Stendhal
Amiele
Stendhal

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Zwölftes Kapitel

Nachrichten aus Paris

Die Herzogin und Amiele lachten noch eine Weile über die ausgestandene Angst und Not, horchten ein paarmal in die tiefe Stille hinaus und schliefen dann ein.

Am anderen Morgen erwachte die Herzogin erst um 9 Uhr. Eine Viertelstunde später hielt sie ihren Sohn in den Armen. Es war am 28. Juli 1830. Fedor war um 7 Uhr eingetroffen, hatte aber verboten, daß seine Mutter geweckt werde.

Er war sehr trübsinnig.

›Wenn die Unruhen weiterdauern, werden meine Kameraden sagen, ich sei ein Drückeberger. Hoffentlich erlange ich von meiner Mutter sofort die Erlaubnis, nach Paris zurückzugehen.‹

Als Amiele den ruhlosen jungen Mann in seiner engen Uniform sah, fand sie, er habe etwas Erbärmliches in seinem Wesen, was ihr unmöglich machte, Kraft und Mut in ihm anzunehmen. Er war schlank und zierlich und hatte ein hübsches Gesicht, aber seine übergroße Angst, für einen Drückeberger zu gelten, raubte ihm in diesem Augenblick jedweden Ausdruck von Entschiedenheit.

›Er sieht genau so nichtssagend aus wie auf dem Bilde, das im Zimmer seiner Mutter hängt, und an dem man nichts als den kostbaren Rahmen bewundert!‹ sagte sich Amiele.

Fedor seinerseits gestand sich in einem Augenblick, in dem ihm sein Gewissen Ruhe ließ:

›Das ist also das kleine Dorfmädel, das sich mit normannischer Schlauheit und wohlberechneten kleinen Diensten die Gunst meiner Mutter zu erwerben verstanden hat und – was noch mehr besagt! – sich auch erhält!‹

Das Milieu, in dem Amiele den jungen Mann zuerst gesehen – es war in der Küche, in Gegenwart der beiden Küstersleute, die betrübt waren, daß die Quelle der kleinen Geschenke versiegen könne, mit denen die Herzogin so freigebig war –, dieses Milieu war ihr allzu bekannt und langweilig, und so hafteten Amielens Blicke immer wieder unwillkürlich an dem schlanken jungen Offizier, der so blaß und verstört aussah.

Dies war also das Miteinanderbekanntwerden Amielens mit Fedor, vor dem der Doktor Sansfin so große Furcht hatte!

Frau Hautemare flüsterte ihrer Nichte immer wieder zu:

»Heiße den jungen Herrn in unserem Hause willkommen! Du bist ja sonst so klug! Rede, sprich mit dem Herrn Herzog! Sonst denkt er gar, wir seien dumme Bauern.«

Amiele bemühte sich vergeblich, ihrer Tante begreiflich zu machen, es sei besser, den Ankömmling unbelästigt zu lassen.

Fedor hörte das alles sehr wohl. Seine schlechte Laune richtete sich auf die beiden Alten. Nacheinander machte er die Wahrnehmung, daß das junge Mädchen entzückendes Haar besaß und ganz allerliebst war, wenn die Landluft sie auch ein wenig gebräunt hatte. Alsdann stellte er bei sich fest, daß sie durchaus nicht den falschen Blick und das süßliche Getue einer Dorfintrigantin aufwies.

Frau Hautemare begab sich alle zehn Minuten hinauf in den Turm, um nachzusehen, ob die Herzogin erwacht sei. Währenddem blieb Fedor allein mit Amiele, und seine jugendliche Sinnlichkeit errang schließlich den Sieg über seine Angst, als schlechter Soldat zu gelten. Er beobachtete sie aufmerksam, und sie sprach mit ihm schon aus Neugier mit eifrigem Interesse.

Da trat Doktor Sansfin in die Küche. Man hätte ihn malen können: er stand da mit offenem Munde und starren großen Augen wie einer, der mitten im Gange zu einer Bildsäule versteinert wird.

›Ein grundhäßlicher Kerl!‹ dachte Fedor bei sich, als er den Buckligen wahrnahm. ›Aber man sagt, dieses Scheusal und dies hübsche kleine Mädel haben meine Mutter in der Tasche. Machen wir beiden den Hof! Sie müssen mir helfen, die Erlaubnis meiner Mutter zur Rückkehr nach Paris zu erringen!‹

Sowie dieser Entschluß gefaßt war, eröffnete der junge Herzog eifrigst eine Wortattacke auf den Arzt. Er begann mit einem übertriebenen Bericht über die ersten Unruhen am 26. Juli mittags im Garten des königlichen Schlosses, in der Nähe des Café Lemblin. Zwei Kriegsschüler saßen just dort, als man die berühmten Ordonnanzen laut verlas. Sie eilten schleunigst in die Kriegsschule und teilten ihren daselbst im Hofe versammelten Kameraden genauestens mit, was sie eben vernommen hatten.

