geträumt – zumeist von geröstetem – und bin dann aufgewacht und fand mich hier.«
»Wenn ich je wieder an Bord kommen kann,« sagte ich, »so wirst du zentnerweise Käse bekommen.«
Während dieser Vorgänge wurde er nicht müde, den Stoff meiner Jacke zu befühlen, meine Hände zu streicheln, meine Schuhe anzusehen, und immer wieder zwischen seinen wilden Worten, zeigte er eine kindische Freude über die Gegenwart eines Mitmenschen. Bei meinen letzten Worten aber horchte er auf mit einem etwas verschmitzten Gesicht.
»Wenn du wieder an Bord gehen kannst, sagtest du? Wer sollte dich daran hindern?« »Du nicht,« antwortete ich.
»Da magst du wohl recht haben,« rief er aus. »Nun höre, du – wie heißt du eigentlich, Kamerad?«
»Jim.«
»Jim, Jim,« wiederholte er befriedigt. »Weißt du, Jim, ich habe so wüst gelebt in meinen Tagen, daß du dich für mich schämen würdest, wenn ich es dir erzählte. Zum Beispiel, Jim, Du würdest bei meinem Anblick nicht auf die Idee kommen, daß ich einmal eine fromme Mutter gehabt habe!«
»Das gerade nicht,« antwortete ich.
»Siehst du,« rief er aus, »aber ich hatte eine fromme Mutter – eine sehr fromme Mutter. Und ich selbst – das wirst du wohl nicht glauben –, ich selbst war ein höflicher, umgänglicher und frommer Junge, der seinen Katechismus so schnell herunterleiern konnte, daß man kein Wort vom andern verstand. Und soweit ist es nun gekommen, Jim! Es fing an mit Lügen und Fluchen, und bald ging es weiter. Meine Mutter warnte mich damals schon und sagte alles voraus, die gute, fromme Frau! Aber die Vorsehung hat mich hierher gebracht. Auf dieser einsamen Insel habe ich alles noch einmal überdacht, und nun halte ich es wieder mit der Frömmigkeit. Nie wieder könntest du mich über einem Glase Rum erwischen, es sei denn so ein kleiner Fingerhut voll auf meine Gesundheit bei der ersten sich bietenden Gelegenheit. Ich werde in Zukunft ein guter Mensch sein und werde dafür sorgen, daß ich es bleibe. Und Jim« – hier schaute er um sich und mäßigte seine Stimme zu einem Flüstern – »ich bin reich!«
Diese letzte erstaunliche Behauptung überzeugte mich vollends davon, daß die Einsamkeit den Verstand dieses armen Teufels verwirrt hatte. Die Erkenntnis schien sich auch in meinem Gesichtsausdrucke widerzuspiegeln, denn er wiederholte hitzig die Behauptung:
»Reich! reich! sage ich dir. Und ich will dir noch etwas sagen: Ich werde einen Mann aus dir machen, Jim. – Ah, Jim, du wirst noch einmal die Sterne segnen, die dich zuerst auf meine Spur gesetzt haben!«
Bei diesen letzten Worten flog plötzlich ein lauernder Schatten über sein Gesicht, er hielt meine Hand noch fester und erhob den Zeigefinger drohend.
»Sage die Wahrheit, Jim! Ist das dort Flints Schiff?«
»Nein,« antwortete ich, »Flint ist tot, aber ich will dir die Wahrheit sagen, da du mich darum bittest – einige von Flints Leuten sind an Bord.«
»Nicht doch ein Mann – mit einem – Bein?« fragte er atemlos.
»Silver?«
»Ah, Silver! So hieß er.«
»Er ist Koch an Bord und der Rädelsführer der Meuterer.«
Noch immer hielt er meine Hand am Gelenke fest, die er bei dieser Neuigkeit mit aller Gewalt zusammendrückte.
