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In einer Nacht desselben Septembers 1909, als die Wirbel wieder stärker über den Heiligenhof gingen, betraten vier Studenten vom Korps Silesia das Café Royal in Breslau,, das unter der akademischen Jugend der schlesischen Hauptstadt nur als Café Reudel bekannt war.
Konrad Kaden, im Korps nur Kaka genannt, schob zuerst die rote Portiere zurück und hielt sie mit der Rechten zur Seite. Während er so einen Augenblick wartete, überflog er mit einem Blick de»! vollbesetzten Raum. »Na los«, rief er seinen Kommilitonen zu, die auf der äußeren Schwelle etwas zögerten. »Ihr könnt euch doch nicht draußen etablieren.«
»Gott bewahre«, antwortete eine schnarrende Stimme herein, »dazu brauchen wir dein Köpfchen Kaka.«
Unter allgemeinem Gelächter, daß die Pärchen an allen Tischen aufsahen, schritten die Silesier vollends herein. In der linken, hinteren Ecke war noch ein großer Tisch unbesetzt. Der Kellner machte die jungen Herren darauf aufmerksam und eilte, respektvoll und dienstbeflissen, ihnen voran, klatschte mit der Serviette schnell das weiße Tischtuch ab, rückte es zurecht und stellte dann die Menage, Aschbecher und Klingel in eine korrekte Reihe.
Indessen kamen die Studenten langsam heran.
Es waren Spiegel, stud. jur., ein langer, soldatisch straffer Mensch mit einer fast verletzend wirkenden feudalen Zurückhaltung; Jungmann, der Sohn eines Namslauer Apothekers, blond, sehnig, mit fröhlichem Lachen; Rupprecht, Mediziner im dritten Semester, der Sohn eines verstorbenen Oberlehrers aus Strehlen, der ein fettes, rundes Gesicht, hängende Backen und eine solch nervöse Skrofelnase hatte, daß ihm der Kneifer fortwährend herunterfiel, und der kleine Vierschrötling Konrad Kaden, Sohn eines Rittergutsbesitzers aus dem Grünberger Kreise, der außer seinem ungewöhnlich dicken Kopfe die besondere Eigentümlichkeit besaß, daß er beim Sprechen etwas seitlich mit der Zunge wetzte und ein Sticklacher war. Alle trugen Anzüge von gutem Schnitt, hatten gut gepflegte Hände und befleißigten sich ungezwungen vornehmer Manieren.
Sie hatten sich jeder ein Glas Helles Bier bestellt, stießen an und tranken wie in einem gemeinsamen Anfall der Erschöpfung einen tiefen Schluck, sahen sich dann zum Ulk mit stierem Blick an und brachen in lautes Gelächter aus.
»Eine schwüle Kiste«, sagte Rupprecht in der Stille, die folgte, und fing seinen Kneifer mit der Hand auf.
»Na, und was hast du eben draußen gesagt? Und jetzt soll es plötzlich schwül sein! Ich versteh dich nicht«, so fuhr ihm Jungmann fröhlich in die Parade.
»Na, hör' mal, bitte, an, Jungmann! Du willst mich doch nicht etwa provozieren?« fragte der Mediziner.
»Hilf, Sackpfeife und Sägemehl! Nein, Rups, niemals«, unterbrach ihn Jungmann, »aber sieh mal, unterwegs schon auf der Kneipe hast du doch allerhand schöne Sachen über ihn gesagt. Er sei ein ernster Mensch, nur eben mit den Fehlern einer fast genialen Begabung ...«
»Und dito Wissen«, warf Kaka ein.
»... meinetwegen auch Wissen. Ich weiß von allem nichts, heiße Krause und bitte um mildernde Umstände.«
Man lachte fröhlich und trank wieder.
Dann fuhr Jungmann fort, als er sah, wie sich Spiegel zum Reden anschickte: »Silentium! Die verrückten Sachen, die man ihm nachsagt, kümmern mich auch nichts. Denn ich bin, weiß Gott, kein Duckmäuser. Und wenn er in zwei Jahren auf fünfzig Universitäten umhergeschwirrt wär', statt auf fünf! Jede ist ja doch ein Paradies mit Schlangenfraß ...«
»Pardon, Jungmann, so geht das nicht weiter«, schnarrte jetzt Spiegel dazwischen, »an deinen Worten merke ich, daß leider fast ganz Breslau von der Grabbeschen Art dieses famosen Brindeisener angesteckt ist. So geht das nicht weiter! In einer halben Stunde tritt Vollberg hier mit ihm an, und die Sache ist noch nicht klarer. Ich für mein Teil stimme mit Rupprecht überein, daß wir 'n bißchen, na sagen wir lämmerig dazu gekommen sind, ihn fürs Korps zu keilen. Daß er aus guter Familie ist, mag sein. Mit dem Geld schmeißt er freilich herum. Nicht blöde, das sag' ich nicht. Aber auch nicht immer mit Geschmack.«
Dann erzählte er eine Episode, die er als Unbeteiligter im »König von Sachsen« auf der Albrechtstraße erlebt hatte, wo Brindeisener, einer langen Tafel zusammengewürfelter Studenten präsidierend, ohne jeden Grund die ganze Korona mit Sekt bis zum Halsfingern traktiert habe und endete: »,Der König von Sachsen ist ja ein gutes Lokal, wenn auch nicht erstklassig. Aber Geschmack, wenigstens im Sinne unseres Korps, verrät es nicht.«
»Na, er kann doch nicht Silesier sein, bevor er Silesier ist, sonst braucht er doch nicht erst Silesier zu werden«, entgegnete Rupprecht.
