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Drittes Kapitel

Das Wunderlichste widerfuhr ihm aber eines Morgens. Er mähte eine Wiese, die am Ende seiner Wirtschaft neben dem Walde hinzog, der über einen Hügel herab durch eine sanfte Senke und noch ein gutes Stück die andere Anhöhe hinaufrauschte. Die Vögel sangen so laut, daß ihr Lied das leise Brausen der Wipfel übertönte; der Lerchenjubel lag wie eine tönende Wolke über den Feldern, und Andreas gab sich so stürmisch dem Takt hin, in dem er seine Sense durch das betaute Gras zog, daß ihm war, als schaukele es ihn über die Erde. Plötzlich verstummten die Vögel, der Wald stand läubleinstill, irgendwas riß ihm die Sense zurück; er schrak aus dem Taumel auf und starrte in ein Schweigen, das wie entsetzt den Atem anhielt. Im nächsten Augenblick wußte er, seine Frau sei gestorben. Dies denken, die Sense von sich schleudern und in wahnwitziger Angst quer durch die Felder rennen, war eins. Als er in die Stube stürmte und seine Frau still und fröhlich am Butterfaß hantieren sah, faßte er sie um den Leib, schwenkte sie durch die Luft und jubelte und lachte, daß die anwesende Magd vor Verlegenheit sich hinausdrückte.

Doch wie es solche Überschwenglichkeit treibt, sie hat die Schuhe, in denen sie wie von Sinnen trabt, von der Enttäuschung gekauft, und Andreas Sintlinger hatte kaum seine Johanna neben ihr Butterfaß gestellt, stand die Welt, die er in dem Gedanken an ihren Verlust eben in kläglichem Zusammenbruch gesehen hatte, gemächlich wie immer, drehte sich durch die Sonne, ließ die Flüsse laufen, als sei das, worum er in diesem Aufruhr der Angst gezittert, dies Sonnenscheinwesen, seine Johanna, nicht mehr als die Fliege, die ihm über die Hand lief, und es kam ihm vor, er wäre eben wie einer gewesen, der auf der Spitze einer aufgeblasenen Papiertüte getanzt hätte, in der Meinung, es sei ein Berg. Eine Weile saß er auf der Bank, die an der Wand entlang lief, schaute bestürzt, mißtrauisch, voll schmerzlichsten Staunens auf seine Frau und wurde immer blasser im Gesicht, je tiefer er in diese Ernüchterung versank. Aber ehe ihm die Seele von solchen Wirbelwassern bis an den Rand der Augen vollaufen konnte, sprang er jäh auf, schüttelte sich lachend und ging mit einem schrillen Pfiff auf den Lippen über die Schwelle.

Von nun an kam es öfter vor, daß der Schleier vor des Andreas Augen zerriß. Seine wundersamen Erwartungen, die ihm bisher als das Sicherste und Natürlichste erschienen waren, kamen ihm erst zweifelhaft, dann gewagt vor und sanken endlich wie ferne belichtete Wölkchen immer mehr ins Erblassen, immer tiefer, bis sie ganz unter dem Horizont seiner Seele verschwunden waren. Doch dauerte dieses geheime Abwelken einer unsichtbaren, herrlichen Ernte mehr als ein Jahr, und Johanna fühlte es, bald wie einen fliegenden Frost bei wärmster Sonne, bald wie ein Verfinstern mitten ins Licht, und sah es auch oft wie eine kalkige Helle durch schlaflose Nächte ziehen.