»Wenn Silver dich geschickt hat,« fuhr er fort, »so bin ich nicht besser wie ein Haufen Schweinefleisch. Das weiß ich.«
Nun wußte ich einigermaßen Bescheid. Ich glaubte, einen Verbündeten gefunden zu haben, dem ich nun in wechselnder Rede die Geschichte unserer Reise und unsere gegenwärtige traurige Lage auseinandersetzte. Mit der größten Aufmerksamkeit hörte er zu, und als ich geendet hatte, klopfte er mir wohlwollend auf die Schulter.
»Bist ein guter Junge, Jim,« sagte er. »Und ganz in einem Kreuzknoten, nicht wahr? Da kannst du nun wirklich nichts Besseres tun, als dich ganz auf Ben Gunn zu verlassen. Ben Gunn ist der Mann für so etwas! Würdest du es nun für möglich halten, daß dein Gutsherr sich als ein dankbarer Mann erweisen würde, wenn man ihm aus der Patsche heraushelfen würde, da er ja doch auch in einem Kreuzknoten ist, wie du sagst?«
Ich sagte ihm, daß man in der Tat keinen freigebigeren Menschen kenne, als den Gutsherrn.
»Ja, siehst du, es kommt ganz auf die Auffassung an,« antwortete Ben Gunn, »ich meine damit natürlich nicht, daß er mich etwa zum Portier mache mit einer schönen Livree oder so etwas. Das ist nicht nach meinem Geschmack, Jim. Meine, ob er sich etwa dazu bereitfinden würde, eine größere Summe, von sagen wir einmal tausend Pfund, herauszugeben von dem Gelde, das einem schon so gut wie gehört?«
»Sicher,« sagte ich. »Ohnehin waren alle Mann auf Anteil geheuert.«
» Und eine Heimreise?« fügte er hinzu mit mißtrauischer Miene.
»Wie denkst du dir denn das?« rief ich aus. »Der Gutsherr ist ein durchaus feiner Herr, und da wir ohnehin so viele Leute verloren haben, wird er froh sein um jeden, der ihm das Schiff nach Hause zu segeln hilft.«
»Ja, das ist wahr,« rief er sehr erleichtert.
»Ich will dir nun etwas erzählen,« fuhr er fort. »Soviel und nicht mehr. Ich war auf Flints Schiff, als sie den Schatz vergruben; er und noch sechs andere starke Seeleute. Ungefähr eine Woche lang blieben sie an Land, und wir lagen beigedreht vor der Küste des alten »Walroß«. Eines schönen Tages ging das Signal hoch, und Flint kam allein im Boote mit einem verbundenen Kopfe. Die Sonne war eben aufgegangen, und er sah tödlich weiß aus um den Mund. Doch da war er frisch und lebendig, und die sechs Mann tot und begraben. Niemand an Bord konnte sich vorstellen, wie er das fertiggebracht hatte. Es war jedenfalls eine Schlacht auf Leben und Tod, mit Überfall und Meuchelmord – er allein gegen die sechs. Billy Bones war damals sein erster Offizier und der lange John Quartiermeister. Sie fragten ihn, wo der Schatz vergraben war, aber er verweigerte jede Auskunft. »Ihr könnt an Land gehen und ihn suchen,« sagte er. »Aber das Schiff wird weitersegeln nach neuer Beute.« So sagte er. Das waren gerade seine Worte.
»Inzwischen hatte ich das Seeräuberhandwerk an den Nagel gehängt und fuhr auf einem anderen Schiff, auf dem wir die Insel in Sicht bekamen. Das war vor drei Jahren. ›Jungens,‹ sagte ich, ›dort liegt Flint's Schatz. Wir wollen an Land gehen, um ihn zu suchen.‹ Der Kapitän fand keinen Gefallen an dem Abenteuer, aber meine Kameraden waren alle damit einverstanden und wir gingen an Land. Zwölf Tage lang suchten wir danach, und an jedem dieser Tage hatten sie schlimmere Worte für mich, bis ich es eines Tages müde wurde, und alle Mann wieder an Bord gingen. ›Was dich anbelangt, Benjamin Gunn,‹ sagten sie, ›hier hast du eine Muskete, einen Spaten und eine Picke. Du kannst hier bleiben und Flint's Schätze suchen.‹
Das war vor drei Jahren, Jim, und seither habe ich keinen Bissen einer christlichen Mahlzeit gekostet. Und nun schau her, Jim, sieh mich an. Sehe ich aus wie ein gewöhnlicher Matrose? Nein, wirst du sagen. Und ich war es auch nicht.« Er zwinkerte mit den Augen und stieß mir in die Seite.
