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Am letzten Tage, an dem die Mission zu Carville predigte, füllten die Adligen, denen der Schreck von 1793 noch immer in den Gliedern lag, und reich gewordene Bürgerliche, die so taten, als gehörten sie dazu, das hübsche gotische Pfarrkirchlein in edlem Wettstreit. Es hatten aber nicht alle Gläubigen darin Platz. Über tausend Leute standen draußen im Friedhof. Auf Geheiß des Abbé Dusaillard waren die Kirchentüren ausgehoben worden, und so drangen hin und wieder Bruchstücke der Predigt hinaus zu der ungeduldigen, leise schwatzenden Menge.
Es hatten bereits zwei Redner gesprochen. Der Tag neigte sich, ein trübseliger Tag im späten Oktober. Ein Chor von sechzig frommen Jungfrauen, vom Abbé Lecloud einstudiert und dirigiert, trug einen besonders ausgesuchten Wechselgesang vor. Als sie geendet, war es vollkommen dunkel. Da bestieg der Abbé Lecloud die Kanzel, um ein erhebendes Schlußwort zu sprechen. Sowie er damit begann, drängte die Menge von draußen gegen den Eingang und an die unteren Kirchenfenster, von denen etliche eingedrückt wurden. Gläubiges Schweigen brütete über der Versammlung. Jedermann wollte den berühmten Kanzelredner hören.
Der Abbé redete an diesem Abend geschwätzig wie ein Blaustrumpfroman. In erschrecklichster Weise schilderte er die Hölle. Seine drohenden Worte hallten durch die dunklen gotischen Gewölbe. Kaum wagte man zu atmen.
Der Abbé schrie förmlich: der Teufel sei jederzeit allgegenwärtig, sogar am heiligsten Ort. Damit gedachte er die Gläubigen zu sich in seine Schwefelhölle zu reißen.
Mit einem Male hielt er inne, um sodann mit unheimlicher, banger Stimme aufzukreischen:
»Die Hölle, in dem Herrn Geliebte!«
Der Eindruck dieses qualvollen Rufes, der durch die finstere Halle der Kirche voller sich bekreuzigender Gläubigen gellte, war unbeschreiblich. Ich selbst fühlte mich ergriffen. Der Abbé starrte auf den Altar, als warte er auf irgend etwas. Und kreischend rief er zum anderen Male:
»Die Hölle, Geliebte in dem Herrn!«
Zwei Dutzend »Frösche« gingen hinter dem Altar los und übergossen die todblassen Gesichter mit blutrotem Höllenlicht. In diesem Moment empfand bestimmt kein Anwesender Langeweile. Ein halbes Hundert Frauen fielen ohnmächtig ihren Nachbarn in die Arme. Frau Hautemare, des Küsters Frau, lag leblos da. Und da sie unter den Frauen des Dorfes als Allerfrömmste galt, bemühte man sich allgemein um sie. Ein Haufen Jungens lief zum Küster. Unwirsch wies er sie fort. Die Pflicht hielt ihn auf seinem Posten. Er war eifrigst dabei, auch die winzigsten Reste der Platzpatronen aufzulesen und beiseite zu bringen.
Dieser Auftrag war ihm von Herrn Dusaillard, dem gefürchteten Seelenhirten des Dorfes, gegeben und mehr als einmal erläutert worden, und Hautemare hütete sich, dagegen zu verstoßen. Der Pfarrer war es hauptsächlich, dem der Küster seine Stellung verdankte; er erbebte, wenn er ihn nur die Stirn runzeln sah.
Der Pfarrer hatte seine Herde von der Orgelempore aus im Auge. Und wie er merkte, daß alles gut gegangen war und aus keinem Munde das Wort »Frösche!« laut ward, da lenkte er seine Schritte nach dem Kirchhofe. Mich dünkte es, er war ein bißchen eifersüchtig auf den Bombenerfolg des Abbé Lecloud.
Der Missionsprediger verfügte nicht über die Macht, im passenden Augenblick zu strafen oder zu belohnen und jedweden fremden Willen zu knebeln wie der Pfarrer. Dafür besaß er eine Redegewandtheit, über die jener nicht im entferntesten verfügte. Der Pfarrer gestand sich seine Unterlegenheit nicht ein.
Als er so viel Volk im Friedhofe sah, vermochte er der Versuchung nicht zu widerstehen. Er kletterte auf den Sockel des Kirchhofkreuzes und hielt seinerseits eine Ansprache an seine Herde. Was mich bei seiner Rede stutzig machte, war, daß er es vermied, den eben erfolgten Feuerzauber am Altar Wunder zu nennen. Er sagte sich, derlei dürfe man erst ein halbes Jahr später offen als Wunder bezeichnen.