»Wieder Brindeisenersche Paradoxie«, erwiderte nach einem Stutzen Spiegel und lehnte sich abwehrend auf dem Stuhl zurück. »Die Sache mit dem schwangeren Bolzen in Jena, meine Herren, ist Tatsache. Oder weiß es jemand anders? Sehen Sie. Außerdem, er soll ein phänomenaler Fechter sein. Ich hab' mit einem Heidelberger Sueven gesprochen. Ihr kennt ihn, Weibrecht. Er war voriges Semester mal auf einer Korpskneipe. Ja, nichts wahr, ein famoser, klarer Kerl, der noch nie mit der Wimper gekniffen hat. Der hat in Greifswald einen Handel mit demselben Peter Brindeisener gehabt und dabei einen Schmiß gekriegt, der ihm fast das Gesicht gespalten hat. Greulich! Wie mit einem Backscheit gehauen. Ja, dieser Patentfechter Brindeisener ist nichts weiter wie ein wilder Naturschläger. Sagen wir ein Wirbelschmeißer.«
» Ergo: Facit! Ex est!« beendete Jungmann höhnisch. »Also keilen wir ihn nicht! Und dann muß ich noch anfügen: Ich habe noch selten einen Unterlegenen gesehn, der sich nicht damit getröstet hätte, daß er bloß deswegen Dresche gekriegt hat, eben weil er der bessere Fechter war. Ich sage gegen die Sueven nichts.«
»Übrigens, wo ist der ... der ...«, begann Spiegel wieder.
»Pönitent«, flickte Kaka spöttisch ein.
»... auch nicht übel«, setzte der Unterbrochene etwas gereizt fort, wußte aber plötzlich nicht mehr, was er hatte sagen wollen, und schloß daher mit der wiederholten Frage: »Ja, wo ist er also eigentlich her? Das muß doch wenigstens klar sein.«
Endlich kam also auch für Kaden der Augenblick zu längerer Rede. Aber sofort wurde er ein klein wenig befangen und wetzte so mit der Zunge, daß er bei dem halben Ton, in dem die Verhandlung geführt wurde, schwer verständlich war. Die vier neigten also die Köpfe dicht zusammen, und Kaka redete.
»Das weiß ich genau. Er stammt aus der Gegend zwischen Emmerich und Wesel. Also dorther, wo die Rheinländer mehr Friesen oder Westfalen sind. Für mich ist er der Prototyp eines Westfalen. Aber das nebenbei. Sein Vater besitzt dort ein großes Gut, das seit Jahrhunderten in derselben Familie ist. Ich glaube, Hemsterhus heißt der Ort. Er hat mir mal allerhand Sachen aus der Gegend erzählt, in der noch immer Münstersches Wiedertäufertum spukt. Ich sage euch, der Mensch erzählt! Einfach doll!«
»Das interessiert, ist aber nebensachlich, Kaka«, sagte Spiegel kalt, und als ihn Kaden deswegen verweisend ansah, fuhr er begütigend fort: »Natürlich momentan. Lieber. Ich dachte nämlich, du wolltest jetzt die Geschichte erzählen, wie unsere Magnifica mit Tochter von der Unterhaltung Brindeiseners bezaubert waren. Also, bitte, fahr fort, Kakachen.«
»Es liegen sich da in der hügeligen Gegend zwei Güter gegenüber. Beide gleich groß und heißen in der dortigen Gegend die Fremdhöfe.«
In diesem Augenblick traten Vollberg und Peter Brindeisener ein, der letztere voran. Mit einem Blick hatte er die vier eifrig zusammengesteckten Köpfe der Silesier überflogen, die Situation erkannt, und als die Studenten nun wie auf Kommando auffuhren und begrüßend zu den beiden hinsahen, begegneten sie einem spöttischen Lächeln auf dem Gesicht Brindeiseners. Er hatte sich zu der vollen Größe entwickelt, die in seiner Familie üblich war. Seine Schlankheit wirkte durch die ausgeprägte Derbknochigkeit der Gliedmaßen eckig, und doch, wie er sich jetzt, scheinbar schwerfällig, an den Tisch bewegte, lag auf verborgene Weise in jedem Schritt das mühsam beherrschte Aufzucken eines rasanten Sprunges. Ganz so widerspruchsvoll war auch sein Gesicht: die kühn vorgebaute Stirn trug über den Augenbrauen zwei Buckel, wie die Ansätze eines sprießenden Gehörns, dabei lief sie gradlinig in eine seine Nase mit den edelsten Nüstern aus. Die Lippen schmal und brennend rot, ein kalkweißes, starkes Gebiß, wie aus Blut hervorleuchtend; alles zusammen eine fröhliche Grausamkeit. Von der Nasenwurzel gruben sich zwei tiefe Falten zwischen den dichten, fast weißen Brauen gerade in die Stirn hinauf, und zwei Falten, von den Nasenflügeln an den Mundwinkeln leise hinstreichend, fügten in das braungebrannte Gesicht den Zug sarkastischer Melancholie. Das schönste an ihm waren seine großen, unerbittlichstillen, hellblauen Augen, voll eines stählernen Feuers, dabei langsam in den Bewegungen, von einer aufmerksamen Tiefe wie die Äugen Schwerhöriger. Um dieses Gesicht, in dem sich Frechheit und Güte, Scharfsinn und Gemüt stritten, loderten blonde Haare wie ein weißgelbes, unbändiges Feuer.