Als er im Herbst von einem Markt nicht, wie es seine Gewohnheit geworden war, um den Abend zurückkehrte, sondern den folgenden und nächsten Tag ausblieb und auch am dritten Morgen sein Bett noch leer stand, wußte die Frau, daß die wilden Wirbel des Sintlingerschen Blutes wieder über ihrem Andreas zusammengeschlagen waren. Doch das sagte sie sich nicht so, als ob man sich die Kleider vom Leibe reißt, sie erkannte das wie ein Mensch, der in die dunkelste Wand seines verdämmernden Hauses einen Nagel schlägt, um das kostbarste Heiligenbild seiner Andacht in der kommenden Finsternis sich nicht zu verlegen, sondern immer sicher vor Augen zu haben. Als sie darum acht Tage darauf in der Morgenfrühe des Sonntags ein wüstes Männersingen vom Dorfe her immer näher rücken hörte, trat sie vor das Hoftor und sah den Weg hin, der zwischen Weiden und Eichen sich von Hemsterhus im Grunde an den Sintlingerhof heranwand. Das Bild, das sich ihr im nächsten Augenblick bot, war kein tröstliches: der Brettwagen voll schreiender Rülpser, die bei jedem Stoß durcheinandertaumelten, und ihr Andreas auf dem Sitz vorn, ohne Kopfbedeckung, mit wehenden Haaren und ruhelos kreisender Peitsche. Er fuhr wie ein Satan. An der Stelle, wo der Zufahrtsweg zum Hofe von der Straße der geköpften Weiden und Eichen abbog, kippte der Wagen, und die Säufer klunkerten und kleckten plump und ungefüge über die Bretter in den Graben. Den letzten, der sich noch halb oben gehalten hatte, schob der junge Bauer schnell zu den anderen und peitschte dann seine Pferde hohnlachend den Hügel herauf, daß sie mit fliegenden Flanken und schäumend vor ihr hielten. Der Sintlinger lachte noch immer, warf Peitsche und Leine weg, fiel seinem Weibe in die Arme, riß sich los, lief durch das Tor, den Hof quer ins Haus, daß Johanna ihm nicht zu folgen vermochte, und stand erst im Schlafzimmer still. Dort traf sie ihn am letzten, gellen Gelächter würgend. Er schüttelte sich vor Vergnügen und rief fortwährend: »Wundervoll! Wundervoll!« Aber sein Gesicht war fahl, und Tränen liefen ihm über die Wangen. Dann sank er auf sein Lager, und Johanna streichelte seine klebrige Schläfe, besänftigte mit ihren kühlen Händen die Stirn und wischte die Schleimblasen mit einem Tuche fort, die das stürmische, wunde Röcheln seines Atems ihm vor den Mund trieb.

Sie entkleidete ihn dann während des Schlafes so behutsam, daß er nicht erwachte, sondern nur einigemal mit taumelnden Händen um sich langte, wie bittend und dankend gegen die sanfte Güte, die er durch den Dunst der Trunkenheit um sich fühlte. Dann legte sie ihm die Arbeitstracht auf den Stuhl neben das Bett, damit er beim Aufwachen den Rückfall in seine Wüstheit nicht als Wirklichkeit, sondern als einen bösen Traum empfinde und an dem Zutrauen keinen Schaden leide, den Weg durch reine Tage fortzuwandeln. Doch alle Vorsicht der lieben Seele half nichts. Nach lichten, sicheren Wochen verschwand er wieder unvermutet in dem Abgrund, den er in sich herumtrug, und in den Nächten, die Johanna einsam und grübelnd in ihrem Bett lag, sah sie den Widerschein des Feuers aus dem Ofen in allerhand fratzenhaften Gesichtern an der Wand entlang huschen, rang gar oft weinend gegen tiefe Mutlosigkeit und erlag doch nicht selten dem Gedanken, daß der Sturm, der in ihrer Hochzeitsnacht die Hoflinden zum Brechen gepeinigt hatte, nicht ohne Bedeutung gewesen sei. Trotzdem lief das alles nur gleich schwarzem Gewölk durch ihre Seele, und es kam ihr gar nicht die Versuchung zu einem bitteren Wort oder einem scheelen Blick, wenn ihr Mann lallend und schwimmenden Auges in die Stube stolperte. Höchstens bebten ihre Hände unmerklich, wenn sie ihm Stock und Mütze abnahm und an den Rechen neben den langen Uhrkasten hing. »Immer noch kein gutes Wetter, Andreas?« fragte sie dann lächelnd und strich dem Vertriebenen die Haare aus dem Gesicht, daß ihn die mitleidsvolle Liebkosung wie ein Schlag erschreckte und in irgendeinen Winkel trieb, wo ihn sein Weib, wenn er den Rausch ausgeschlafen hatte, in schmerzvollem, stummem Brüten traf, die Ellbogen auf die Knie gestützt, den Kopf zwischen den heraufgestoßenen Achseln zur Erde hängend. Dann saß sie schweigend eine Weile neben ihm und sann, wie dem Gebeugten zu helfen sei. Aber ob sie sich auch anstrengte, etwas recht Erquickendes und Starkes zu seinem Wohle zu finden, ihrer einfachen Kinderseele fiel immer das gleiche ein: Sie löste seine zusammengekrampften Hände, hob sein Gesicht zu sich herauf, küßte ihm die Stirn und sagte: »Sei nur nicht verzweifelt, Andreas! Einmal gelingt dir's doch.« Darauf schob sie ihren Arm unter den seinen und führte den bestürzt Lächelnden wieder in das weiße Licht ihres Lebens.

