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Viertes Kapitel

Gottlieb fühlte sich nicht anders wie ein vom Sturm lange in unwirtliche, unbekannte Gegenden verschlagener Vogel, der endlich wieder unter heimatliche, mütterliche Dächer zurückgefunden hat. Voll unverdrossener Heiterkeit werkte er auf dem Heiligenhofe wie früher, aber ohne das Springen seiner alten krausen Launenhaftigkeit, still, umsonnt, umsichtig. Und sein Onkel, der alte Zenker, überließ ihm gern mehr und mehr die äußere Leitung des vielfältigen bäuerlichen Getriebes, das seine greisenhaften Hände, zuletzt immer schwächer und schwankender, gehalten hatten. Er humpelte nur unauffällig hinter seinem Neffen drein, um mögliche Entgleisungen sofort einzurenken und Mißgriffen vorzubeugen. Denn von seinem Stolz, daß in dem Burschen nun doch das tüchtige Zenkerblut durchgedrungen war, ließ er sich nach seiner unwirschen, knorzigen Art wenig anmerken. Auch Johanna spürte wohltätig das Eingreifen Gottlieb Meixners, wenn sie auch vergeblich von Abend zu Abend das Aufklingen seiner fröhlichen Weisen erwartete. Sie sowie das Gesinde reizten und drängten umsonst an dem wunderlichen Burschen, das alte Spiel wieder aufzunehmen. »Was zerschlagen ist, bleibt zerschlagen«, antwortete er auf alle Anforderungen mit ruhigem Ernst und wandte sich, wie es der Bäuerin schien, oft mit einem wehmütigen Lächeln ab.

Selbst das Lenlein lockte und schmeichelte vergeblich um Gottlieb herum. Sie kam wohl wie in ihrer Kindheit zu den Knechten und Mägden hinaus auf das Feld und saß mitten unter ihnen. Aber das fröhliche Lachen und neckische Hinüber- und Herüberspringen des Gespräches, wie sie es aus jener fernen Zeit in der Erinnerung trug, war aus diesen Menschen gewichen. Alle waren erstarrt in der Gebärde einer furchtsamen Verehrung gegen sie, stellten sofort ihre Tätigkeit ein, wenn sie unter ihnen erschien, hörten mit dem Geplauder auf und standen oder saßen wie in der gespannten Erwartung eines neuen Wunders gleich Standbildern in ekstatischer Verzückung um sie. Niemals fand sie ein frisches Wort, nach dem sie sich so sehnte. Man flüsterte vorsichtig, wie aus Fernen, ihr krauses, verstiegenes Zeug zu, so daß es ihr nie gelang, diese Menschen mit ihrem geheimnisvollen, inneren Blick klar vor sich zu sehen.

Einmal saß das blinde Mädchen wieder in dieser Einsamkeit unter ihnen und bemühte sich vergebens, bei ihnen zu sein. Die Worte der Leute waren nur ein undeutliches Geraun, das nicht ihr eigen zu sein schien, sondern von irgendwoher durch sie hindurchging wie ein Wind, der die Halme des Feldes bewegt oder durch Baumkronen streicht. Und bald war es für Helene nicht mehr deutlich von der leisen, eintönigen Musik zu trennen, die die Sommerluft mit dem Rispeln der Gräser, dem gehauchten Sausen der weiten Ährenfelder, dem Summen unzähliger Insektenflügel und dem tiefen Getön des weit abliegenden Waldes tiefer und tiefer in dieses Sonnenlied der Erde eindrang, geschah ihr etwas Merkwürdiges. Es erklang, aber erst noch wie hinter dieser ewigen Melodie, ein anderes, verklärtes, ein Menschensingen, unfaßbar ergreifend, und kam aus der unendlichen Raumlosigkeit näher und näher auf sie zu, daß sie sich in ihrer tiefsten Seele auch machtlos, wie ein Feld bebender Ähren und zitternder Gräser, fühlte. Ohne daß sie wußte, was mit ihr geschah, erhob sie sich von dem Rain, auf dem sie saß, wie auf einen Anruf, dem nicht zu widerstehen war. Das Gesinde, als es das sah, verstummte sogleich, und alle richteten die Aufmerksamkeit auf Helene, die einen Augenblick in die weite Luft starrte.