Vollberg stellte vor: »Brindeisener, stud. phil.«
Der Angekommene verbeugte sich leicht, lächelte fremd, begrüßte Kaden freundlicher und sagte, sich fetzend: »Ja, zur Abwechslung reite ich bei Professor Stern das Luftpferd.«
Dann stieß er einen leisen, nervösen Pfiff aus, guckte nach Vollberg aus, der ihm gegenüber Platz genommen hatte, und steckte auf einen Moment beide Zeigefinger in die Ohren, denn er war leicht angetrunken.
Spiegel hatte von einer Paukerei zu erzählen begonnen, die er mit einem Markomannen ausgefochten hatte. Alle hörten mit halbem Ohr zu, ein wenig irritiert von Brindeisener, der mit schwer beherrschter Langeweile in das Treiben starrte, das sich in allen Sackgassen des Paukkodex verlor und kein Ende nahm. Plötzlich war es mit seiner Duldung aus. Er beugte sich ein wenig zu Vollberg hinüber und sagte:
»Sie glauben das nicht, Vollberg, aber wie sollte jemand Musik dichten, wenn Musik bloß mit den Ohren wahrgenommen werden könnte.«
Zu Spiegel, der wegen der Unterbrechung brüsk aufgefahren war und Brindeisener fragend ansah, sagte er mit leichtem Lächeln: »Pardon, Herr Spiegel.« Dann fuhr er fort, ohne sich weiter an ihn zu kehren: »O nein, wenn wir es auch wissenschaftlich nicht wüßten, daß die Klaviatur des Cortischen Organs nicht ausreicht, die höchsten und tiefsten Töne zu empfinden, ebensowenig wie das Auge alle Farben wahrzunehmen imstande ist ...«
»Verzeihung«, sagte Vollberg, ihn unterbrechend, »wir hatten nämlich unterwegs einen sehr interessanten Disput über Musik im Anschluß an eine Aufführung von Carmen.«
Brindeisener achtete nicht im mindesten auf das mißbilligende Erstaunen, mit dem ihn alle ansahen, trank in einem Zuge sein Bier aus, reichte das Glas dem Kellner und sprach weiter: »... wahrzunehmen imstande ist ... bitte, lassen Sie mich erst den angefangenen Satz vollenden ... jeder unverkünstelte Mensch mit einer seinen, gesunden Natur weiß intuitiv, daß er mit seinem ganzen Körper hört. Unsagbareres, mit einem Wort Wundersameres, als mit dem plumpen Ohrenfell.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Kaden, »wozu hätten wir denn die Ohren.«
»Na, zum Hören natürlich«, erwiderte Brindeisener ruhig. »Ich sage ja auch nicht, daß wir nicht mit ihnen hören; aber zum Auffassen der sublimsten Musik sind sie zu stumpf. Festgestellt ist ja übrigens, daß wir nur mit dem Felsenbein die höchsten Töne wahrnehmen. Denn es ist zwischen einem inneren und äußeren Hören zu unterscheiden.«
Vollberg beugte sich zurück und gab ihm ein Zeichen, abzubrechen.
Aber über Brindeiseners Gesicht zuckte es unwillig, und er fuhr fort zu dozieren, denn er wollte »die langweilige Bande ausräuchern«.
»Die äußerliche Musik, deren Wellen die Luft durchzittern, ist doch nur ein kümmerlicher Versuch, das Unbeschreibliche auszudrücken, das ein unsichtbares Instrument unseres Innern spielt«, sprach er weiter.
Aber im Aufsehen fing er einen verächtlichen Blick Spiegels auf, daß er stutzte.
Es entstand ein momentanes Schweigen, das Spiegel benutzte, indem er mit höhnischem Grinsen sprach: »Also, haha, um auf meinen Markomannen zu kommen, hahaha ...«
»Ach, bitte, lassen Sie doch jetzt die Puppen sein«, schnitt Brindeisener in das beginnende Gelächter.
»Erklären Sie sich, mein Herr, näher. Ich habe wohl falsch gehört«, fuhr Spiegel schnarrend auf. »Sie sagten Puppen.«
»Natürlich, trommelt es falsch in Ihnen? Sie scheinen noch nicht zu wissen, daß Puppen geradeso klingt wie Gemüse, Kohl und Leipziger Allerlei, auch Blech. Wie Sie wollen«, entgegnete Brindeisener, in dem die Rauflust erwachte, mit hauender Stimme und lehnte sich aufreizend bequem zurück. »Selbstverständlich sind die Anwesenden ausgeschlossen. Das heißt, wenn sie wollen.«
In diesem bösen Augenblick flog die Portiere auseinander, und ein bildschönes Mädchen, den kostbaren Hut schief auf dem schwarzlockigen Kopf, sprang förmlich von der Straße herein, glühend und wie auf der Flucht vor einem Schwarm junger Herren, die ihr wie eine hungrige Meute lärmend folgten. Peter Brindeisener, sie erblickend, vergaß sofort alles, reckte sich staunend auf und verfärbte sich.
Die Schöne, die das sah, rief herüber:
»Na, Stiesel, was gibt's denn da weiter?«
Rauschte durchs Lokal und verschwand über die Treppe hinauf ins obere Zimmer, der ganze Schwarm hinter ihr drein.
An allen Tischen entstand ein Aufruhr. Irgend jemand rief: »Das Eiergeschäft auf Reisen.« Darauf brach ein richtiges Gewieher aus. Die Silesier sprangen auch erregt auf, froh, aus der Verwicklung herauszukommen, in die sie geraten waren. »Ein tolles Weib!« rief Rupprecht bewundernd und mit zuckender Nase. »Das reine Feuerhemd!« Mit Gelächter ergriffen sie ihre Sachen und drückten sich durch den Wirbel nach dem oberflächlichen Gruß an Brindeisener, mit dem Studenten sich von trunkenen Kommilitonen verabschieden. Nur Spiegel machte noch einige aufreizende Bemerkungen, ließ sich aber besänftigt zur Tür hinausziehen, weil er die Ansicht seiner Korpsbrüder bestätigt sah, daß sich Brindeisener »die Nase begossen habe, und das vollständig wie ein Enterich«.