Während seiner Rede horchte er gespannt, ob er nicht doch das Wort »Frösche« oder einen der heiligen Stätte unwürdigen Witz vernähme. Seine derart geteilte Aufmerksamkeit trug nicht dazu bei, in ihm zu entflammen, woran es ihm schon sowieso ermangelte: die Inspiration. Er ward mißlaunig und fing an, sich die räudigen Schafe herauszuholen. Der Ingrimm brachte seine Worte etwas in Feuer. Seine Blicke entflammten insbesondere über drei Individuen, die inmitten der frommen Weiber im Friedhofe standen.
Der arme Pernin, ein Mann mit schwindsüchtigem Gesicht, starrte den Pfarrer in einer Weise an, die diesem lästig war. Der blasse junge Mann war ehedem Mathematiklehrer an einem Königlichen Gymnasium gewesen; man hatte ihn weggejagt, weil der Anstaltsgeistliche erklärt hatte, Mathematiker seien Atheisten. Er hatte sich dann nach Carville geflüchtet, zu seiner unvermögenden Mutter. Er erteilte etlichen Kindern den ersten Rechenunterricht. Entdeckte er an dem oder jenem Buben die nötige Begabung, so unterwies er ihn unentgeltlich in der Geometrie.
Der Doktor Sansfin sandte ihm einen siegesfrohen Blick zu. Den reizsamen Pfarrer schüttelte es. Die kluge Opposition des Mediziners nötigte ihn zu allerhand Konzessionen. Der Gottesmann fand, Sansfin sei viel zu selbstherrlich; offenbar suchte er nach Gelegenheiten, ihn in eine jener Verschwörungen zu verstricken, die damals an der Tagesordnung waren. Er hielt ihn zu allem fähig; es kam ihm nur auf eines an: seinen Buckel von den Dorfschönen, denen er in unverschämter Art und Weise den Hof machte, als nebensächlich betrachtet zu sehen. »Das ist die Sorte Leute,« meinte Dusaillard bei sich, »die imstande ist, das gottlose Wort ›Frösche!‹ in die Gemeinde zu schleudern. Geschieht es jetzt, so ist die ganze Sache im Nu zuschanden gemacht. In vier Wochen brauchen wir keine Angst mehr zu haben!«
Des Pfarrers Wut erreichte ihren Höhepunkt, als er keine zehn Schritte vor sich auch noch den ironischen verwunderten Blick eines städtischen Schülers auffing. Es war Fedor von Miossens, der einzige Sohn der Herzogin.
»Der Pariser Bengel!« murmelte der Pfaffe. »Aus dieser Brutstätte des Spottes ist noch nie etwas Gutes gekommen. Dicht am Altar ist der Ehrenplatz seiner Familie. Möglicherweise hat er die Zündschnur bemerkt. Er braucht bloß ein Wort fallen zu lassen, und die dummen Bauern, denen die Miossens halbe Götter sind, plappern es nach wie ein Orakel!«
Diese Überlegungen brachten die Beredsamkeit des Pfarrers schließlich gänzlich aus dem Geleise. Obendrein gewahrte er, daß die Weiber den Kirchhof in Masse verließen. Also mußte er wohl oder übel seine Kapuzinade abbrechen, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, am Ende vor dem leeren Platze zu predigen.
Eine Stunde später war ich Zeuge, wie der grimmige Dusaillard dem jungen Kaplan Lamairette, Fedors Erzieher, die schrecklichste Szene machte. Er stellte ihn auf das Schärfste zur Rede, weil er sich in der Kirche von seinem Zögling getrennt habe.
»Er ist mir entwischt, Herr Pfarrer!« stotterte der arme Kaplan schüchtern. »Ich habe ihn allerorts gesucht. Gewiß sah er mich auch, aber er wollte mir absichtlich fern bleiben.«
Der Pfarrer kanzelte ihn nach allen Regeln der Kunst ab, wobei er sogar mit der Ungnade der Frau Herzogin drohte.
Der verängstigte junge Mann stammelte:
»Herr Pfarrer, damit brächten Sie mich um mein Brot! Wenn mir auch noch die gnädige Frau Vorwürfe macht, weiß ich mir nicht mehr zu helfen. Was kann ich im Grunde dafür, wenn der kleine Graf, dem sein Diener von früh bis abends vorhält, er werde dermaleinst Herzog und steinreich sein, ein kleiner Schelm ist, dem es den größten Spaß macht, mich zum besten zu haben?«
Diese Antwort gefiel mir. Ich erzählte sie der Herzogin wieder und brachte sie zum Lachen.