So stürmisch lebte und wogte ihr Leib dabei, daß es den einfachen Menschen war, jetzt und jetzt müsse ein Wunder geschehen und das hübelheilige Mädchen werde sich in die Höhe erheben und schwebend davongetragen werden. Statt dessen begann sie erst leise in Traumtönen eine noch nie gehörte Melodie zu singen, die sich schnell zu jähen, trillernden Lockrufen steigerte, sie anfing zu drehen, erst auf dem Fleck, wo sie stand, ihre Arme verlangend hob und sie dann in einem schwebenden Tanz davonzutragen begann. Aber schon nach wenigen Schritten stolperte sie, raffte sich aber auf, steigerte das Singen, zwang sich zu leidenschaftlicheren Bewegungen und drohte im nächsten Augenblick mit schreckhaft weiten Augen und blassem Gesicht doch zu fallen. Da sprang Gottlieb Meixner herzu, wie damals in ihrer Kindheit, und fing sie in seinen Armen auf. Kaum aber fühlte sie sich von dem Burschen umschlungen, so schrie sie lustvoll-keuchend: »Gottlieb, Mann, schwinge mich in die Höh'!«

Allein verschämt, demütig antwortete der Knecht: »Nein, nein, das geht nicht« und hielt die Zitternde, bis sie sicher stand. Helene fühlte, wie er vorsichtig seine Hände von ihr löste, und verharrte bewegungslos mit geschlossenen Augen. Als Gottlieb die letzte Hand von ihrem Arm zurückzog, ging es wie ein erschrecktes Aufwachen durch sie. Sie hob die Hände und tastete über sein Gesicht, zog sie aber schon bald zurück, kehrte sich erschaudernd und enttäuscht ab und begann, befangenen tastenden Ganges über die Wiese den Weg nach dem Hofe zu suchen.

Man bot ihr an, sie zu begleiten, aber sie lehnte es mit einem schmerzlichen Lächeln ab. Sie ging nach einem kurzem Zaudern mit dem nur ihr eigenen Schweben die geneigte Wiese schräg aufwärts, und das Gesinde sah sie dem Wege zusteuern, der, von der Hohen Kippe her, dem Heiligenhofe zuzog. Denn die Wirbel, das Anderssein der Welt, hatten sie heute heftiger als je vorher überfallen.

Das Mädchen fragte sich umsonst, was das sein solle, und fand doch keine andere Antwort darauf als die, daß sie von einem ähnlichen Zustand erfaßt worden sei, als der gewesen, da sie in der Stube ihrer Eltern erst von dem Vogelliede wie durch die Welt gerissen und dann von einem zauberhaften Harmonikaspiel auf den Boden geführt worden war. Um herauszubekommen, was das zu bedeuten habe, war sie Gottlieb mit der hartnäckigen Bitte nachgegangen, doch wieder wie ehemals in ihrer Kindheit zu spielen. Aber heut hatte sie die Erfahrung gemacht, daß die Musik, nach der sie sich zurücksehnte, nicht von Gottlieb herrührte und nicht eine Erinnerung an das Harmonikaspiel ihrer Kindheit, sondern das betörende Lied eines Unbekannten sei, das von irgendwoher außer ihr in sie hineingesungen worden war, so leidenschaftlich, daß sie wie im Rausche hatte aufstehen und tanzen müssen, weil sie sonst taumelig hingesunken wäre. Und während sie das überlegte, streifte sie nach ihrer Gewohnheit im Weiterschreiten mit den Händen die Halme des Wiesengrases neben ihr. Aber sie mußte die Finger erschreckt zurückziehen, denn es glitten da nicht Halme, Schwingel und Blätter kühl durch ihre Hände, sondern sie fühlte in menschliche Augenhöhlen hinein und sah mit den Fingerspitzen die Buckel einer fremden, breiten Stirn, daß wieder derselbe heiße Schauer ihren Atem stürmisch, fast angstvoll gehen ließ. All dies Treiben, diese vielfältigen Berückungen, unter denen Helene litt, hatten mit dem Tage begonnen, an dem sie mit ihrem Vater den Aufstand der Querhovener Schwärmer im Hemsterhuser Pfarrhofe erlebt hatte. Da war durch den Schrecken, den ihr der wilde Prahl-Meixner eingejagt hatte, etwas in ihr zersprungen, und zugleich erschien es dem blinden Mädchen manchmal, es sei seitdem eine geheimnisvolle Wand um ihre sonst grenzenlose Welt gezogen worden, von woher sich in Augenblicken hoher Erregung Unbegreifliches, noch nie Erlebtes, und zwar von außen her, auf sie zu bewegte, während sonst alles, durch ein Rätseltor ihres eigenen Innern eintretend, sich ihr zu eigen gegeben hatte.