So verließen die Silesier das Café.
Brindeisener saß versunken, als sei ihm unversehens ein Tuch über den Kopf geworfen worden. Als er nach einer Weile aufsah, sah er sich allein am Tische, stand auf, trat an das Büfett und fragte den Ausschenker, ob man das Mädchen hier kenne, »die eben mit solchem Getöse von der Straße hereingefallen sei«. Ja, gewiß, lautete der Bescheid, es solle die Tochter eines sächsischen Oberamtmannes sein, die aus ihrer Dresdener Pension entwichen sei und hier in Breslau sofort das Buch genommen habe. Aber sie lasse bis jetzt keinen 'ran.
Peter Brindeisener atmete erleichtert auf und sagte lächelnd: »Schön! Danke. Infolgedessen bringen Sie mir eine Pulle Mattheus Müller.«
Als er das erste Glas Sekt getrunken hatte, versank er wieder ins Brüten, aus dem ihn keines der Dirnlein locken konnte, die entweder von hinten herantraten, sich an ihn drängten, oder ihn gar ins Bein kniffen und ihm allerhand zotige Süßigkeiten zuflüsterten.
Er sagte zu jeder dasselbe: »Nichts zu machen, Eulalia!« und wehrte sie mit einer Handbewegung ab, als vertreibe er zudringliche Fliegen.
Diese dumme Gesellschaft, diese Silesier, die glaubten, er mit seinen vier Semestern sollte etwa bei ihnen antichambrieren! Ja, und warum ihn plötzlich heute, mitten unter diesen zukünftigen Staatsstützen, diese Sache mit seiner Seelenmusik überfallen mußte, und daß unmittelbar darauf dieses schwarzhaarige, wilde, feurige Mädchen hereinstürmen mußte: Brindeisener fühlte wieder eine Hand auf seiner Achsel, hörte aus seiner Versunkenheit jemand zu sich sprechen, winkte mit der Hand ab und murmelte, ohne Heraufzusehen, sein gewohntes: »Nichts zu machen, Eulalia.«
Darauf antwortete ein übermütiges Männerlachen. Als Brindeisener deswegen betroffen herumfuhr, stand Vollberg vor ihm.
»Ich mußte auf dem Nachhauseweg hier wieder am Reudel vorbei«, sagte er und zog einen Stuhl heran, »auf eine Bierlänge, weil ich Sie noch hier vermutete, wollte ich noch einmal 'reinkommen.«
Vollberg druckste an den Worten und wurde verlegen, weil er an Brindeisener merkte, daß dieser spürte, er meine anderes, als was er rede.
» Summa summarum, lieber Herr Vollberg, bemühen Sie sich nicht weiter. Alles war liebenswürdig von Ihnen. Sie sind famos. Aber ich schlachte die Hühner mit einem Ruck. Diese Silesia-Sache mit mir geht nicht. Verstehen Sie mich recht; aber ich unterscheide scharf zwischen Menschen und Leuten. Gott, das sind ja alles geeinzelte Rüben, ohne Wurzel, außer der natürlich von Adam her, für die sie nichts können, und von der sie auch nicht immer den besten Gebrauch machen.«
Brindeisener überhäufte den abtrünnigen Silesier nun mit Liebenswürdigkeiten, lud ihn ein, mit Wem zu trinken, und sprudelte so überstürzt seine geistreichen Einfalle heraus, bekam dabei aber ein immer sorgenvolleres, ja geradezu vergrämtes Gesicht, daß Vollberg dachte, jetzt und jetzt fällt er stocksteif trunken vom Stuhl, und ich habe dann das »Nachhauseschaffen«.
Allein, was Vollberg befürchtete, geschah nicht. Peter Brindeisener näherte sich nur dem Zustand der ersten Nüchternheit im Trunk, den er die »gläserne Zeit« nannte. Dann wurde er und sein Leben vor seinem Verstande durchsichtig. Gewöhnlich stand er jetzt auf und ging nach Hause. Im Angesicht dieses guten Jungen, dieses Vollberg hier, der auf eine so rührende, fast verehrungsvolle Weise an ihm hing, brachte er es heute nicht fertig, davonzugehen.
»Pardon, Herr Brindeisener«, sagte Vollberg, »was war es eigentlich, was Sie bei dem Mädchen vorhin so aushakte, daß wir alle glaubten. Sie seien plötzlich dun?«
Brindeisener sann einen Augenblick vor sich nieder und antwortete dann: »Stellen Sie sich vor, Vollberg, Sie gehen als junger Mulus in der Nacht allein mit einem Mädchen im Walde, das aus der Heimat flüchten muß, weil sich am selben Nachmittag ihr Vater im Walde erhängt hat und es die Schande nicht ertragen kann. Stellen Sie sich vor, das schönste Mädchen, was es gibt, ich mein' in puncto sinnlicher Schönheit. Dieses Mädchen, fast irr vor Scham und verletztem Stolz, nahe am Sterben, gerät am Arm des Mulus plötzlich in eine förmliche Liebesraserei, bebt am ganzen Leibe, schluchzt, wirft sich an seinen Hals und saugt sich mit Küssen fest, die brennen wie flüssiges Blei ... Sehen Sie, Vollberg, das ist die Luft bei uns zu Hause! ... Freilich, den Jungen überläuft's wohl auch. Aber in ihm, in seinem Innersten, spielt das geheimnisvolle Instrument einen Klang, wie ihn sicher nur die himmlischen Geister kennen. Und wie der Mulus eben mit zitternden Fingern den bloßen Leib des Mädchens berührt, wird es weiß in ihm, und der inwendige Engel singt so laut, daß er die Hand zurückzieht und das Mädchen aus der Umarmung gleiten läßt. Denn, Vollberg, Sie mögen es glauben oder nicht, es gibt wahrhaftig Engel auf der Welt. Wahrhaftige Engel ...«
Brindeisener verstummte und saß lange in Verzückung.