Pfarrer und Kaplan redeten weiter.
»Ich möchte am liebsten wieder zu meinem Vater, der im herzoglichen Palast in Paris Pförtner ist, und meinen Ehrgeiz darauf beschränken, sein Nachfolger zu werden.«
»Sie frecher Jakobiner!« schrie der Pfarrer. »Wer bürgt Ihnen dafür, daß Sie sein Nachfolger werden, wenn ich Ihnen das Genick breche?«
»Der Herr Herzog ist mir gnädig gesinnt!«
Dem kleinen Kaplan standen die Tränen in den Augen; er mußte alle Kraft zusammennehmen, um seine tiefe Erregung vor seinem schrecklichen Berufsgenossen zu verbergen.
Fedor war gekommen, um die reine Luft seiner Heimat vierzehn Tage zu genießen. Er sollte mit Macht gescheit werden. Zu diesem Zwecke kamen täglich acht Lehrer, ihn zu unterrichten. Übrigens hatte er bei seiner schwächlichen Gesundheit Erholung recht nötig. Gleichwohl mußte er am zweiten Tage nach dem Wunder nach Paris zurück. Der einstige Erbe so vieler schöner Besitztümer durfte somit nur drei Tage im Schlosse seiner Väter übernachten. Das war das Werk des Pfarrers. Wir, Lecloud und ich, lachten. Es war dem Pfarrer nicht leicht geworden, die Herzogin zum Nachgeben zu bewegen. Er sah sich genötigt, mehr denn einmal das allgemeine Interesse der Kirche ins Spiel zu ziehen.
Er fand die Herzogin außer sich. Die »Frösche« hatten sie zu Tode erschreckt. Im ersten Augenblick hatte sie einen neuen Aufstand der vereinten Jakobiner und Bonapartisten zu erleben vermeint. Wieder im Schlosse, entdeckte sie einen zweiten Anlaß, im höchsten Maße ungehalten zu sein. In der Aufregung über den Feuerzauber hatte sich ihr falsches Haar verschoben, und eine Stunde lang waren etliche Silbersträhne sämtlichen Dorfbewohnern unverdeckt zur Schau gestellt gewesen, sodann den Dienstboten, die zuvörderst getäuscht werden sollten.
»Warum haben Sie mich nicht ins Vertrauen gezogen?« sagte sie in einem fort zum Pfarrer. »Ist es recht, daß man in meinem Dorfe etwas ohne mein Wissen tut? Gedenkt die Geistlichkeit, ihren sinnlosen Kampf gegen den Adel wieder aufzunehmen?«
Es war ein weiter Schritt von diesem Grad der Empörung bis zur Zurücksendung Fedors nach Paris. Der Ärmste, der so blaß aussah und so glücklich war, im Park herumzutollen und aufs Meer hinauszuschauen! Trotzdem gewann Dusaillard die Oberhand.
Der Junge fuhr betrübt wieder ab, und der Abbé Lecloud sagte zu mir:
»Dieser Dusaillard kann nicht reden, aber er versteht es, die Kleinen zu behandeln und die Mächtigen herumzukriegen, was beides gleich wertvoll ist.«
Während Fedors Abreise das Schloß beschäftigte, hatte Frau Hautemare, des Küsters Ehefrau, eine ernste Unterredung mit ihrem Manne. Dies ward alsbald der Herzogin getreulich hinterbracht; sie fand so viel Spaß daran, daß sie ihres Sohnes Weggang vergaß.
Hautemare versah als Küster, Kantor und Schulmeister drei Ämter, die alle mit der Kirche in Verbindung standen. Sie trugen ihm monatlich insgesamt 20 Taler ein. Im zweiten Jahre der Regierung Ludwigs XVIII. (1816) hatten der Pfarrer und die Herzogin ihm die Genehmigung erwirkt, eine Schule für die Kinder der legitimistischen Bauern zu eröffnen. In der Folge hatte das Ehepaar Hautemare anfangs 20, dann 40, schließlich 60 Franken allmonatlich zurücklegen können. Sie wurden wohlhabende Leute.
Ehrenmann, der er war, hatte Hautemare der Herzogin den Namen eines Jakobiners verraten, eines Bauern, der sich erdreistet hatte, Hasen wegzuknallen. Überzeugt, daß sämtliche Hasen der Gegend zu ihren Fluren gehörten, faßte sie den Hasenmord als persönliches Attentat auf.