Helene wußte nicht, daß sie, der der göttliche Sinn des äußeren Gesichts versagt war, in einem Himmel lebte, dessen Grenzlosigkeit nicht im Abglanz des irdischen Lichtes, wie bei den Augenmenschen, sondern in einem Schimmer erstrahlte, der außerirdisch, traumhaft aus der eigenen Seele heraufdrang. Aus diesem Paradies begann das Geschick sie hinauszuführen, gleich einem Engel, den es nach dem Lande der Menschen verlangt. Aber immer, wenn das Sintlingermädchen von der Leidenschaft des Suchens nach dem neuen Dasein erfüllt wurde wie heut, erlebte sie am Ende den doppelten Schmerz, den Zugang zu ihrem neuen Sehnen geschlossen zu finden und auch in ihrer alten Welt heimatlos zu sein.

Sonst hatte Helene von der Hohen Kippe das umliegende Land wie das kreisende Heranfluten von Wogen empfunden. Heut war es starr und leer dort oben, eine beklemmende, brusteinschnürende Weite. Dazu sang in der hohen Luft ein eintöniger, messerscharfer Luftzug, und als sie den jenseitigen Abhang hinunterging, traf sie nicht mehr die Zauberstille der Mulde, zu der das Land sich hier gegen den Wald senkte und in der Helene immer das traumhafte Glück einer Mädchenstube erlebt hatte. Der Boden unter ihren Füßen gebärdet« sich jach und ziellos. Der Wald stand nicht an derselben Stelle wie sonst und strömte fremd, verschlossen, ein nie gehörtes Sausen aus. Im Gesang der Lerchen hörte sie nur immer das hohe Schrillen. Von überallher drang der Gang von Menschen auf sie ein. Das Gebrüll der Kühe auf den Feldern klang drohend. Je mehr Helene sich zusammennahm, desto tiefer geriet sie in die Irre, wie in ein vollkommen unbekanntes Land. Und nachdem sie stundenlang umhergeirrt war, Wege zehnmal gekreuzt, Raine wieder und wieder abgelaufen, vor Bäumen zurückgeprallt und in Felder geraten war, vernahm sie das geruhige Säuseln eines Gesträuches neben sich, kroch unter dessen überhängende Äste, sank erschöpft nieder und fing an, machtlos und leise zu weinen. Dazu sagte sie immer und immer: »Ich finde mich nicht mehr nach Hause auf den Hof und nicht mehr zu Vater und Mutter.«

Endlich schlief Helene ermattet ein. So traf sie der Heiligenbauer, der sich aufgemacht hatte, sein Kind zu suchen.

Helene öffnete die Augen, hörte erstaunt die Stimme ihres Vaters, lauschte in die Runde und bekam davon ein verwundert rätselhaftes Lächeln ins Gesicht, wie es Kindern beschert ist, die ein Geheimnis hüten, das sie nicht begreifen. Von dem Erlebnis, das sie gehabt hatte, erfuhr der Sintlinger nichts. Sie gab auf alle Fragen wirre Antworten, so ungewiß und zögernd, dazu so belanglos, daß er sich die Schauer nicht erklären konnte, von denen sie zeitweise leise gerüttelt wurde, und nicht die grelle Röte, die dann und wann über ihr Gesicht flammte. Dabei ging sie wankend und stoßend wie schlaftrunken neben ihrem Vater hin, daß der Heiligenbauer ihre Hand faßte, damit sie nicht zu Falle komme. Aber Helene entzog sie ihm mit Heftigkeit und sagte dann entschuldigend, er solle sich nicht bemühen, sie wolle sich jetzt allein zusammennehmen.

Nach ein paar Schritten bemerkte der Sintlinger, wie Helene ihre Handflächen prüfend an die Augen hob, so, als habe sie ein Gesicht wie andere Menschen, und da der Heiligenbauer sie fragte, was sie mit ihren Händen habe, huschte als Antwort ein seliger Schimmer über ihr Gesicht, der sich jäh in ein so tief versunkenes Verwundern verwandelte, daß es fast wie Schmerz aussah.

Aber um eine Antwort bemühte sich der Heiligenbauer immer vergebens. Aus dem Gesinde war auch nichts anderes herauszubekommen, als daß Helene ein »heiliges Tanzen« vollführt habe und dabei fast gefallen wäre, hätte Gottlieb sie nicht aufgefangen.

So litt des Heiligenbauers Welt durch die Wirbel, die Helene aus ihrer Welt herausdrehten.

