Stendhal
Amiele
Stendhal

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Neunzehntes Kapitel

Amiele und Mademoiselle Volnys

Vierzehn Tage gingen dahin. Fedor war vollkommen glücklich. Sein Glück stieg Tag um Tag; aber Amiele begann sich zu langweilen.

Der Herzog, der sich im »Englischen Hof« einfach Herr Miossens nannte, überschüttete seine Geliebte mit Geschenken. Aber nach acht Tagen ließ sie sich Kleider kaufen, wie sie die Töchter von Kleinstädterinnen tragen; ihre kostbaren Roben und Hüte nach Pariser Geschmack packte sie ein.

»Ich mag auf der Straße nicht angeschaut werden. Es erinnert mich immer an die Commis voyageurs. Gewiß verstehe ich es nicht, wie eine Pariserin zu gehen.«

Sie beging, als geliebte Frau, den Fehler, sich zu wenig um den Geliebten zu kümmern und viel zu wenig mit ihm zu plaudern. Sie machte ihn zu ihrem Literaturlehrer. Die Komödie, in die sie abends gingen, mußte er ihr vor Tisch vorlesen und erklären.

Sie sah die Volnys, die große Pariser Schauspielerin, die ein Gastspiel in Rouen gab und dann nach Le Havre ging.

»Das ist eine Frau,« sagte sie, »die ihre schönen Hüte zu tragen versteht, ohne damit auszusehen, als hätte sie sie gestohlen. Komm, wir wollen nach Le Havre fahren. Ich will Mademoiselle Volnys ordentlich studieren.«

»Ich habe von meiner Mutter die mißliche Nachricht, daß sie sich dorthin begibt. Wenn sie uns sieht . . . heilige Maria!«

»Dann wollen wir noch rasch hin! Sofort!«

Die beiden reisten ab.

Amiele wurde mit Riesenschritten eine Meisterin der Verstellung. Bei ihrer Ankunft in Le Havre fand sie an allen Gasthöfen, vor die sie fuhren, allerlei auszusetzen, bis der Portier des Admirals-Hofes, um das Hotel zu empfehlen, sagte:

»Mademoiselle Volnys, die erste Schauspielerin vom Gymnase, ist bei uns abgestiegen!«

Acht Tage lang saß Amiele regelmäßig in der Orchesterloge des Theaters. Nicht eine einzige Bewegung der Volnys entging ihr. Und stundenlang saß sie im Vestibül des Hotels, um zu beobachten, wie die Künstlerin die breite Treppe herabschritt.

Die Herzogin von Miossens traf in Le Havre ein. Fedor zitterte wie Espenlaub. Eines Tages, als er, am Arm Amielen, die allerdings einen breitrandigen Hut trug, die Pariser Straße, den Korso von Le Havre, hinschlenderte, sah er seine Mutter entgegenkommen. Amiele hatte die Empfindung, Fedor werde vor Angst umfallen; sie verlangte, er solle tapfer an seiner Mutter vorübergehen; aber abends, nach dem Theater, willigte sie ein, wieder nach Rouen zu fahren.

Ohne Amielens Wissen war er bei seiner Mutter gewesen, sie um Verzeihung zu bitten, daß er es nicht gewagt, sie zu grüßen, wegen seiner Begleiterin. Die Herzogin empfing ihn erschrecklich streng. Schließlich wies sie ihm sogar die Tür und warf ihm vor, es sei dreist, sie ohne vorherige Erlaubnis aufzusuchen.

Amiele hatte sich derart gewandelt, daß die Herzogin sie in der nächsten Nähe nicht erkannt hatte, trotz ihrer prächtigen, kaum zu vergessenden Gestalt. Amiele war graziös geworden und hatte die mädchenhafte Eckigkeit verloren.

Zweimal hatte sie an ihre Pflegeeltern geschrieben. Diese Briefe, die der Herzog in Orléans zur Post hatte geben lassen, wiederholten das Märchen von der Erbschaft, das die Hautemares in die Welt setzen sollten.

Vier Wochen blieben Fedor und Amiele in Rouen. Sie langweilte sich gründlich, während der Herzog nunmehr voll echter Leidenschaft war, die seine Geliebte um so mehr anödete. Sie hatte im Herzen nichts als Überdruß. Täglich mußte er ihr vier Stunden lang vorlesen, so daß er fast Lungenschmerzen bekam. Den Anlaß ihrer Mißstimmung ahnte Amiele nicht. Ein paarmal überraschte sie sich, daß sie im Begriffe war, den Herzog nach dem Motiv ihrer gräßlichen Unlust zu befragen. Sie kam rechtzeitig davon ab.