Diese Denunziation hatte des Küsters und seiner Schule Glück begründet. Die Herzogin geruhte im großen Saale des Schlosses eine Preisverteilung abzuhalten. Sie ließ den Raum festlich schmücken und Stuhlreihen aufstellen in zwei Abteilungen. Der Haushofmeister lud die Gutsbesitzersfrauen, die Mütter von Schuljungen waren, auf den ersten Platz ein; die gewöhnlichen Bauernfrauen auf den zweiten. Hatte bis dahin die Schülerzahl ein Dutzend betragen, so stieg sie jetzt auf ein Schock. Zugleich stieg das Vermögen des Schulleiters; und so war es nicht lächerlich, daß Frau Hautemare am Tage des Feuerzaubers nach dem Abendessen zu ihrem Manne sagte:
»Es ist dir wohl nicht entgangen, daß der Herr Abbé Lecloud gegen Ende seiner Ermahnung von der Pflicht der Reichen gesprochen hat? Je nach ihrem Vermögen sollen sie Gott eine Seele darbringen. Diese Worte lassen mir keine Ruhe. Der liebe Gott hat uns Kinder versagt. Wir machen beträchtliche Ersparnisse. Wem fallen sie dermaleinst zu? Werden sie zu erbaulichen Dingen verwendet werden? Wessen Schuld wäre es, wenn dies Geld in die Hände übelgesinnter Leute kommt, z. B. in die Hände deines Neffen, dieses gottlosen Menschen, der 1815 in einem jener Räuberregimenter, ›Freikorps‹ genannt, gegen die Preußen marschiert ist? Es wird sogar gemunkelt (woran ich aber nicht glauben mag), er habe einen Preußen erschossen . . .«
»Nein, nein!« unterbrach sie der biedere Hautemare. »Das ist nicht wahr! Einen Verbündeten unseres vielgeliebten Königs Ludwig gemordet! Nein, nein! Mein Neffe ist ein Tollkopf. Wenn er einen sitzen hat, ist er ein Lästermaul. Ich gebe auch zu: in die Messe geht er selten. Aber einen Preußen hat er nicht getötet!«
Frau Hautemare ließ ihren Gatten eine Stunde lang über diesen Gegenstand weiter schwatzen, ohne ihm die Gnade einer Widerrede zu gönnen. Als sie der Rederei überdrüssig war, sagte sie endlich:
»Das beste wäre, wir nähmen ein kleines Mädchen an Kindesstatt an, erzögen es in Gottesfurcht und brächten damit dem lieben Gotte buchstäblich eine Seele dar. Und in unseren alten Tagen hätten wir eine Stütze.«
Der Vorschlag machte sichtlich tiefen Eindruck auf ihren Ehemann; hieß dies doch, seinen Neffen Wilhelm Hautemare, einen Träger seines eigenen Namens, enterben. Er sträubte sich umständlich dagegen; schließlich aber meinte er kleinlaut:
»Dann wollen wir wenigstens die kleine Yvonne annehmen.«
Das war das Jüngste seines Neffen.
»Dies Kind wäre nie und nimmer wirklich unser«, erwiderte Frau Hautemare. »Sobald der Jakobiner sieht, daß wir sie gern haben, etwa nach einem Jahre, wird er damit drohen, sie uns wieder wegzunehmen. Dann sind die Rollen vertauscht. Dein Neffe, der Jakobiner und Kriegsfreiwillige von 1815, hat die Entscheidung. Es wird uns pekuniäre Opfer kosten, die Kleine behalten zu dürfen.«
Ein halbes Jahr lang quälten sich die beiden Eheleute mit dieser schwierigen Frage ab. Das Ende vom Liede war, daß der biedere Hautemare, versehen mit einem Empfehlungsschreiben des Abbé Dusaillard, in dem er den Titel »Direktor« führte, in Begleitung seiner Frau im Rouener Findelhause erschien.
Sie suchten sich ein kleines vierjähriges Mädchen aus, das vorschriftsmäßig geimpft war und soweit recht nett aussah.
Es war Amiele.
Nach Carville zurückgekehrt, verbreiteten sie, die kleine »Aimable Miel« sei eine Nichte, aus der Nähe von Orléans gebürtig, das Kind eines Vetters namens Miel, Schreiners von Beruf. Die Dorfbewohner ließen sich nichts weißmachen. Und der bucklige Doktor Sansfin meinte, die Kleine sei der Angst entsprossen, die der Teufel ihnen am Tage des Feuerzaubers eingejagt habe.