In diese Zeit fiel das fast ganz freisprechende Urteil in dem Prozeß des Hemsterhuser Pfarrers gegen die Querhovener Menschenchristen. Die kleine Pön, zu der die Dörfler wegen einer geringfügigen Ordnungsverletzung verurteilt wurden, erhöhte nur den Glanz des Freispruchs. Und wenn auch die Querhovener nie einen anderen als diesen Ausgang für möglich gehalten hatten, so atmeten doch alle erleichtert auf, da die Unruhe von ihnen genommen war, die trotzdem jeder geheim für sich getragen hatte. Das Urteil des Gerichts nahmen sie für ein Urteil der Welt über das Recht und die Reinheit ihres religiösen Glaubens und waren voll freudiger Dankbarkeit gegen Gott, der ihnen im Kampf gegen so viele und mächtige Widersacher den Sieg verliehen hatte.

Der Tag der Urteilsverkündigung fiel in die Nähe jenes Tages, an dem einst die Rütschin aus der Wuhle durch das Heiligenhoflenlein auf wunderbare Weise von dem Todesschmerz um das gestorbene Weißköpfchen erlöst und allen Querhovenern das erstemal der Wille zu einem neuen Christenleben geschenkt worden war. In den gottergebenen Seelen der Walddörfler fügten sich nun beide weit auseinander liegende Vorgänge in eine einzige Tat der himmlischen Fügung zusammen und erzeugten den Wunsch in allen, das Andenken festlich zu begehen, was die Querhovener eben festlich nannten. An dem Septembersonntage, der in der katholischen Kirche der Feier von Marias Geburt gewidmet ist, veranstalteten die Querhovener eine Art Dankprozession zu dem Sintlingerstein unter den Torlinden des großen Hübelhofes. Denn von dem Heiligenhübel her hatten sie den besten Teil des Geistes empfangen, der alle beseligte, die sich ohne Nebengedanken ihm ergaben, mochte der Heiligenbauer sich auch noch so fern von ihrem gemeinsamen Leben halten, hatte er ihnen den endlichen Sieg auch erschwert, daß er jeder Zeugenschaft in dem Prozeß ausgewichen war. Für das Auge der Querhovener lag, freilich erst nach einigem betrachtenden Verweilen, darin nicht eine Äußerung absichtlicher Feindseligkeit des Sintlingers gegen sie und ihre Bestrebungen, sondern nur der Beweis des unbeugsamen Einsamkeitsdranges des großen Hübelbauern, die himmelsfernen Kreise sich nicht stören zu lassen, die ihm und seinem Mädchen gezogen waren. Und die es übernommen hatten, die wenigen widersacherischen Querhovener eines Besseren zu belehren, erinnerten zum Schluß an des Vanlyßenders Ausspruch, als er einst in einer Glaubenssache von dem Heiligenbauer recht derb abgewiesen worden war. Damals hatte der Greis zu denjenigen gesagt, die beleidigt aufgebraust waren und es ihm übelgenommen hatten, daß er sich nicht auch zum Zorn fortreißen ließ: »Je höher und rätselhafter eine Wolke am Himmel geht, desto tiefer ergreift sie des Menschen Seele. Und handeln jene nicht töricht, die es ihr übelnehmen, daß sie sich um die Menschen nicht kümmert? Sie gibt und verlangt keinen Dank dafür. Ist das nicht göttlich?«

Auf diese Weise kamen die Querhovener in die rechte feiertäglich erhobene Stimmung zu ihrer Dankprozession auf den Heiligenhübel.

Ohne Gebläse und Musikpauken, ohne Fahne und Prunk, in schlichter Erhobenheit, festlich gekleidet, wanderten sie gegen den halben Nachmittag nicht die neue Straße, sondern den alten Feldweg über den Höhenrücken, der das Gebiet der Fremdhöfe und das Querhovener Gebiet trennte. Und während sie, zu zwanglosen Gruppen gefügt oder unabsichtlich zu Paaren hintereinander geordnet, nicht eigentlich gingen, sondern wallten, beredeten sie die mancherlei Wandlungen und Fährnisse, durch die im Laufe der Jahre ihr Glaube immer einfacher und reiner und ihr Leben klarer und reicher geworden war, standen im Anblick der schönen Gegend da und dort still und lasen im Weitergehen rechts und links von den Wiesen die wenigen Blumen, mit denen sich der Herbst schmückt.