Dann ermannte er sich wieder und fuhr fort:
»Und nun geht hier im Café Reudel um zwölf Uhr nachts, hundert Meilen von da, in Schlesien, die Tür auf, und dasselbe Mädchen, aufs Haar dasselbe Mädchen, tritt vor Sie hin. Ist das nicht zum Starrwerden? Teufel noch mal! Und dafür, um all dem Spuk zu entgehen, ist man in den Jahren immer weiter von der Heimat fortgerückt. Damit nicht alles immerfort durcheinandergeht, Tag und Nacht, Himmel und Hölle.
Aber das war ja gar nicht das Mathinklein, das war ja die sächsische Oberamtmannstochter, die ihren Eltern durchgebrannt ist, das Buch genommen hat und es jetzt nicht wagt. Notabene, wenn's wahr ist.«
Brindeisener war ganz ins Selbstgespräch geraten und verstummte nun wieder in sein Brüten hinein.
»Sie sagen Mathinklein, Herr Brindeisener?« fragte Vollberg schüchtern.
»Ja, so hieß das Mädchen aus meiner Heimat. Eigentlich Martha Kathinka Meixner. Ihr Vater war der wildeste Kerl, den ich auf Erden kennengelernt habe.«
Brindeisener richtete sich straff auf und sah wie suchend im ganzen Lokal umher.
»Wissen Sie, Vollberg«, sagte er dann leise, aber wieder so, als sitze er allein und spreche zu dem Studenten wie zu sich, »es mag dumm sein, aber was ist nicht dumm im Leben. Man lüftet einem willigen Mädchen das Kleid und zieht die Hand wieder zurück, aus Scham, aus Stolz, aus Mitleid, aus Furcht vor ihrer Liebe, was weiß ich. Aber kaum ist dieser Anfall der Keuschheit vorüber, so ärgert man sich über die Unterlassung. Gehen Sie nach Hause, mein Lieber. Ich bitte Sie darum, und nehmen Sie mir nichts übel.«
Vollberg stand erschüttert auf und murmelte etwas von Dank, Interesse und Bereitsein zu jedem Dienst. Brindeiseners Gesicht war sehr ernst, keine Spur von Trunkenheit an ihm, außer einem dunkeln, fieberischen Glanz in den Augen. Er schüttele unter nachsichtig-ironischem Lächeln zu den Worten Vollbergs den Kopf, reichte ihm stumm die Hand und sah dem Davongehenden gedankenvoll nach.
Dabei murmelte er, ohne die Lippen zu bewegen: »Halb schläft man, halb ist man wach. Doch beides überhitzt, so daß man im Fieber träumt und lebt und nicht weiß, ob man lebt oder träumt.«
In dem oberen Raum des Cafés entstand plötzlich ein toller Lärm. Männer lachten dröhnend, Weiber kreischten, es wurde aber und abermal in die Hände geklatscht, und Bravorufe ertönten. Zwei Kellner kamen lachend die Treppe hinuntergestürzt und bestellten dringend am Büfett Sekt. »Das ist ja ein toller Rummel heute«, sagte der Ausschenker. »Ja, weiß Gott! Aber fix, fix!« antwortete einer der Kellner.
Brindeisener drehte langsam den Kopf nach der Gruppe, halb auf ihre Worte, halb auf den Lärm über sich horchend. Und wenn es doch das Mathinklein aus Querhoven wäre, sann er, dann könnt' ich heut nachholen, was ich einst versäumt habe. Denn es bleibt einem wohl nichts übrig, als das Gift auszutrinken, das uns das Schicksal eingeschenkt hat, damit endlich die Wasser wieder rein werden. »Also auf, Torero!« Er bezahlte und stieg langsam und spöttisch über sich lächelnd die breite Treppe zur oberen Etage empor. Der Raum war hier durch die einmündende Stiege in zwei ungleiche Teile geschnitten. Brindeisener wandte sich nach dem kleineren, linken Gemach; denn von da her erscholl der Lärm. Durch einen kurzen Gang von drei Schritt Länge näherte er sich der Portiere, die eine Handbreit auseinander klaffte. In dem sonst lauschigen Zimmer war alles in Unordnung geraten. Man hatte die Tische an die Wand gerückt und die Stühle in zwei einander gegenüberliegende Reihen davorgestellt, um einen freien Raum, etwas wie eine längliche Rennbahn, zu schaffen. An der der Tür gegenüberliegenden Schmalseite saß das gesuchte Mädchen, an ihrer Seite je eine hübsche, aber schon ältere Dirne. Auf den Stühlen rechts und links saßen die Herren dieses Geilhofes, junge Lebemänner der besseren Stände, Kleinstadtdurchbrenner, professionierte Unzüchtlinge, welke Bocksgesichter in allen Stellungen der Aufgeregtheit: im Aufspringen, zurückgestemmt, vorgeworfen, in Brunst zusammengekauert. Die Aufmerksamkeit aller aber war auf das dunkelhaarige, schöne Mädchen gerichtet, die offenbar der Brennpunkt dieser Tollheit war. Auf welche Weise, konnte Brindeisener nicht sogleich herausbekommen. Hatte sie getanzt, gesungen, gemimt, man konnte nicht klug werden. Alle Männer waren von höchstem Staunen wie exaltiert. Des Mädchens ganzer Körper wogte, ein einziges Fluten, wie die Wirbel eines kochenden Baches. Dabei glühte ihr Gesicht in den widersprechendsten Affekten: in Begierde und Verachtung, Scham und Lüsternheit, Ekel und Brunst. Die Dirnen sprachen begütigend auf sie ein, zu allem aber schüttelte sie energisch den Kopf. Offenbar wollte sie nicht mehr tanzen oder mimen, oder was sie eben tat. Da sah Brindeisener, daß eine Dirne wie achtlos ihr das Kleid am rechten Bein höher streifte, daß fast der ganze Unterschenkel mit seiner göttlich geformten, hoch angesetzten Wade zu sehen war. Als die Männer dies sahen, brachen sie in wieherndes Bravo aus, und ein ganz blutjunges Bürschlein, ein Offizier in Zivil oder ein Student, sprang in einer Art bacchantischen Taumels sofort von seinem Sitz auf, stürzte einen Kelch Sekt hinunter und näherte sich der Mitte des leeren Raumes. Er war blond, untersetzt, gut gebaut und sehr gut angezogen.
