Stendhal
Aphorismen aus Stendhal
Stendhal

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Der Autor über sich selber.

Berlin, 2. Sept. 1816. – Ich öffne den Brief, der mir einen Urlaub von vier Monaten bewilligt. – Freudenrausch, Herzklopfen. Wie thöricht bin ich noch mit 26 Jahren! Ich werde also Italien sehen. Aber ich werde es dem Minister nicht sagen: Die Eunuchen haben immer einen hellen Zorn gegen die Ganzen. Ich mache mich auch auf zwei Monate »Kälte« nach meiner Rückkehr gefaßt. Aber diese Reise ist mir ein zu großes Glück, und wer weiß, in drei Wochen geht vielleicht die Welt unter.

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Ich habe bis in diese letzten Tage die Aristokraten zu hassen geglaubt. Mein Herz glaubte ehrlich mit meinem Kopfe zu gehen. Der Banquier R. sagte mir eines Tages, er sähe ein aristokratisches Element in mir. Ich hätte geschworen, zehn Meilen davon entfernt zu sein. Aber ich habe diese Krankheit nun wirklich an mir gefunden, und es wäre eine grobe Selbst-Täuschung gewesen, mir einzubilden, daß ich mich davon heilen könnte: ich gebe mich ihr mit Wollust hin.

Was ist denn mein Ich? Ich weiß es nicht. Ich bin eines Tages auf dieser Erde aufgewacht; ich finde mich an einen Körper, an einen Charakter, an ein Schicksal gebunden. Soll ich mich vergeblich mit ihrer Aenderung beschäftigen, und inzwischen zu leben versäumen? Das wäre Tollheit. Ich unterwerfe mich ihren Mängeln. Ich unterwerfe mich meinen aristokratischen Instinkten, nachdem ich zehn Jahre lang in ehrlicher Ueberzeugung gegen alle Aristokratie gepredigt habe.

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Ich hatte Zeit für mich übrig und bin nach Isle gegangen, um dort zu übernachten und Vaucluse zu sehen. Dann habe ich mich an dem Triumphbogen von Carpentras und seinen wunderbaren Gefangenen in Bas-Relief erbaut. Aber man muß eine sonderbare Seele haben, um solche Sachen und Petrarca's Sonnette zu lieben.

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Die lebendigen Schönheiten, die ich treffe, sind mir eine Erholung von der Schönheit der Kunst. Und umgekehrt läßt mich das Studium der Kunstwerke den Reiz schöner Frauen tiefer fühlen und macht mich den Geldinteressen und all den andern traurigen und öden Gedanken unzugänglicher. Wenn man ein derartiges Leben führt, so ist man gewißlich nahe daran, mit tausend Thalern Einkommen glücklich sein zu können.

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Man müßte die Meinungen haben, die die Mode gerade vorschreibt. Ich bin leider in dieser Beziehung übel daran. Mein Glück besteht in meinen Ueberzeugungen; sie mag ich nicht vertauschen gegen das Vergnügen der Eitelkeit und die Vorteile des Geldes. Der Himmel hat mich so wenig mit dem Instinkt weltlichen Erfolgs bedacht, daß ich mich mit aller Gewalt in den Anschauungen bestärke, von denen man mir sagt, daß sie unzeitgemäß sind, und daß es meine höchste Lust ist, auf Thatsachen zu stoßen, die mir solche gefährliche Wahrheiten immer wieder aufs neue beweisen.

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Als redlicher Mann wünschte ich, besonders wenn ich das Opfer italienischer Polizeischikanen bin, daß die ganze Erde eine so geordnete Verwaltung hätte wie New-York. Aber in jenem moralischen Lande würde die Langeweile meinem Dasein bald ein Ende machen.

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Ich liebe die schönen Landschaften: sie bringen manchmal auf meine Seele denselben Eindruck hervor wie der Bogen eines Künstlers auf einer klangvollen Geige. Sie geben mir närrische Anwandlungen. Sie mehren mein Glück und machen mir das Unglück erträglicher.

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Ich werde stutzig. Es ist wohl lächerlich zu sagen, daß man die Kunst liebt. Das heißt gestehen, daß man vortrefflich ist.

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Ich würde genötigt sein, Stil zu schreiben, wenn ich eine Ahnung von dem geben wollte, was wir unwillkürlich empfanden, als wir um ein Uhr morgens durch den Wald der Villa Aldobrandini nach Grotta Ferrata zurückfuhren. Ich würde, wenn ich es zu malen versuchen wollte, diese göttliche Mischung von Wollust und seelischer Berauschtheit verderben; und nach alledem würden die Bewohner der Isle-de-France mich doch nicht verstehen. Das Klima ist hier der größte Künstler.

Ich rate aller Welt und selbst mir, mißtrauisch gegen mich zu sein. Die Hauptsache ist, nichts zu bewundern, als was wirklich Vergnügen gemacht hat.