Der Heiligenbauer saß gerade auf dem Bänklein unter den Torlinden und ließ, im Bestreben sein Gemüt zu beruhigen, das Auge auf der stillen Sonnenpracht des Nachmittags ruhen. Als er es nach langem Versinken hob und in Gedanken eben zu sich sagte: »Zu manchen Zeiten wird uns das Stillesein halt eben schwer gemacht«, erblickte er auf dem jenseitigen Höhenzuge den festlichen Schwarm der Querhovener Menschenchristen, wußte aber nicht, was das zu bedeuten habe. Sie standen gerade still und schauten auch hinüber nach dem Heiligenhofe, und die Blicke des Sintlingers da und der Querhovener dort trafen sich, ohne sich zu erkennen. Nur der Freund des Vanlyßender, der Weber Staupitz, der nach dem Tode des guten Greises ohne jede Willenstat zur Führerschaft gekommen war, als er den Wunderhof, das Ziel ihres frommen Beginnens, vor sich sah, nahm den Hut vom Kopfe, ging an die Spitze der Waller und brachte es so fertig, daß die Querhovener sich zu einer richtigen Prozession hinter ihm ordneten. So bewegte sich der Zug den gemächlichen Abhang hinunter, dem Grenzwege zu. Jetzt erkannte sie der Heiligenbauer und wurde aus seiner gefaßteren Stimmung sofort wieder herausgeschoben. Außerdem war drüben auf dem Brindeisenerhügel auch das ganze Gesinde vor das Tor getreten und sah erst in verwundertem Schweigen dem ungewohnten Aufzuge zu. Bald aber begannen die Knechte mit allerhand albernen Sticheleien, und die Mägde begleiteten jeden Zuruf mit kreischendem Gelächter, in das sich mit lautem Gedröhn bald auch die Lustigkeit des hinzugekommenen alten Brindeisener mischte.

In dem Heiligenbauer kochte der Unwille über diesen »Unfug«, und er war entschlossen, wenn die Querhovener zu ihm herauf wollten, dem Zug entgegenzutreten und ihn abzuweisen. Allein, da die guten Leute beim Einlenken in den Zufahrtsweg gar noch zu singen anfingen, und das in der Aufregung gerade nicht allzu gelungen, und einer vom Brindeisenerhübel ihnen zurief: »Die alte Meste stimmt nicht!«, steigerte sich die Erregung des Sintlingers zu zorniger Bitterkeit. Er ging schnell dem Hause zu, scheuchte sein auch herausgetretenes Gesinde in den Hof, ließ Tor und Beipförtchen schließen und verbot jedem bei sofortiger Dienstentlassung einen Schritt hinaus oder eine Antwort auf irgendeine Frage. Sein Gesicht war dabei blaß, und sein Auge funkelte wie ein gezücktes Eisen, und während er dann jäh dem Hause zuschritt, murmelte er: »Ich habe genug Wirbel um mich. Der Unsinn könnte mir gerade noch fehlen!«

Als die Querhovener die Tore des Heiligenhofes zufliegen hörten und vom Brindeisenerhübel der spöttische Hohn noch zunahm, blieb allen das fromme Lied in der Kehle stecken, und viele meinten, es sei doch besser umzukehren, als sich für den guten Willen noch mehr Schande aufzuladen. Staupitz aber frischte den gesunkenen Mut der Zaghaften auf, indem er sie daran erinnerte, daß sie nicht wegen irgendeines Menschen, sondern allein aus Dankbarkeit gegen Gott diesen Gang unternommen und darum die Pflicht hätten, sich durch niemand und nichts davon abbringen zu lassen. Am wenigsten aber dürften sie an dem Betragen des Heiligenbauers Anstoß nehmen. Denn die ganze Gegend habe es doch oft genug erfahren, daß dieser seltene, hohe Mann die Ehre mehr fliehe als jede Kränkung, und wäre er der Feind der Querhovener, aus welchem Grunde habe er ihnen dann in der Hemsterhuser Not beigestanden, und warum sei der Gottlieb Meixner von ihm wieder in Ehren aufgenommen worden, der doch nun so fest wie irgendwer zu ihnen halte?

Diese Worte des Webers entzündeten den frommen Mut der Querhovener wieder. Das unterbrochene Lied zückte von neuem und nun beinahe in trutzlicher Freude auf, so daß die Spötter auf dem anderen Fremdhübel ihre albernen Zurufe vergaßen und fast mit Bangen den Zug der Querhovener den Heiligenhübel weiter ersteigen sahen, weil ja niemand wußte, ob diese abtrünnigen Christen nicht doch wieder eine verborgene Teufelei im Schilde führten, ähnlich dem Hemsterhuser Beilgange unter der Anführung des Prahl-Meixner.