Sansfin lauschte ihm voller Erregung, die sein Gesicht deutlich verriet. Offenbar war er hocherfreut über das Mißgeschick, das den Bourbonen drohte. Die Unverschämtheiten des Adels und der Geistlichkeit waren von ihm, der sich für einen Gott hielt, stark empfunden worden. Seine Phantasie frohlockte im Gedanken an die Demütigungen, die dieses Herrscherhaus erleiden sollte, das es seit einem Jahrhundert mit den Starken wider die Schwachen gehalten hatte.

›Die Bourbonen waren es,‹ sagte er sich, ›die der Klasse, in der ich geboren bin, für alle Zeiten den Namen Canaille gegeben haben! Alles, was Geist hat, ist ihnen verdächtig. Wenn dieser Anfang eines Aufstandes einigermaßen ernste Folgen hat, wenn die lächerlichen Pariser den Mut zum Mute haben, so muß der alte Karl X. abdanken – und die Klasse der Canaille, zu der ich gehöre, kommt einen Schritt vorwärts. Wir entwickeln uns zu einer ehrbaren Bourgeoisie, und die Monarchie wird Mühe haben, sich zu halten . . .‹

Da fiel ihm plötzlich ein, daß er bei der Kongregation einen Stein im Brett hatte.

›Ich bin nahe daran, eine Stelle zu ergattern, sofern ich will! Die Insassen aller Schlösser der Umgegend zahlten gern 50 bis 100 Louisdors, je nach dem Grade ihres Geizes, wenn sie mich dafür an den Galgen kriegten. In Erwartung dieses erhabenen Augenblicks bin ich der gegebene Vermittler zwischen diesen Herrschaften und dem Volke. Ich spiele auf ihrer Angst wie Amiele auf ihrem Klavier. Wie es mir gefällt, kann ich sie vermehren oder beruhigen. Siegen sie in großem Stile, so werden die Hitzigsten unter ihnen (die Mitglieder des Kasinos) bei den anderen durchsetzen, daß ich eingesperrt werde. Hat der Vicomte de Saxile, der junge Mann mit der Hausknechtsphysiognomie, nicht in meinem Beisein zu seinen adligen Kumpanen gesagt: ’Nur ein Jakobiner vermag die Mittel der Jakobiner zum Umsturz mit soviel Behagen und bis ins einzelne darzulegen!‘ Wenn also die Pariser Revolte trotz des Leichtsinns dieser kläglichen Kerle die Bourbonen zum Teufel jagt, so geht mir auch das Glück in Trümmer, an dessen Untergrund ich seit sechs Jahren bei den Pfaffen der ganzen Gegend mühselig baue. Leute anderen Schlages werden die Macht bekommen, und mein Genie wird Wunderdinge verrichten müssen, um sich im Regime der Brutalität einen Platz zu erringen. Triumphiert die Hofpartei, so werden ein paar Dutzend liberale Abgeordnete an die Wand gestellt; ich muß mich nach Le Havre retten, von da vielleicht gar nach England, denn besagter Vicomte wird alles aufbieten, mich festzusetzen. Auf jeden Fall werden sie meine Papiere durchwühlen, um zu erkunden, ob ich mit den Pariser Liberalen in Verbindung stehe. Dieser junge Narr hier will in seine Kriegsschule zurück. Ich muß die Herzogin überreden, daß sie es ihm erlaubt. Ich werde als Hemmklotz mitgehen, ihn nach Paris begleiten. Ich werde seiner Mutter zweimal täglich Bericht schicken; im übrigen werde ich alles aufbieten, mich an die siegreiche Partei heranzuschlängeln. Die Pariser sind ja so dumm, daß sich die Regierung gewiß durch schöne Versprechen aus der Klemme helfen wird. Ist das Volk nicht mehr in Wut, dann kümmert es sich um nichts mehr. Und es dauert keine acht Tage, daß sich die Pariser abkühlen. Für diesen Fall werde ich mir die Gunst der Kongregationshäupter erwerben und als ihr Abgesandter nach Carville zurückkehren. Dann bringe ich all den Schwachköpfen der Partei bei, daß Herr von Saxile ein Heißsporn ist, imstande, den ganzen Brei zu verderben. Zum mindesten rette ich mich damit vor dem Gefängnis, in das mich dieser Schuft bringen möchte. Kurz und gut, ich muß das dumme Kerlchen beschwatzen, mich zu seinem Reisebegleiter zu machen!‹

Gesagt, getan! Alsobald begann Sansfin dem jungen Herzog zu schmeicheln, indem er den Geist der Kriegsschule ordentlich in den Himmel hob. Er pries die Gründer dieser Anstalt. Das waren Fedors Götter. Sie waren es, die in seinem Herzen den Kampf wider die feudalen Vorurteile leiteten, die ihm seine Eltern sorglichst anerzogen hatten. Er war stolz darauf, Herzog zu sein; ein paarmal am Tage dachte er an seinen Titel, aber hundertmal am Tage war er voller Entzücken darüber, daß er als einer der besten Schüler der Kriegsschule galt.