In ihrem sonderbaren Zustande nahm sie ihre Zuflucht zu allerhand Zerstreuungen. Ihr Freund mußte ihr Geometrie beibringen. Diese Laune erhöhte seine Verliebtheit. Die Geometrie hatte ihn gelehrt, daß bloße Worte nicht hoch zu werten sind. Ohne sich klar zu werden, was er dieser Wissenschaft verdankte, war er ihr doch leidenschaftlich zugetan. Und er war glücklich darüber, daß Amiele die Grundbegriffe mit Leichtigkeit erfaßte.

Durch den Einfluß solcher Studien und ihrer fortwährenden Grübelei glich Amiele nicht mehr dem jungen Mädchen, das sie noch vor sechs Wochen war, als sie ihr Dorf verließ. Sie verstand es bereits, den Gedanken, die sie bewegten, Ausdruck zu verleihen.

Sie sagte sich: ›Ein junges Mädchen, das von zu Haus wegläuft, führt sich übel auf. Es muß fortan ihren Lebenswandel verbergen. Und was ist der Grund ihres Betragens? Man will ein vergnügtes Dasein führen. Ich jedoch komme vor Langerweile um. Ich habe die Pflicht vor mir selbst, etwas zu finden, was mir mein Leben lieb und wert macht. Was habe ich jetzt? Abends das Theater und, wenn es regnet, einen Wagen, und alle Tage den Spaziergang in der Allee unter den großen Bäumen, die Seine entlang. Den weiß ich auswendig. Der Herzog meint, es sei unvornehm, durch die Felder zu wandern. ’Wenn wir das tun, wem gleichen wir da?‘ hat er mich gefragt. ’Spießern, die sich amüsieren.‘ Obendrein sagte er mir in einem Tone, der mich ärgert, davon nur zu reden sei gewöhnlich und unschick. Fedor langweilte mich bereits acht Tage, nachdem mir Hans Berville – für mein Geld – beigebracht hatte, was Liebe ist. Jetzt sind es acht Wochen, die wir zusammen sind! Du mein Gott! Noch dazu in diesem verrußten Rouen, wo ich keinen Menschen kenne!‹

Da erleuchtete sie ein Gedanke:

›Als ich ihn nach dem Intermezzo mit den aufdringlichen Krämern, die Don Juans sein wollten, wiedersah, ist mir Fedor liebenswert erschienen. Ich muß ihn auf drei Tage wegekeln!‹

»Lieber Freund,« sagte sie zu ihm, »gehen Sie drei oder vier Tage zu Ihrer Frau Mutter! Ich schulde ihr viel Dank. Und wenn sie je erführe, daß ich es bin, der an dem lüderlichen Leben schuld ist, das Sie hier in Rouen führen, so könnte sie mich für undankbar halten, worüber ich trostlos wäre.«

Amielens Idee von der Undankbarkeit war nicht nach Fedors Geschmack; sie kam ihm inkorrekt vor, denn sie setzte Gleichstellung zwischen ihr und seiner Mutter voraus. Nachgedacht hatte er hierüber noch nicht; dies war eine Selbstverständlichkeit, eine Art mathematische Tatsache: eines Dorfküsters Nichte schuldete einer großen Dame wohl allerlei Rücksicht und Respekt, selbst wenn diese ihr niemals Güte erwiesen hätte, aber von Dankbarkeit oder Undankbarkeit zu reden, dünkte ihm lächerlich. Zudem verspürte er durchaus keine Lust, sich endlosen Strafpredigten auszusetzen. Als aber Amiele ihren Befehl wiederholte, muß er sich wohl oder übel entfernen.

Sowie sie sich allein sah, frei von den ewigen Verliebtheiten und Komplimenten des Herzogs, war Amiele bis zur Tollheit froh. Zuvörderst kaufte sie sich ein paar Holzschuhe, nahm das Wirtschaftsfräulein des Hotels am Arm und sagte zu ihr:

»Kommen Sie mit, liebe Martha! Wir wollen durch die Felder laufen, Weit weg von diesem ewigen Boulevard, den der Teufel holen soll!«

Als die beiden durch das Freie wanderten, auf Feldwegen, zuweilen ohne Weg und Steg, und Amiele ihr Glück in vollen Zügen genoß, sagte Martha:

»Er kommt nicht?«

»Wer?«

»Gewiß suchen Sie doch Ihren Verehrer?«

»Der Himmel bewahre mich vor Verehrern! Meine Freiheit ist mir lieber als sonst was! Haben Sie nicht auch Liebschaften gehabt?«

»Ach ja!« erwiderte Martha leise.

»Und was halten Sie davon?«

»Es ist etwas Köstliches!«

»So? Für mich gibt es nichts Öderes! Alle Welt preist die Liebe als das höchste Glück. In allen Komödien reden die Leute von nichts als von ihrer Liebe, und in allen Tragödien bringen sie sich aus Liebe um. Ich bin anders. Ich möchte, mein Liebhaber wäre mein Sklave. Ich schickte ihn nach einer Viertelstunde ans andere Ende der Welt!«

Martha war starr vor Staunen.