»Gerade diese Worte sollst du zu deinem Gutsherrn sagen, Jim: er war auch keiner – gerade diese Worte! Drei Jahre lang war er der Inselmann bei Tag und Nacht, bei Regen und Sonnenschein, und manchmal hatte er (so wirst du sagen) an seine Gebete gedacht, manchmal an seine alte Mutter, ob sie wohl noch lebe (auch das sollst du sagen); aber den größten Teil seiner Zeit hat Ben Gun auf eine nützlichere Weise ausgefüllt. Und dann wirst du ihm so einen kleinen Rippenstoß geben, wie ich es eben tue.«
Damit gab er mir einen Seitenstoß mit einer höchst vertraulichen Miene.
»Dann,« fuhr er fort – »dann wirst du aufspringen und wirst ihm folgendes sagen: Gunn ist ein guter Mann (so wirst du sagen) und er legt ein weit größeres Maß von Vertrauen – ein weit größeres Maß hörst du – in die Worte eines ritterlichen Gentlemen, als in die eines Glücksritters, denn er ist einmal selber einer gewesen und weiß Bescheid.«
»Schön,« sagte ich, »ich habe kein Wort verstanden von dem, was du gesagt hast. Aber darauf kommt es wohl auch nicht an. Viel wichtiger ist die Frage, wie ich wieder an Bord komme?«
»Ah,« sagte er, »da ist noch so ein Knoten, gewiß. Da ist mein Boot, das ich selbst verfertigt habe mit meinen eigenen Händen. Es liegt dort unter dem weißen Felsen. Wenn alle Stricke reißen, werden wir es damit versuchen nach Einbruch der Nacht. – Hi! was ist das?«
Gerade in diesem Augenblicke wurden die Echos der Insel lebendig von einem Kanonenschuß, obwohl es noch ein oder zwei Stunden bis Sonnenuntergang war. »Der Kampf hat begonnen!« rief ich. »Komm mit.«
Ohne im geringsten an die ausgestandenen Schrecken zu denken, lief ich hinunter zum Ankergrunde. Dicht neben mir lief leicht und schnell der Inselmann in seinen Ziegenfellen.
»Links, links,« sagte er; »halte dich links, Kamerad Jim! Unter die Bäume mit dir. Hier habe ich meine erste Ziege getötet. Brave, gute Ziegen! Jetzt kommen sie nicht mehr hier herunter; sind alle aufgeentert zu den höchsten Berggipfeln aus Angst vor Benjamin Gunn. – Ah! und da ist der Kirchhof. Siehst du die Gräber? Ab und zu bin ich dort gewesen und habe gebetet, wenn ich mir dachte, daß ungefähr ein Sonntag fällig wäre. Es war nicht gerade eine Kapelle, aber es schien mir feierlicher hier, und dann, mußt du wissen, war Ben Gunn auch etwas knapp an Mannschaft für so ein Geschäft – kein Pfarrer, nicht einmal eine Bibel und eine Flagge, mußt du wissen.«
So plapperte er noch eine Weile weiter während wir liefen, ohne daß er irgend eine Antwort erhielt, die er offenbar auch nicht erwartete.
Dem Kanonenschuß folgte nach einer Weile das Prasseln von Kleingewehrfeuer. Es folgte eine weitere Pause und dann sah ich kaum eine Viertelseemeile vor mir über dem Gehölze die »Union Jack« im Winde flattern.