Es gibt überall gute Menschen, sogar in der Normandie, dort allerdings weit seltener als anderswo. Die Guten von Carville entrüsteten sich, wie sie sahen, auf welche lieblose Weise Hautemares Neffe mit seinen sieben Kindern enterbt ward. So bekam Amiele den Namen »Teufelskind«. Verheult kam Frau Hautemare zum Pfarrer und fragte ihn, ob dieser Name ihnen nicht Unglück bringen müsse. Zornentbrannt drohte ihr dieser, solcher Zweifel mache sie allein schon reif für die Hölle. Er fügte hinzu, er nähme Amiele fortan unter seinen persönlichen Schutz.
Acht Tage später machten die Herzogin und er bekannt, Hautemare richte eine zweiklassige Schule ein. Die Herzogin ließ die Schulbänke mit altem Stoff bekleiden. Das waren die Sitze für die Kinder der Ersten Klasse. Die Zweite Klasse saß auf den rohen Holzbänken. Die Erste Klasse zahlte nicht vier Franken Schulgeld, wie bisher, sondern fünf. Und Fräulein Anselma, der Herzogin erste Zofe, vertraute ein paar Busenfreundinnen an, ihre Herrin habe die Absicht, bei der nächsten Preisverteilung die Mütter aller Schüler der Ersten Klasse auf die ersten Stuhlreihen einzuladen, auch wenn sie nur einfache Bauerfrauen wären.
Ein halbes Jahr darauf mußten beinahe alle Schulbänke mit Stoff bezogen werden. So wurden Hautemares reiche Leute. Sie verdienen es, daß wir uns etwas näher mit ihrem Charakter beschäftigen.
Hautemare war ein Mustermensch, ein grenzenloser Frömmler. Sein Sinnen und Trachten galt einzig und allein seinen kirchlichen Diensten. Stand eins der bemalten Holzgefäße, in denen künstliche Blumen prangten, nicht peinlichst symmetrisch auf dem Altar, so hielt er die ganze Messe für umsonst. Er eilte zum Pfarrer und beichtete ihm sofort diese seine große Sünde. Montags darauf lieferte dies Ereignis den Gesprächsstoff in der Unterhaltung des Küsters und der Herzogin. Sie, die Paris anödete, weil sie dort nicht mehr für jung und schön galt, hatte sich allmählich in Carville eingewöhnt. Als einzige Gesellschaft hatte sie ihre Kammerjungfern und den Pfarrer. Der langweilte sich in ihrer Nähe, und da er Angst hatte, Unklugheiten zu reden, erschien er im Schlosse nur auf Augenblicke. Sonntags, beim Hochamt, beweihräucherte er die Herzogin zuweilen, und jeden Montag hatte Hautemare die Ehre, das Riesenstück geweihten Brotes, das der Sitte gemäß tags vorher der Herzogin auf ihrem Herrschaftsplatz in der Kirche dargereicht worden war, in das Schloß zu tragen. Die große Dame hielt auf dies Stück Brot, den glänzenden, ziemlich einzigen Rest verblichener Ehren, die ihrem Hause seit mehr denn vier Jahrhunderten erwiesen wurden.
Die Herzogin pflegte den Küster, wenn er seine Aufwartung mit dem geweihten Brot machte, auf feierliche Art zu empfangen. Ihr Kammerdiener, den Degen angetan, öffnete beide Flügel der Türe des Empfangssaales, denn an diesem Tage galt der Küster als der amtliche Vertreter des Geistlichen gegenüber dem Patronatsherrn. Ehe Hautemare das Schloß wieder verließ, begab er sich in den Speisesaal, wo ein Gabelfrühstück für ihn bereit stand. Darauf kehrte er ins Dorf zurück und erzählte Hinz und Kunz, sodann seiner Frau und Amielen, was man ihm Feines vorgesetzt, sowie Wort für Wort, was die Herzogin allergnädigst mit ihm geredet hatte. Und abends vor dem Einschlafen besprach das Ehepaar gründlich, wie sie die Almosen, die die Herzogin ihm mitgegeben hatte, verteilen wollten. Durch dieses Vertrauen der Herzogin, und durch den Einfluß, den sich Hautemare durch zwanzigjähriges Katzbuckeln und blindes Gehorchen bei dem ob seines Jähzorns gefürchteten Pfarrer verschafft hatte, war der Küster eine gewichtige Persönlichkeit geworden, vielleicht die gewichtigste in ganz Carville. Man kann wohl behaupten, daß sein Name im ganzen Kreis Avranches berühmt war; man bediente sich seiner Vermittlung auf mannigfache Weise. Seiner Frau gegenüber war er ein Pantoffelheld. Sie war voller Hochmut gegen die Bauern und, wenn das möglich war, noch frömmlerischer als er. Amiele hörte sie in einem fort von Pflichten und Sünden predigen.