Und doch, immer kamen neue Nächte, in denen sie allein unter den Linden vor dem Hoftor sitzen mußte, während ihr Mann draußen auf seinem Taumelkahn in Strudeln fuhr, die sie durch nichts anderes kannte als durch das Schwarze, das in ihr aufging, wenn sie daran dachte. Oft waren nur Sternennächte. Der Mond lag zerschlagen in einem Winkel hinter der Welt oder hing verfinstert am Himmel. Nichts hatte einen Schatten. Die schwarzen Schemen der Dinge, diese verzerrte Wiederholung ihres Wesens, durch die sie unserem Auge und unserer Seele erst begreiflich werden, waren aufgelöst in gleichförmige Dunkelheit, in der sie wie losgerissen schwankten, als würde alles Leben ziellos umhergewirbelt. Sie hörte den leise wehenden, furchtsamen Schlaf der Weiden unten am Grenzwege, die Rinder, die mit den Ketten rasselten und dann und wann einen brünstigen dumpfen Laut ausstießen; die Stundenschläge der Turmuhr im Dorfe, die in der Luft verklangen. Alles das jagte sie manchmal von ihrem Sitz auf und trieb sie ein Stück vom Hofe ins Feld, daß nichts mehr um sie war als die Nacht und über ihr die Sterne, die auch seit Ewigkeiten bebten, zuckten und fieberten in rotem, grünem und leichenblassem Scheine. »Warum das alles? Warum?« fragte die junge Frau dann, ging zurück auf ihr Bänklein, sann lange ringend und warf sich zuletzt wohl an den Stamm der Linde, ihn wie eine Ertrinkende umklammernd, weil ihre Güte wund war, aber doch nicht anklagen konnte. In solchen Nächten fürchtete sie das eine mit rätselhafter Angst, daß zu allem noch das Glöckchen im Turme anfangen könne zu tönen, und sie flüchtete in ihr Bett und zog die Decke um die Ohren, damit sie nichts höre.