Brindeisener konnte immer noch nicht begreifen, was all das für einen Sinn haben sollte; denn bis jetzt sah es fast aus, als fordere der Jüngling das Mädchen zum Ringen heraus. In der Mitte angekommen, verneigte er sich vor der Schönen, die wieder nickte und sofort eine wehrhafte Haltung einnahm. Ihre Augen funkelten in grausamer Lüsternheit. Sie erblaßte, kniff die Lippen ein, und ihr Busen begann lechzend zu hüpfen. Aber sie raffte das Kleid noch höher und stellte das Bein herausfordernd noch mehr vor.
Der Jüngling hatte bis jetzt stillgestanden, in wollüstiger Gier wie erstarrt. Nun, als sich vor seinen Blicken noch mehr Reize enthüllten, bückte er sich, wo er stand, und hob mit bebender Hand ein blauseidenes Strumpfband auf. Es an die Lippen führend, näherte er sich dem Mädchen, das mit keiner Wimper zuckte und ihn brennend ansah.
Also so verhielt sich die Sache! Dem Mädchen war das Strumpfband vom Bein geglitten, und es ging nun darum, wer es ihr anlegen und sie mit sich nehmen konnte. Der junge Mensch hatte sich auf vier, fünf Schritte dem Mädchen genähert. »Knien!« kommandierte alles erregt. Widerstrebend ließ er sich nieder und schob sich so an das Mädchen heran. Schon hob er die Hand mit dem Strumpfband, es ihr anzulegen. Da erhielt er unversehens einen Tritt vor die Brust, daß er bis in die Mitte des leeren Raumes flog. Darauf brach wieder ein wahres Rasen los, man schrie, klatschte, trampelte, bestellte aufs neue Sekt und ließ das Mädchen hochleben. Der Abgeblitzte lächelte fahl, seine Lippe saß zwischen den Zähnen, der ganze Mensch ein wilder, lüsterner Fluch. Man sah, daß er sich zu einem zweiten Versuch anschickte, und merkte an seinen Bewegungen, daß er zu allem entschlossen sei. Er trank schnell zwei Glas Wein hintereinander und fuhr sich mit den Fingern zwischen Kragen und Hals, um dem versetzten Atem Luft zu schaffen.
Brindeisener merkte, daß das Mädchen jetzt in Besorgnis unruhig wurde, wohl weil sie fürchtete, der Abgeschlagene könne bei dem abermaligen Versuch Gewalt anwenden, und sie heftete ihre Augen auf die Portiere, als sinne sie auf Flucht.
Jetzt los! dachte Brindeisener bei sich, schob sich mit einem Schritt in den Raum und faßte den ratlosen Blick des Mädchens sofort mit seinen Augen. Er sah, wie sie bei seinem Anblick erst förmlich zurückfuhr und dann willig in ihn hineinsank. Dies innere Umfangen währte eine Sekunde. Dann fragte Brindeisener mit einer Kopfbewegung, und sie bejahte mit den Augen. Am Ständer hingen ihr halbseidener Mantel, Hut und Schirm. Brindeisener ergriff alles, legte es sich über den Arm, schritt in den Kreis, hob das Strumpfband auf, und als er sich dem Mädchen näherte, streckte sie ihm schon das schöne Bein entgegen.
Die Männer brausten in einen kurzen Stoß wie eine geprellte Meute auf. Brindeisener, der alle um mehr als Kopfeslänge überragte, reckte sich noch etwas mehr, sah aus seinen kühlen, wilden Augen um sich und sagte in dem Moment der Stille, die entstand, laut zu dem Mädchen: »Ich habe mich etwas verspätet, verzeih!« Dann war er ihr beim Anlegen der Sachen behilflich und führte sie nach wenigen Augenblicken durch den gaffenden Schwarm davon.
Auf der platzartigen Erweiterung der vielfachen Straßenkreuzung blieb das Paar in dem grellen, grämlichen Weißgrün des Gaslaternenlichtes stehen. Brindeisener sah sich nach dem Café um, in dem der Lärm nun im unteren Zimmer ausgebrochen war und unmittelbar an der Tür tobte, als handele es sich darum, widerspenstige Trinker gewaltsam an die Luft zu setzen. Plötzlich flog die Tür wie ausgeangelt auf, und gleich hungrigen Hunden stürzte sich ein Rudel junger Männer heraus: »Wo ist das Aas?« – »Ich klatsch' ihn wie eine Fliege!« – »Dem salz' ich das Fell ordentlich ein!« schrien sie durcheinander.
