Stendhal
Amiele
Stendhal

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Fünfzehntes Kapitel

Die Liebe im Walde

Während der folgenden Monate langweilte sich Amiele jedesmal, wenn sie im Hause ihres Onkels verweilte. Aus diesem Grunde verbrachte sie ihre freie Zeit in Wald und Flur. Von neuem begann sie über die Liebe nachzugrübeln. Indessen waren ihre Gedanken keineswegs gefühlvoll. Es war lediglich Neugier, die sie bewegte.

Die Redeweise, deren sich die Tante bediente, um Amiele vor den Gefahren der Verführung zu warnen, hatte durch ihre Geschmacklosigkeit den größten Erfolg. Der Ekel, den sie damit in ihr erweckte, übertrug sich auf den Begriff, den sie von der Liebe hatte.

Eines Tages sagte Frau Hautemare:

»Da es bekannt geworden ist, daß die schönen Kleider, die ich Sonntags in der Kirche trage, von dir sind, so werden die jungen Männer wohl vermuten, und nicht zu Unrecht, daß dir die Frau Herzogin eine Ausstattung schenken wird, wenn du einmal heiratest. Infolgedessen werden sie versuchen, wenn sie dich allein antreffen, dich zu umarmen.«

Diese letzten Worte erregten Amielens Wißbegier.

Eines Tages, auf dem Rückweg von einem Nachmittagsspaziergang, begegnete ihr ein junger Bursche, den sie flüchtig kannte. Er kam von einer Hochzeit in einem Nachbardorfe, wo viel Apfelwein getrunken worden war.

Er sprach Amiele an und schickte sich an, sie zu umarmen. Sie ließ sich, das gemütlichst gefallen. Dies erregte ernstliches Begehren in ihm. Da stieß ihn Amiele derb von sich. Und als er sich von neuem ihr nahte, machte sie ihm eine Faust und lief weg. Er war zu bezecht, um ihr nachlaufen zu können.

›Was?‹ sagte sich Amiele. ›Ist das alles? Er hatte eine weiche Haut und nicht so harte Lippen wie der Onkel, dessen Kuß weh tut.‹

Aber schon am anderen Tage kam die Wißbegier von neuem über sie. Sie grübelte darüber nach, daß die Umarmung eines jungen Mannes so wenig Spaß mache.

›Es muß noch etwas dabei sein‹, sagte sie sich. ›Das habe ich bloß noch nicht verspürt. Sonst würde der Pfarrer nicht ineinemfort diese Sünde verbieten!‹

Hautemare hatte eine Art Famulus für die Arbeitsstunden, namens Hans Berville, einen großen semmelblonden Tölpel von zwanzig Jahren. Er hatte einen kleinen runden Kopf, der zu seinem ungeschlachten Körper gar nicht paßte; sogar die Kinder lachten über ihn. Wenn er Amiele sah, zitterte er wie Espenlaub.

An einem Feiertage sagte sie nach Tische zu ihm:

»Alles ist beim Tanz. Wir wollen uns am Kreuz im Dorfe treffen. Geh immer allein hin! In einer Viertelstunde komme ich nach.«

Hans setzte sich in Marsch. Am Kreuz setzte er sich auf einen Stein, ohne sich etwas Besonderes zu denken.

Amiele kam.

»Komm! Wir gehen in den Wald spazieren!«

Der Pfarrer hatte den jungen Mädchen insbesondere verboten, im Walde spazierenzugehen.

An einem lauschigen Platze, inmitten hoher Bäume, hinter einer Hecke, sagte Amiele zu Hans:

»Umarme mich! Küsse mich!«

Hans tat es. Er war über und über rot. Amiele wußte nicht, was sie ihm weiter sagen sollte. Eine Viertelstunde lang saß sie nachdenklich da. Dann sagte sie zu Hans:

»Wir wollen gehen! Du machst einen Umweg, über Charnay hinaus, und sagst keinem Menschen, daß wir im Wald spazierengegangen sind!«

Hans, knallrot, gehorchte.

In den nächsten Tagen, im Schulhause, sah er Amiele viel an. In der Woche darauf war der erste Montag im Monat, Amielens Beichttag.