Aber einmal blieb ihr auch das nicht erspart. Spät in der Nacht fuhr sie aus der Flucht ihres Schlafes ins Erwachen. Anfangs sah sie nichts. Als sie aber eine Weile ihre Augen dringend ins Dunkel neben ihrem Bette geschickt hatte, stand ihr Mann vor ihr. Um seine Gestalt floß es wie Schwelen, wie Lichtdunst, der aus faulendem Holz spielt. Das hat er von dem Schein der Sterne, dachte Johanna noch traumverwirrt und fühlte einen kochenden Strom von ihm in sie übergehen. In einem Taumel, der aus Angst und Glück, aus Furcht und barmherziger Güte gemischt war, zog sie ihn mit bebendem Arme zu sich herein, und die beiden schmolzen in solch heißen dunklen Wogen ineinander, wie noch keine gewesen, von denen sie je getragen worden waren. In diesem Augenblicke berührte sie jene geheimnisvolle Hand, auf deren Wink ein neues Leben in die Leiber der Frauen sinkt, und als sie dann lag, wurden die Wirbel, von denen sie durchs Augenlose geführt worden war, immer, immer schwächer und klangen am Ende hoch und leise wie kleine Glockentöne im grenzenlosen Räume. Als Johanna das hörte, meinte sie, die Klänge rührten aus dem Türmchen auf dem Dach, sprang von ihrem Lager ans Fenster, brach die Hände nach unten und starrte durch stumme Tränen lange auf die Finsternis draußen, in die mählich am fernsten Horizont der Tag wie mit dem Licht erloschener Augen tauchte. Die Kühle klärte endlich ihre fliegenden Gedanken. Sie raffte sich zusammen und lauschte gespannt auf das hohe Pinken, das ihr soeben noch geklungen hatte; aber sie hörte nur die Linden leise dem Morgen entgegenrauschen. Sonst nichts, und was über sie hingegangen, erschien ihr wie der undeutliche, warme Taumel eines Traumes. Beschämt über ihr abergläubisches Erschrecken, suchte sie wieder ihr Lager auf und lächelte auch, daß alles nur Täuschung gewesen sei. Der tiefe Morgenschlaf löschte es vollends aus, und beim Erwachen lagen die Vorgänge der Nacht nur noch als wollustvolle Erschöpfung in der jungen Bäuerin.

Seitdem diese Verwandlung mit ihr vorgegangen war, verloren sich die Verdunkelungen des Kummers ganz aus Johanna. Ihre blauen Augen bekamen einen vertieften Glanz und gingen mit aufgelöstem Blick immer in unendliche Fernen, ohne jeden Harm, voll seligen Erwartens. Der Schimmer, der wohl in manchen finsteren Wochen erloschen schien, blühte voller um sie. Ihre Güte war sonst fast von unwirklicher Zartheit gewesen. Jetzt rückte diese vorherrschende Seite ihres Wesens immer weiter in mütterliche Sommersonne hinein. Und Andreas wurde bei dem Anblick seiner verwandelten Frau oft von Scheu und Zagen erfaßt, von einem fernen Glänzen überlichtet, wie in den Zeiten seiner ersten Liebe. Dann sprang er nicht wie sonst mitten im Aufladen vom Fuder, ließ nicht den Pflug auf der halben Furche stehen, um jäh auf seine Taumelbahn hinauszueilen. Er stahl sich heimlich wie ein Dieb in den Lärm bodenloser Wege. Er ging gleichsam nur noch auf den Zehen durch den Sumpf. Eine heimliche Furcht, von der er nie sprach, die er sich nie eingestand, hinderte ihn auch, wie sonst in voller Trunkenheit sein Haus wieder zu betreten, und wenn es nicht anders ging, schlief er in einem verborgenen Gehölz oder an einem abseitigen Hange erst seinen Rausch aus und begrüßte dann freundlich und aufgeräumt seine Frau, als kehre er von einem glücklich beendeten Geschäft zurück. Johanna gab ihm nie von der leisen Betrübnis zu schmecken, die dies Schleichen seiner Gier ihr verursachte. Sie zog ihn immer in den Schimmer ihrer Erwartung herein, in dem sie bis in die späte Nacht wie in einem Heiligenschein saß, schier endlos nähte und leise Lieder ihrer Kindheit sang.