»Um Gottes willen!« flüsterte das Mädchen, riß Brindeisener in eine vollkommen finstere, enge Gasse und wollte anfangen, rasend zu laufen. Der studentische Fremdhöfer wurde wider seinen Willen einige Schritte mitgerissen, brachte die Ängstliche aber schon in der Mitte der kurzen Gasse mit einem Ruck zum Stehen und sagte lächelnd: »Noch eine Straße in diesem Tempo gesaust, und es kann passieren, wir werden als Einbrecher verfolgt und eingelocht. Also, Mädchen, zieh dir Pomade an die kleinen Füßchen.« Dann lauschte er auf das Gelauf und Geschrei der Verfolger in den benachbarten Gassen. Es verlor sich in verschiedensten Richtungen, und bald war nichts zu vernehmen als das ungestaltete, leise Brummen, das über den Häusern einer schlafenden Großstadt in der Luft hängt. Da und dort klingelte noch eine Elektrische.
Brindeisener schritt lang aus und spürte an dem leichten, bestimmten Schritt des Mädchens, daß es nicht in der Großstadt aufgewachsen war. Sie hing sich schwärmerisch an ihn und preßte immer wieder leidenschaftlich seinen Arm gegen ihren Busen. »Schrecklich«, flüsterte sie plötzlich. »Was?« fragte Brindeisener und blieb stehen. »Schrecklich, meine ich«, sagte sie in heißer Entrüstung. »Warum?« fragte er wieder ruhig. »Na einfach, du sollst mich küssen, küssen. Das ist ja unanständig so! Ich lauf' dir auf der Stelle fort.« Brindeisener nahm die wild Glühende an sich, und sie küßten sich in einen solchen Rausch hinein, daß das Mädchen taumelte, als er sie endlich losließ. »Warum sagst du nicht Peter?« fragte er sie jetzt leise. »Warum?« fragte sie neckisch wieder und lachte überglücklich. »Wahrhaftig, da hast du den rechten Namen. Aber jetzt nicht mehr, jetzt nicht, und dann glaube ich auch nicht. Du dummer Peter!« Sie drängte sich wieder verlangend an ihn. »Und wie soll ich denn heißen. Lieber?« fragte sie in leidenschaftlicher Zärtlichkeit.
»Mathinklein«, antwortete Brindeisener.
»Nein, pfui! Das mag ich nicht! Das klingt zu kitschig. Nein, nein«, entgegnete sie mit der reinsten Backfischempörung. »Nenne mich Wally.«
»Wally, die Zweiflerin«, sagte spöttisch Brindeisener. »Gut, also Wally.«
Und während er sie weiter durch ein Gewirr enger, winkliger Gassen an riechenden Fleischbänken hin, über Plätze und Plätzchen und große, nun auch schon halb erloschene Straßen immer näher an die Oder geleitete, begann sie im Anschluß an die Ironie seiner letzten Worte zu erzählen, welche Umstände sie hierher aufs Pflaster geführt hatten. Sie war wirklich die Tochter eines sächsischen Großgrundbesitzers in der Nähe von Meißen und hatte sich als dreizehnjähriges Mädchen ihrem Onkel, dem Bruder ihres eigenen Vaters, ergeben, der sie einst in einem entlegenen Zimmer auf dem Sofa überrascht und gebraucht hatte.
Die ewige gleiche Hurengeschichte, dachte. Brindeisener bei sich. Bald ist es der Bruder, bald der Cousin, bald der Kutscher, manchmal sogar der eigene Vater. Und wie immer bei solchen Erzählungen packte ihn ein lüsterner Ekel, eine wollüstige Finsternis.
Das Mädchen schwatzte fortwährend weiter, und bei ihm grub es mechanisch durch die Gedanken: So werde ich also wieder die Augen schließen und die Seele mit schönem Fleisch satt machen.
Endlich kamen sie über den Universitätsplatz, an dem Fechter vorüber und gelangten unter der Durchfahrt hin auf die Universitätsbrücke.
Der späte Viertelsmond hing wie ein weißer, fallender Tellerscherben schräg am herbstklaren Nachthimmel.
In Brindeisener hatte sich aus den abziehenden Schwaden des Rausches, aus der Enttäuschung, sich in der Person des Mädchens geirrt zu haben, und seinem steten Lebensmißvergnügen eine sentimentale Reizsucht gebildet. Er trat mit dem Mädchen an die Brüstung der Brücke, beugte sich und schaute versunken auf den schwach beglänzten Strom, der sich weit hinauf in einer Krümmung unter schwarzen Haufen überhängender Baumkronen den Blicken entzog.
»Ist es nicht«, fragte er mehr mit sich sprechend, »als ob der glänzende Fluß aus diesen finsteren Bäumen dort oben käme? Und vielleicht ist alles überhaupt finster, ich meine noch weiter droben. Ganz droben, weißt du. Und die Menschen machen das Licht bloß künstlich mit Kirchenampeln, Gaslaternen und so weiter. Und alle stehlen sich leise an sich vorbei wie dies Oderwasser drunten. Sage mal, Mädchen, hat es dich noch niemals gejuckt, in so einer großen Pfütze deinem ›Löbensglick‹ ein Ende zu machen?«
»Was meinst du?« fragte Wally erschrocken und ließ seinen Arm fahren.