Indessen war der Sintlinger durch sein weitläufiges Wohnhaus geeilt, um Helene zu suchen und sie von jeder Berührung mit den Querhovenern fernzuhalten. Er handelte nicht nach einer klaren Erkenntnis, sondern im Drange einer blinden Sorge. Aber das Mädchen war nirgends zu finden, und da das Lied der heranziehenden Menschenchristen plötzlich von neuem und nun wie stürmend einsetzte, packte den Heiligenbauer der Gedanke, die Schwärmer könnten doch auf den Hübel gekommen sein, um wegen der abgelehnten Zeugenschaft in ihrem Prozeß an ihm Rache zu nehmen. Dies sprang ihm an den Hals, und sofort ließ er Suchen Suchen sein, eilte hinunter in die Armenstube, deren Fenster auf die Torlinden hinausgingen, und stellte sich dort so auf, daß er ungesehen alles beobachten konnte, was draußen vorging. Langsam sah er den Zug der Waller den Hübe! heraufsteigen. Andächtig, als rauschten Fahnen über ihnen, waren diese Menschen, ihre Augen voll gesammelten Lichtes, und noch die kropfige Alte, die, vom Steigen und Singen atemlos, ein Gesicht machte, als erwürgte sie, war in einer geheimen Art ergreifend und ehrwürdig, daß der Sintlinger gar nicht mehr seines Verdachtes innewurde, diese Leute könnten aus Rachsucht gegen ihn auf den Hübel getrieben worden sein. Als die Querhovener endlich oben angekommen waren, steckte jeder sein Sträußlein Feldblumen in die Maschen des Eisengitters, das den Sintlingerstein umgab, auf dem das Kreuz thronte. Dann knieten sie im Halbkreis nieder ins Gras. Der Weber Staupitz und die schöne Ursula Rutsch aus der Wuhle, als die von allen Menschenchristen Verehrten, erhielten den Platz gerade vor dem Kreuz. Und nachdem alle in stillem Nachdenken eine Weile zugebracht hatten, erhob sich der greise Weber, ein langer, magerer Mann mit einem ausdrucksvollen, bartlosen Gesicht unter einer Fülle jugendunruhiger weißer Haare und sprach einige Worte über den Sinn des heutigen Ganges und Tages, den er eine Feierstunde der vielfältigen Geburt des reinen Glaubens nannte. Dann befahl er »die ganze Welt der Menschen« dem ewigen Frieden ihrer ewigen Seele und ermahnte die Anwesenden, sich ja alles Zornes, aller bösen Nachträgerei des Herzens, des Übelwollens und der Rachsucht zu entschlagen, wenn ja der Nächste anders handelte, als sie es erwartet hätten. »Dennoch, wer in Gedanken den schlägt, der sein Feind ist, fügt seinem eigenen Geist eine Wunde zu, für die auf Erden kein Arzt zu finden ist.« Am Schluß forderte er die Rütschin auf, als Versprechen, vom erkämpften Glauben nie abzuweichen, im Namen aller das Gebet zu sprechen, das ihr seliger Vater, der Vanlyßender, der Welt hinterlassen hatte. Und die schöne Ursula, in der Erinnerung an die wundersame Aufrichtung, die ihr einst an dieser selben Stelle durch das Heiligenhoflenlein zuteil geworden war, kam im Beten zu einer solchen Ergriffenheit, daß alle hingerissen den Schluß laut mitbeteten.

Aus eigenem, vollem Herzen fügte die Rütschin noch begeistert hinzu: »Und gesegnet sei dieser Hof und alle, die darin wohnen!«

Dann gingen die Querhovener wieder den Hübel hinunter, ihrem armen Dörflein zu.

Der Heiligenbauer aber lehnte wie im Traum an der Wand der Armenstube. Sein Gesicht war schmerzhaft eingesunken, blaß, und seine Augen starrten in trockenem Brennen auf einen Fleck. Er kam sich wie ein Abtrünniger der hohen, jenseitigen Welt vor, in die er, seinem Kinde nachwandelnd, während langer Jahre kämpfend gedrungen war. Voll bitterer Scham richtete er sich endlich auf und eilte lautlos die Stiege hinauf in seine Stube, deren Tür er hinter sich verschloß.