*

An einem Frühlingsabend, schon im tieferen Dämmern, als sich der letzte Lichtfunke von dem Turmknopf der Hemsterhuser Kirche matt ins Dunkel sinken ließ, standen in der Wohnstube des Brindeisenerhofes die alte Bäuerin, ihre erwachsene Tochter, jene, die am Sintlingerschen Hochzeitstage hatte mit schwerer Krankheit ringen müssen, und der kleine Peter, ein vierjähriger Knabe, der sehr späte Nachzügler der Brindeisenerschen Ehe, am Fenster und sahen schweigend zu, wie der, Abend aus den Tälern langsam an den Hügeln heraufkroch. Die Weiden und Eichen standen schon wie vergessene Heufuder grau und unförmig am Grenzwege drunten. Die Straße schwelte blaß und schien in dem ungewissen Lichte wie ein graues Band zu schwanken. Der Sintlingerhof lag bald auch im Dämmern. Eben wollte die Bäuerin diese kurze Ruhe- und Einkehrpause beenden und legte streichelnd ihre große Hand, schon halb zum Gehen gewendet, dem kleinen Peter auf den weißblonden Kopf, da flammte in dem anderen Fremdhofe drüben ein Licht auf, erlosch, kaum entzündet, zuckte wieder auf und verging abermals. »Das ist mir ein sauberer Anzünder«, sagte Frau Brindeisener lächelnd. »Wenn schon die Streichhölzer verhudelt sein müssen, so kann man sie doch gleich wegwerfen. Da erspart man sich die Müh', und es bleibt desto besser finster.« Aber endlich flammte das Licht sicher, doch nicht, um ruhig an einer Stelle zu stehen. Es begann zu jagen. Bald flackte es an dem einen Fenster auf, bald am andern, tauchte jetzt tiefer in die Stube hinein, lief an der ganzen Fensterreihe hin und schien sich dann wie im Kreise zu drehen. »Die Sintlingerschen sind schon komische Leute«, sagte die Tochter, denn sie meinte, es tanze jemand mit dem Lichte durch die Stube. Die Mutter erwiderte aber nichts mehr, sondern öffnete das Fenster und beugte sich lauschend hinaus. »Seid mal ganz stille«, sagte sie hastig. Man hörte einen Wagen eilig rasseln, das Klappern von Pferdehufen. Dann flog das Hoftor krachend auf, und ein Gefährt stürzte sich wie wahnsinnig den steilen Hügel herunter, stob in Karriere die Straße nach Hemsterhus und verschwand als brausender Schatten.

Die Bäuerin kam zögernd, in seltsamer Steifheit wieder zum Fenster herein, nickte bekümmert und setzte sich dann auf einen Stuhl, als seien ihr die Knie weich geworden, und sagte nach kurzem, starrem Sinnen, mit einer dunklen Stimme, mehr wie zu sich: »Da ist was nicht richtig drüben! – Na ja – freilich –« Und als sie wieder hinausblickte, wirbelte etwas wie ein rotes Kleid den Sintlingerhügel herunter, sprang quer über die Straße und keuchte mitten über die Felder auf den Brindeisenerhof zu. »Es ist ein Weibsbild von drüben«, sagte die Bäuerin und erhob sich. An der Stubentür traf sie mit der Magd zusammen, die atemlos und vielfach von Weinen geschüttelt meldete, daß ihre Frau die schwere Stunde habe. Der Sintlinger sei von Sinnen gekommen, zitternd an der Wand hingeschlagen und wie gehetzt aus dem Hofe über alle Berge geflohen, und die Frau bäte, ihr in der Not beizustehen. Frau Brindeisener schlug ohne Zögern und wortlos ein Tuch um den Kopf und folgte der eilig Davongehenden.

Die Tochter, ein lang aufgeschossenes, bleiches Wesen, und der kleine Peter blieben am offenen Fenster und horchten beklommen hinaus in die Nacht. Da war es dem Knaben nach langem, als pfeife jemand in der Ferne hoch und angstvoll, und er sah furchtsam auf seine Schwester, was das sei. Die aber schloß zitternd das Fenster und begann leise zu weinen.