»Meinen, haha? – Na ja, gut, meinen!« antwortete er in höhnischer Verbissenheit. Dann begann er wieder mit den Augen den Wasserspiegel abzusuchen, bis er droben vor dem Gebüsch am Ufer eine Plaite, ein langes Holzfloß, liegen sah, das sich kaum auf dem lautlosen Wasser rührte, und ein gelbes Lichtpünktchen glitzte aus der winzigen Wohnhütte der Ruderknechte. Beim Anblick dieses stecknadelgroßen Schimmerknöpfchens in der weiten Nacht über dem katzenleisen, großen Wasser überkam den Studenten das Gefühl einer grenzenlosen Welteinsamkeit, das sich zum förmlichen Grausen steigerte, als er nun ganz, ganz schwach von dorther das Singen einer hohen Frauenstimme vernahm, wohl die Schiffersfrau, die ihren Säugling einlullte.
Und plötzlich war es Brindeisener klar, er sei im Begriff, mit diesem Mädchen sich an dem einzigen Licht seines Lebens, an dem Heiligenlenlein zu versündigen, mit dieser sogenannten »Wally«, die dem Querhovener Meixner-Mathinklein so ähnlich sah. Dieser Gedanke packte ihn so grell, daß auf die Dauer eines Huschens das Gesicht des hübelheiligen Mädchens aus dem Wasser tauchte: blaß, himmlisch verklärt, aber aus einer Stirnwunde blutend, so wie er sie als Knabe im Garten seines Vaters geschaut hatte, an dem furchtbarsten Tage seines Lebens, als sie auf den Stein im Grase gefallen war und er glaubte, an ihrem Tode schuld zu sein. Das alles tobte einen Augenblick wie ein Albreiten in ihm.
Da stieß ihn das Mädchen ungeduldig an und fragte: »Wo wohnst du denn? Mir ist kalt, und ich dächte, wir gingen, denn bei der Beleuchtung bemühst du dich vergeblich, Fische zu sehen.« Brindeisener richtete sich ins tiefste erschüttert auf und antwortete vollkommen verwandelt mit tonloser Beklommenheit: »Ja, verzeih. Komm!« Damit machte er kehrt und führte sie in das Gewirr der Gassen zurück.
Wally widerstrebte und überhäufte ihn mit Vorwürfen, greinte und zankte.
Brindeisener sagte kein Wort, sondern ging mit langen Schritten unaufhaltsam dahin.
Endlich kamen sie in die Holteistraße, wo Wally wohnte. An der Haustür schüttelte er dem fassungslosen Mädchen den Inhalt seines Portemonnaies so hastig in die Hand, daß ein Teil der Münzen aufs Pflaster fiel.
Er kehrte sich nicht daran, sondern machte sich schweigend und eilig auf den Heimweg.
Als er die Universitätsbrücke wieder überschritt, blieb er an derselben Stelle wie vorhin stehen und starrte auf den Strom, der jetzt unsichtbar unter ihm dahinzog, denn der Scherbenmond war schon wieder verschwunden, und es herrschte dichte Finsternis. Und wieder begann seine Jugend und Kindheit an ihm hinzujagen: Er hörte den hohen Schrei durch die Nacht fallen, da das Sintlingerlenlein geboren wurde, der Wagen des Sintlingers rasselte den Hübel herunter und stob in die Finsternis davon.
Dann stand die Heiligenhofbäuerin vor ihm, von der er lange geglaubt hatte, sie sei zu manchen Zeiten ein Vogel, der sich in die Luft schwingen könne. Die engelhafte Stimme Helenens sang durch herbstbunte Bäume das Weidelied, sie saß mit der Schwerdtnerin im besonnten Grase, und er fühlte wieder die Angst von damals in sich, das trunkene Gitarrenweib könne das schöne Kind vielleicht verzaubern. Ihm war es, als sei er überhaupt nur deswegen jung gewesen, sich fortwährend wundersüchtig um den Heiligenhof zu treiben, der der ganzen Gegend ein Mirakulum war, ihn aber wegen dieses stillen, unirdisch feinen, blinden Mädchens seit je berückte, weil er selbst gar sehr unter der Brutalität seines Vaters und der dumpfen Finsternis seiner Familie hatte leiden müssen. Nach langem Grübeln richtete er sich am Brückengeländer auf und sagte zu sich: daß eigentlich der ganze blöde, wilde Betrieb seines jetzigen Lebens nichts als ein fortdauerndes Leiden an dem bitteren Schatten des väterlichen Hauses sei, und daß es nun doch Zeit wäre, den Versuch zu machen, ob man in die Höhe kommen könne, in der das Heiligenlenlein lebte. Er lächelte schmerzhaftglücklich über sich und setzte den Heimweg fort, kopfschüttelnd und verwundert über die Phantastik des Daseins.
In seiner Bude angekommen – er wohnte auf dem Matthiasplatz –, legte er sich halb entkleidet zu Bett und verfiel sofort in wirre Träume. Und während er von den Wandelbildern des Schlafes durch alle Himmel und Höllen seines Lebens getrieben wurde, lag er doch immerfort in einer solch hohen Seligkeit des Gemütes, wie er sie noch nie empfunden hatte. Diese fühlte er zwar aus einer Tiefe in sich selber kommend, die nicht mit träumte, aber sie rührte auch von weichen, schönen Händen her, die ohne Aufhören seine Wangen kosten und sich zärtlich auf seine Stirn legten. Das Wesen, dem sie angehörten, konnte er nicht sehen, allein das Glück darüber war fast schmerzhaft stark und erfüllte ihn, auch noch nach dem Erwachen, wie ein überirdisches Licht.