»Aber, Mademoiselle, wo Sie einen so reizenden Freund haben! Neulich sagte jemand, der Sie gut kennt, zu unserer Frau, Herr Miossens habe Sie einem Andern ausgespannt, der Ihnen 1000 Franken im Monat gegeben hätte.«

»Ich wette,« sagte Amiele, »das war irgendein Handlungsreisender.

»So ist's!« bestätigte Martha überrascht.

Amiele lachte hell auf.

»Und ließ er nicht durchblicken, ich hätte ihm meine Gunst und Gnade geschenkt?«

»Ja, ja!«

Martha schämte sich. Amiele lehnte sich an den nächsten Baum und lachte, daß ihr die Tränen kamen.

Bei der Rückkehr nach Rouen wurde sie von den jungen Herren erkannt, die sie alle Abende im Theater gesehen hatten. Martha bekam etliche mit Bleistift hingekritzelte Briefchen nebst je einem Geldstück in die Hand gedrückt. Sie wollte sie Amielen geben.

»Aber nein! Geben Sie sie Herrn Miossens, wenn er wiederkommt! Da bekommen Sie noch einmal Trinkgeld.«

Zur Theaterzeit bedauerte sie einen Augenblick, daß der Herzog nicht da war; dann aber frohlockte sie:

›Unsinn! Wenn ich mir die Sache überlege, verzichte ich lieber auf das Theater, als daß ich ihn mit seinem obligaten Blumenstrauß antreten sehe.‹

Sie suchte rasch die Hotelwirtin auf.

»Wollen Sie mich ins Theater begleiten?« fragte sie diese. »Ich nehme eine Loge.«

Die Frau lehnte zuerst ab; dann nahm sie die Einladung an und ließ einen Coiffeur holen.

›Ach!‹ sagte Amiele zu sich. ›Ich bin der leibhafte Widerspruch!‹

Sie nahm das Stechpalmengrün her und puderte sich die linke Backe damit.

Aber die Loge lag zur Linken. Aller Augen hefteten sich auf Amiele. Und gegen Mitternacht wurden drei lange Briefe im Hotel abgegeben, diesmal mit Tinte geschrieben.

Amiele las sie mit viel Interesse, das sich flugs in Ekel wandelte.

»Das Geschreibsel ist nicht so plump wie das Gerede der Reisenden, dafür recht fad!«

 

Amiele war völlig glücklich und hatte den Herzog beinahe gänzlich vergessen, da erschien er wieder auf der Bildfläche. Es war am dritten Tage.

›Schon!‹ sagte sie sich.

Sie fand ihn geradezu liebestoll, und, mehr noch, er ließ nicht eine Minute ab, ihr mit schönen Reden zu beweisen, daß er liebestoll war.

›Jetzt ist er noch langweiliger als zuvor!‹ dachte die junge Normannin.

Die zweitägige Freiheit hatte Amiele völlig zur Rebellin wider die Langeweile gemacht.

Am nächsten Morgen fing Fedor gleich nach dem Aufstehen an, ihr die Hände zu küssen.

›Dieses Individuum ist vor jedwedem Ereignis in Aufregung‹, sagte sich Amiele. ›Sobald es heißt: Hilf dir selbst! – ist er ein Mensch in zwei Bänden. Er braucht einen Duval.‹

Amiele schickte ihn mit Aufträgen fort. Er mußte die Hotelrechnung bezahlen. Sodann kamen auf ihr Geheiß Tischler, die Kisten bauten, in die alle die hübschen Sachen verpackt wurden, die ihr der Herzog geschenkt hatte. Sie selbst packte ihre und Fedors Koffer.

Wie sie ihn von ihrem Fenster aus gegen 4 Uhr zurückkommen sah, ging sie hinunter und ihm entgegen. Es gelang ihr, ihn zu bewegen, mit ihr die Mahlzeit in M***, einem Dorfe an der Seine, einzunehmen.

Nach der Rückkunft fuhren sie sofort ins Theater. Als es 8 Uhr schlug, sagte sie zum Herzog:

»Hüten Sie die Loge! Ich bin sofort wieder da!«

Sie eilte ins Hotel und ließ die Koffer des Herzogs nach Cherbourg aufgeben. Die Post dahin ging ½9 Uhr ab. Ihre eigenen Sachen ließ sie in die Post nach Paris tragen. Fedor besaß 3100 Franken; 1550 Franken tat sie in seinen, ebensoviel in ihren Koffer. Sie hatte ihm die Geldtasche beim Spiel mit ihm gestohlen.

 


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