Sie beichtete dem Pfarrer den Spaziergang im Walde; es fiel ihr nicht ein, ihm irgend etwas zu verheimlichen, aus glühender Wißbegierde.

Der biedere Pfarrer machte ihr eine fürchterliche Szene, erweiterte aber Amielens Wissen in keiner oder so gut wie keiner Weise. Drei Tage darauf ward Hans Berville fortgeschickt, und der Küster behielt seine Nichte immer im Auge. Einer Bemerkung, die Hautemare fallen ließ, entnahm Amiele, daß sie des Burschen Verbannung verschuldet hatte. Sie suchte ihn. Nach acht Tagen fand sie ihn. Er fuhr für einen Nachbarn einen Karren.

Amiele lief ihm nach und gab ihm zwei Goldstücke. Verwundert schaute er sich um, und als er auf der Landstraße keinen Menschen erblickte, gab er Amiele einen Kuß. Sein Stoppelbart stach sie; sie stieß ihn derb zurück, war aber entschlossen, sich Aufklärung über die Liebe zu verschaffen.

»Komm morgen abend um sechs in den Wald!« sagte sie zu Hans. »An die Stelle, wo wir am vorigen Sonntag waren! Ich werde dort sein.«

Hans kratzte sich hinter dem Ohr.

»Das ist so eine Sache!« meint er, blöde lächelnd. »So zeitig bin ich morgen nicht fertig. Morgen muß ich nach Mery fahren. Vor acht komme ich da nicht zurück. Ich bekomme den Tag 2 Taler . . .«

»Wann bist du einmal frei?« fragte Amiele energisch.

»Am Dienstag!« erwiderte Hans. »Das heißt, genau weiß ich es nicht. Und bezahlt werde ich immer erst, wenn alles gemacht ist. Wenn ich meine kleinen Einnahmen nicht beeinträchtigen will, Fräulein Amiele, so wäre der Mittwoch am sichersten.«

»Abgemacht! Ich werde dir 3 Taler geben. Also Mittwochabend Punkt sechs im Busch!«

»3 Taler! Oh, wenn das Fräulein es wünscht, kann ich auch schon morgen abend da sein, Schlag sechs!«

»Meinetwegen morgen!« sagte Amiele, ärgerlich über die viehische Habgier.

 

Am folgenden Tage traf sich Amiele mit Hans im Walde. Er hatte seinen Sonntagsanzug an.

»Küsse mich!« befahl sie.

Hans küßte sie. Sie bemerkte, daß er sich ihrem Wunsche gemäß hatte rasieren lassen. Sie lobte ihn deswegen.

»Das ist doch selbstverständlich!« meinte er lebhaft. »Sie sind meine Gebieterin! Fräulein, Sie zahlen gut und Sie sind so hübsch!«

»Du hast recht!« sagte Amiele. »Ich will deine Liebste sein!«

»Das ist etwas anderes!« erklärte Hans pflichtschuldigst, und ohne weiteres, ohne Zärtlichkeit, machte er, der junge Normanne, Amiele zu seiner Liebsten.

»Ist das alles?« fragte sie.

»Ja!« erwiderte er.

»Hast du schon viele Liebsten gehabt?«

»Drei!«

»Und es ist nichts weiter dabei?«

»Das ich nicht wüßte!« bestätigte er. »Soll ich wiederkommen, Fräulein?«

»Ich werde es dir heute in vier Wochen sagen. Aber nicht plaudern! Mit niemandem darüber reden!«

»So dumm bin ich nicht!« rief Hans, und sein Auge leuchtete zum ersten Male.

 

›Was?‹ wiederholte sich Amiele voll Erstaunen. ›Die Liebe ist weiter nichts als das!? Und das verbietet man? Aber ich betrüge den braven Hans. Um mich hier wiederzutreffen, versäumt er am Ende Arbeit und Lohn.‹

Sie rief ihn zurück und gab ihm noch 2 Taler. Er dankte ihr überschwenglich.

Amiele setzte sich und schaute ihm nach. Dann lachte sie laut auf und sagte abermals zu sich:

›Was? Die berühmte Liebe ist weiter nichts als das!‹

 


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