Auch das Lenlein hatte am Fenster des über der Armenstube gelegenen Zimmers, von der dichten Krone der Linde allen Blicken entzogen, die Dankfeier der Querhovener miterlebt. Aber das Mädchen wurde in einer ganz anderen Art ergriffen als ihr Vater. Die traumstillen, verwunschenen Weiten ihres Kinderlandes angelten die geheimnisvollen Tore auf und ließen ihren Geist einziehen, nicht mehr gequält von Sehnsucht, die sie nicht verstand, von Unruhe, deren Sinn ihr verborgen war, und einem Verlangen, das sich keinem entdecken konnte und dessen unbegreifliche Glut wuchs, je fester sie es in sich verschloß. Sie genoß wieder den Klang des wogenden Landes umher, der Tag umfing sie in allmächtig friedevoller Umarmung, hohe Tiefe des klaren Herbsthimmels lag als wandellose Seligkeit in ihrem Herzen. Das Lied der Pilger war erfüllt von dem Zauber aller Lieder, die sie jemals gesungen hatte. Alle Wunder ihres vergangenen Lebens standen um sie, aber erst noch nicht anders, als uns sehenden Menschen etwa die Welt einer herrlichen Gegend hinter Silbernebeln erscheint. Und die Schar der unter ihr knienden Querhovener sah sie mit ihrem inneren Blick in einer unserer Sprache unausdrückbaren Verklärung.

Als aber dann die Stimme der schönen Ursula aus der Wuhle erklang, war es dem hübelheiligen Mädchen, als werde sie aus ihrer eigenen Brust herauf mit einer vertrauten und doch, unbekannten Stimme angeredet. So sehr wurde Helene von dieser Melodie des Sprechens, das sie doch schon einmal gehört hatte, ergriffen, daß sie auf die Bedeutung der Worte gar nicht achtete, sondern mit immer wachsender Inbrunst an den fraulichen, weichen Lauten immer tiefer in ihr Erinnern eindrang, bis endlich der Schleier vor ihrer Vergangenheit riß und zum Greifen deutlich das Erlebnis vor ihr stand, das sie vor undenklich langer Zeit mit der Rütschin aus der Wuhle gehabt hatte. Sie sah die Frau plötzlich wieder in der Marterstunde des Fräulein Knille auftauchen, sank in ihren Schoß, wurde an ihrer Hand unter die Linden geführt und fühlte sich endlich emporgehoben und voll einer Süßigkeit geküßt, daß es ihr war, als sei ihre ganze Kindheit nichts als eine einzige Liebkosung gewesen. In diesem Gefühl versank sie wie in einem Sonnenregen und wußte gar nicht mehr, was um sie vorging. Das Gebet der Rütschin verstummte. Die Pilger verloren sich über den Hübel ins Weite. Es war ganz still um sie. »Ich bin geküßt worden, oh, und wie geküßt!« flüsterte das Lenlein im Herzrausch und griff träumend mit beiden Händen verlangend in die Luft. Und als sie die Blätter der Lindenkrone um sich fühlte, wich der Bann der Versunkenheit nur so viel von ihr, daß sie aufstehn und sich bewegen konnte. Noch immer von dem Zauber jener Zeit wie von einer geisterhaften Trunkenheit erfüllt. Sie ging aus dem Zimmer, die Stiege hinunter und trat mit einer Erwartung unter die Linden, als müsse sie die Menschen noch alle treffen, deren Feier sie eben miterlebt hatte. Aber der Platz war leer. Sie tastete mit den Händen das Gitter ab, um zu »sehen«, ob noch irgend jemand da sei und sich nur versteckt halte. Überall fand sie Blumensträußlein: Skabiosen, Herzblumen, Zeitlosen. Da setzte sie sich auf das Bänklein, faltete die Hände im Schoß und ließ sich in ihr Traumsinnen zurücksinken. Die Bilder ihrer Erinnerung rückten weiter, und sie sah sich nach dem Weggange der Rütschin auf der Wiese in der vollen Sonne sitzen. Ein Schmetterling, das Sylphlein, spielte um sie, verfing sich in ihrem Haar, lief ihr über die Hand, wippte und wiegte sich auf ihrem Finger, flog davon und ließ sich wieder herbeilocken. Ja, das Lenlein fühlte geradezu die hauchzarten Bewegungen der Füße des Schmetterlings und die samtweichen Berührungen seiner Flügel auf ihren Händen und löste unwillkürlich den Griff ihrer Finger, um dem Traumsylphlein nicht wehe zu tun.

Doch da sie die Finger wieder ineinanderschließen wollte, fühlte sie nicht mehr den Schmetterling, sondern sie hielt den Kopf in Händen, den Männerkopf, den sie erfaßt hatte, als sie nach dem verunglückten Tanz auf der Wiese das Gesicht Gottlieb Meixners betastet hatte, und den sie mit einem Wissen ohne Verstehen doch als den Kopf eines völlig anderen, Geliebten, erkannte. In Schrecken hob sie die Hände, um ihr Gesicht darein zu vergraben, mußte aber davon ablassen, denn ihr war, als hebe sie den rätselhaften Kopf mit herauf an ihren Mund, und plötzlich war auch alle Süßigkeit der Liebkosung, alle Glut der Küsse um das Haupt, von der sie eben geträumt hatte. Uno während sie von diesem unbekannten Erlebnis durchbraust wurde, erwachte in ihrem Schoß ein Gefühl, wie sie es noch nie gespürt hatte.