Als Frau Hautemare endlich erschien und meldete, es werde im Zimmer der Herzogin hell gemacht, sah Fedor in Sansfin bereits einen geistreichen Menschen, und in Amielens Augen wuchs des Doktors Ansehen ob der Geschicklichkeit, mit der er dem jungen Herzog zu gefallen verstand.

Im Augenblick, wo dieser wegging, um den wundervollen Blumenstrauß, den er aus Paris mitgebracht hatte, vor dem Schlafzimmer seiner Mutter abzugeben, gelang es Sansfin, Amielen zuzuflüstern:

»Das Schwierigste in der Welt ist es, jemandem zu gefallen, den man verachtet. Ich weiß wirklich nicht, ob es mir glücken wird, vor diesem Herzöglein Gnade zu finden.«

Fedor begab sich hinauf zur Mutter. Der Doktor hatte Krankenbesuche zu machen. Sodann wollte er von der Herzogin persönlich hören, was ihr ihr Sohn gesagt. Selbstverständlich sollte das unter vier Augen geschehen, denn bei dieser Gelegenheit gedachte er sie dahinzubringen, ihn mit Fedor nach Paris zu entsenden.

Aber als er nach einer Stunde zurückkam, fand er die Herzogin in Tränen, einem neuen Nervenchok nahe. Von der Rückkehr ihres Sohnes wollte sie nichts hören. Bei jedem Wort, das sie sprach, klammerte sie sich geradezu hysterisch an ihn.

Sie sagte zu ihm:

»Entweder ist der Aufstand in Paris belanglos, dann wird deine Abwesenheit gar nicht weiter bemerkt. Du hast eben deine kranke Mutter besucht. Nichts ist natürlicher! Oder aber der Aufstand geht so weit, daß die 30 000 Mann aus St. Omer, die auf Paris marschieren, herangeholt werden. In diesem Falle will ich nicht, daß ein Miossens im Lager der Feinde des Königs stehe. Deine Laufbahn wäre für immer vernichtet. Und da ich bei Fragen von Bedeutung deinen Vater ersetze, so befehle ich dir feierlich, du bleibst hier!«

Dies sagte sie in ziemlich energischem Tone. Sodann ersuchte sie ihren Sohn, da er die ganze Nacht in der Post gesessen habe, sich im Schloß zu Bett zu legen und zwei Stunden auszuruhen.

Als sie mit Sansfin allein war, sagte sie:

»Unsere armen Bourbonen sind wie gewöhnlich Opfer des Verrats. Sie werden sehen, daß die Truppen von St. Omer von den Jakobinern gewonnen werden. Diese Leute arbeiten mit Mitteln, die unerklärlich sind, mir wenigstens. Ein Beispiel! Sagen Sie mir, verehrter Doktor, auf welchem Wege hat Hautemare gestern abend um 9 Uhr erfahren, daß mein Sohn aus Paris hierher beordert war? Ich habe keiner Seele etwas von dem Briefe anvertraut, den ich dem Eilboten des Herzogs von Larochefoucauld mitgegeben hatte. Mein Sohn hat mir soeben den Brief gezeigt. Wir haben das Siegel eine Viertelstunde lang genauestens untersucht; es war unversehrt, als Fedor den Brief erhielt.«

Sansfin verstand es, die Nerven seiner Patientin einzuschläfern. Darin war er Künstler. Er wußte, worauf es ankam. Durch Fedor wußte er, was die Herzogin über den Aufstand in Paris erfahren hatte. Sie kam ihm wie eine gereizte Löwin vor. Nun lag es in seinem Interesse, dem Dorfe fernzubleiben, bis das Endergebnis der Revolte in Garville bekannt wurde.

Die Herzogin kam bald auf einen Einfall. Ihr Sohn war sehr erholungsbedürftig. Wie alle Kriegsschüler hatte er zuviel gearbeitet. Er solle vierzehn Tage an die See; aber nicht nach Dieppe, das durch die Herzogin von Berri bei den Jakobinern in schlimmen Ruf gekommen war, sondern viel richtiger nach Le Havre. Die Sorge um die vollen Warenspeicher war der beste Schutz, im Falle, daß die Jakobiner Erfolg hatten. Blieb aber der Hof am Ruder, was Doktor Sansfin für das wahrscheinlichste hielt, so konnten die bösen Zungen der Nachbarschlösser die kleine Reise der Herzogin unmöglich für lächerlich halten. Fedors Magerkeit und Blässe bewiesen genug, daß er überarbeitet war. Zudem herrschte drückende Hitze. Was war natürlicher als daß der Arzt einen Aufenthalt an der See angeordnet hatte? Dieppe kam nicht in Frage, weil die Toilette der Herzogin erst aus Paris hätte vervollständigt werden müssen. Schließlich hatte Fedor schon oft den Wunsch geäußert, einmal ein paar Tage nach England zu gehen; eine längere Reise gestattete ihm sein Studium nicht. Gut! Von Le Havre sollte er acht Tage nach Portsmouth fahren.

 


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