Gegen Morgen wagte sich der von Mitleiden und Liebe davongetriebene Andreas nach Hause. Vorsichtig führte er das Pferd den Hügel hinauf; möglichst geräuschlos öffnete und schloß er das Tor. Doch beherrschte ihn immer noch eine derartige Aufregung, daß er nicht wagte, den herbeigeeilten alten Knecht nach dem Ergehen seiner Frau zu fragen. Er nahm ihm nur die Laterne aus der Hand und leuchtete über sein Gesicht. Da erkannte er aus dem schalkhaften, etwas spöttischen Schmunzeln des Dienstboten den glücklichen Ausgang der Gefahr, warf vor Freuden die Laterne aufs Pflaster, daß das Licht unter den klirrenden Glasscherben erlosch, und schlich behutsam dem Hause zu. Das Dunkel des Flures und der Wohnstube wogte von dem Sturm seines Gemütes um ihn, und jubelnd sagte er fortwährend zu sich: »Ein Sintlinger! Ein Sintlinger!« So kam er ins Schlafzimmer, das vom Licht der verhangenen Lampe wie von erschöpftem Zittern erfüllt war. Die Hebamme erhob sich von ihrem Stuhl im Dunkeln, wo sie geschlafen hatte, und bedeutete ihn durch hastige Gebärden, sich ruhig zu verhalten, da die junge Mutter im Schlaf liege. Denn sie erklärte sich die unsichere Haltung des Bauern und seine großen, leuchtenden Augen in dem blassen Gesicht falsch, trat geräuschlos auf ihn zu und tuschelte ihm ins Ohr, daß alles glücklich, wenn auch nicht leicht, überwunden sei. Mit einem Mädchen schere es sich eben wie mit einem Knaben. Die Hauptsache wäre, daß alles richtig sei, und sie gratuliere ihm zur ersten Vaterschaft. Nun verstand er, warum der alte Zenker, der Knecht, so spöttisch gelächelt hatte. Eine leise Enttäuschung kam in ihm auf. Er nickte der Hebamme stumm zu und hing seine Mütze an eine Stuhllehne. Dann stand er in schmerzlicher Unentschlossenheit da und wußte nicht, ob er hinausgehen oder dableiben sollte. Es fiel ihm ein, daß er die ganze Nacht herumkutschiert sei, hügelauf, hügelab, durch Dörfer, an Wäldern vorbei, lange öde Chausseen hin, in steinigen Hohlwegen, und das alles wegen eines Mädchens. Aber durch die Schatten seiner Bitternis sah er das wehe, bleiche Gesicht seines schönen Weibes, hörte ihr schmerzvolles Wimmern und wurde von barmherziger Liebe überwältigt. Er trat an ihr Bett und betrachtete die eingefallenen Züge der Erschöpften; aber auf das Wesen, das neben ihr lag, vermochte er keinen Blick zu werfen. Doch Johanna schlief nicht. Unter den Lidern hervor betrachtete sie ihren Mann, war wohl glücklich, daß nicht der Dunst von Wirtsstuben um ihn liege, sog den Duft der Wälder und Felder, den er mit hereingebracht hatte, sehnsüchtig ein und wurde doch bis ins Herz hinein von seiner einseitigen Zärtlichkeit erschüttert, die ihre gesteigerte, hilflose Empfindsamkeit wie einen Vorwurf traf. Still und groß quollen Tränen durch ihre Wimpern und rollten die Wangen hinab. Dann streckte sie ihm ihre Hand hin und sagte bittend: »Andreas, sei nicht böse auf unser Kind, ich kann nicht dafür.« Da schmolz sein unbeständiges, schrankenloses Herz ganz in Weichheit. Ohne Rücksicht auf die Hebamme kniete er neben das Bett, küßte seiner Frau immer wieder die blutleeren Lippen, versicherte sie seiner Freude und war bemüht, durch Liebkosungen ihren Verdacht zu zerstreuen. Er ließ sich auch das Kind reichen und drückte einen zaghaften Kuß auf die Stirn des unwirklich kleinen, rotfleckigen Wesens. Doch als er droben in der Stube, wo man ihm das Lager aufgeschlagen hatte, allein war, brachte er es nicht über sich, Licht anzuzünden, sich zu entkleiden und ins Bett zu legen. Er rückte sich einen Stuhl ans Fenster und starrte unverwandt in die Finsternis, ohne doch in dem Wirbel seiner widerstreitenden Seele einen Untergrund zu finden. Tief am Morgen fand ihn die Magd, die ihn wecken sollte, am Fensterbrett zusammengesunken in festem Schlaf.


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