Voll tödlicher Ratlosigkeit und Furcht brach Helene in lautes Weinen aus.

Der Sintlinger, der in seiner Stube über seinen Papieren saß, um sich an den Aufzeichnungen seiner tiefen Erkenntnisse wieder in seine errungene hohe Welt zurückzufinden, hörte ihr lautes Weinen zuerst. Er eilte hinaus zu ihr und war erschüttert, sein heiliges Sonnenkind in einer solchen Fassungslosigkeit zu finden. Im geheimen fürchtete er auch, sein Lenlein habe mit ihrer wunderbaren Sehkraft den Abfall und die Untreue seiner eigenen Seele geschaut, von der er sich eben hatte wieder befreien wollen, und er bestürmte sie mit Fragen, ob sie wegen ihm weine, was er ihr getan habe, oder was ihr denn sonst geschehen sei. Mit Widerstreben ließ sie sich wohl aufrichten, antwortete aber mit nichts auf sein bekümmertes, liebevolles Andringen. Auch die herbeigeeilte Johanna war machtlos gegen diesen immer wieder losbrechenden Tränenstrom. Endlich antwortete Helene stammelnd und von wechselndem Schluchzen und Stocken unterbrochen: »Nein, bitte, nicht fragen! Nicht! Nicht! Niemand! Tragt mein Bett aus Vaters Stube in das Lindenzimmer über der Armenstube. Ja, bitte, bitte! Vater, nimm mir's nicht übel! Aber ich muß jetzt allein schlafen, und bitte, bitte, fragt nicht warum.«

Die Bäuerin sah dem Sintlinger mit einem tiefen Blick in die Augen. Dann tröstete man Helene und tat alles nach ihrem Wunsche.

So wurde das hübelheilige Mädchen von der Natur und dem Leben unter Qual und Seligkeit in einen neuen Zustand verwandelt. Denn wir Menschen vermögen nicht allzulange in derselben Form unseres Daseins zu verharren. Nur das Kind ist sich viele Jahre genug, doch nur so lange, bis es sich durch die Umwelt entdeckt hat. Dann beginnt jene fortwährende Vertauschung der Existenz, die erst in der stillen Helle der hohen Greisenjahre aufhört. Durch die Freundschaft entfliehen wir uns, den Begeisterten treibt es in den Bannkreis des Helden, daß er sich als Dienender in den Besitz hoher Willenskraft setzt, noch ehe er die Stahleshärte des Heroismus erreicht hat. Dieses Ungenügen und Leiden an sich verhandelt die minderen Menschen an alle Arten niederer Genüsse und beunruhigt selbst die Geister Auserlesener, daß sie nie aufhören mit dem Versuch, über die letzten Weiten hinaus, ihr Leben in die Unermeßlichkeit des göttlichen Wesens auszubreiten. Mit all ihren Absichten, Plänen und Hoffnungen befinden sich die Menschen auf einer steten Wanderung, die je nach ihrem Charakter bald dem Schleichen im Dunkel, dem Betteln an fremden Türen, dem Raubzuge Habgieriger und bald dem unerschrockenen Einbruch eines Eroberers gleicht.

Die Sehnsucht nach der tiefsten Verwandlung und Erneuerung aber, die dem Menschen auf Erden beschieden ist, treibt den Jüngling und die Jungfrau in die Umarmungen der Liebe. Jemand empfängt durch einen Diebstahl Gottes ihren heiligsten Geist und geht mit ihm davon. Und nun müssen sie ihm nachpilgern, bis sie ihr verlorenes Selbst reicher wiederbekommen, indem sie sich restlos hingeben.

Allein, so selten der Schlaf plötzlich, innerhalb eines Pulsschlages, uns aus den Augen fällt, so selten ereignet sich die große Umwälzung durch die Liebe in einem Augenblick. Die Entfremdung von uns tritt oft ein, noch ehe wir die Leidenschaft auch nur dem Namen nach kennen, deren Macht wir verfallen sind. Auf tausend Traumwegen nähert sich dann dem Menschen diese göttliche Friedlosigkeit, und sie haben Gesichte, noch ehe sie den kennen, den sie sehen.


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