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Ein armer korsischer Bediensteter, namens Cosimo, hat dieser Tage ganz Florenz skandalisiert. Er erfuhr, daß sich zu Haus seine Schwester, die er seit zwanzig Jahren nicht gesehen hatte, von einem Mann aus einer feindlichen Familie verführen ließ. Er brachte die Sachen seines Herrn in die größte Ordnung, dann ging er nach einem Gehölz eine Meile von hier und schoß sich eine Kugel durch den Kopf. Was einfach vernünftig ist, giebt der Kunst keinen Stoff. Ich habe vor einem braven Republikaner der Vereinigten Staaten Hochachtung, aber ich vergesse ihn in ein paar Tagen für immer. Er ist für mich kein Mensch, er ist eine Sache. Ich werde aber niemals den armen Cosimo vergessen. Stehe ich mit einer solchen Auffassung allein? Der Leser muß darauf antworten.

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Im Allgemeinen ziehe ich denjenigen Provinzler, der die Schönheiten seiner Landschaft nicht kennt, dem enthusiastischen vor. Wenn ein Einwohner Avignon's mir die Fontäne von Vaucluse anpreist, so macht er mir den Eindruck eines indiskreten Menschen, der mir von einer geliebten Frau spricht und in pomphaften Worten gerade die Reize preist, die sie nicht hat, und an deren Abwesenheit ich nie gedacht hatte. Sein Lob wird eine feindliche Herabsetzung.

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Rom. – Ach, diese römische Träumerei, die uns so süß erscheint und uns die Interessen des wirklichen Lebens vergessen läßt! Wir können sie im Kolosseum wie im St. Peter gleichermaßen finden, je nachdem unsere Seele aufgelegt ist. Was mich betrifft, wenn ich darein versenkt bin, da giebt es Tage, wo man mir ankündigen könnte, daß ich Herrscher der Welt sei: ich würde nicht geruhen, mich aufzumachen, um meinen Thron in Besitz zu nehmen; ich würde das auf einen andern Tag aufschieben.

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Um von mir selber zu reden, und mich für einmal und alle Zukunft entschuldigend, gestehe ich, daß mich alle Moralpredigt langweilt, und daß ich die Erzählungen La Fontaine's den schönsten Tiraden des guten Jean Jacques vorziehe.

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Man wird mich wahrscheinlich für einen Verrückten ausgeben, aber ich halte nun einmal an der Wunderlichkeit fest, die Wahrheit zu sagen – die gefährlichen Wahrheiten natürlich ausgenommen.

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Wird man mich anklagen, jene Sitten zu verteidigen, weil ich sie beschreibe? mich, der fest daran glaubt, daß die Keuschheit die Quelle der großen Liebe ist? Um mich zu rächen, werde ich an das dreckige Leben derer denken, die mich verleumden.

Ich bedaure, daß es nicht eine Geheimsprache giebt, die nur den Eingeweihten bekannt ist. Ein ehrlicher Mensch könnte dann von der Leber weg sprechen und gewiß sein, daß er nur von seinen pairs verstanden wird. Ich würde dann vor keiner Schwierigkeit zurückscheuen.

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Ich habe mich oft, statt eines allgemeinen Ausdrucks, der für den Verfasser weniger gefährlich gewesen wäre, des unverhüllten eigentlichen Wortes bedient. Nichts verstößt mehr gegen die schöne Sitte des neunzehnten Jahrhunderts. Aber ich bleibe bei dem unverhüllten und unverhüllenden Wort, bei den »starken Ausdrücken«.

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Offen gestanden, das ist einer der unglücklichsten Augenblicke meines Lebens. Alles trägt dazu bei. Z. B. haben Kollegen, die ich verachte, Auszeichnungen bekommen, von denen ich weiter denn jemals entfernt bin. Mein Ruf eines Querkopfs wird sich bestärken, und was es etwa Gutes in mir geben mag, wird mir als Fehler angerechnet werden. Hundert Diners, in seidenen Strümpfen, mit besternten Dummköpfen, und fünfhundert Whistpartien mit alten Weibern werden kaum genügen, um meinen dummen Streich (seine Reise nach Italien) ein wenig in Vergessenheit zu bringen. Und als Gipfel alles Unglücks, nicht die leiseste Illusion. Fühlen, daß diese Leute da Dummköpfe sind, die in zehn Jahren alle Welt laut verachten wird! Und doch mit ihnen mein Leben zu verlieren! Ich bin sehr unglücklich.

Aber wie ich mir's auch überlege: ich würde meine Reise noch einmal von vorne anfangen, wenn sie wieder zu machen wäre. Nicht, daß ich in der Richtung des Verstandes etwas gelernt hätte. Aber die Seele hat dabei gewonnen. Das Greisentum des Herzens ist mir um zehn Jahre zurückgewichen. Ich habe die Möglichkeit eines neuen Glückes gefühlt. Alle Kräfte meines Wesens sind genährt und gestärkt worden. Ich fühle mich verjüngt. Die trocknen Alltagsmenschen vermögen nichts mehr über mich. Ich kenne jetzt das Land, wo man jene Himmelsluft atmet, deren Existenz sie leugnen; ich bin nun ehern für sie.

 


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