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Wie muß der Kampf gegen das Kulakentum geführt werden, ohne dadurch den Klassenkampf zu schüren?
Ich denke, daß diese Frage nicht ausführlich genug und darum falsch gestellt ist. Von welchem Klassenkampf ist hier die Rede? Wenn vom Klassenkampf auf dem Lande im allgemeinen die Rede ist, so führt ihn das Proletariat nicht nur gegen das Kulakentum. Die Gegensätze zwischen dem Proletariat und dem Bauerntum als Ganzem – ist das nicht auch ein Klassenkampf, wenn dieser auch eine ziemlich ungewöhnliche Form annimmt? Ist es denn nicht richtig, daß das Proletariat und das Bauerntum heute die beiden grundlegenden Klassen unserer Gesellschaft bilden, daß es zwischen diesen beiden Klassen Gegensätze gibt, die allerdings zu überbrücken und schließlich zu überwinden sind, daß es aber trotzdem Gegensätze sind, die den Kampf zwischen diesen beiden Klassen hervorrufen?
Ich denke, daß der Klassenkampf in unserem Lande, wenn man die Beziehungen zwischen Stadt und Land, zwischen Proletariat und Bauerntum im Auge hat, an drei Hauptfronten vor sich geht:
a) die Front des Kampfes zwischen Proletariat als Ganzem (in der Person des Staates) und dem Bauerntum auf dem Gebiete der Festlegung der Preisgrenzen für Fabrikerzeugnisse und landwirtschaftliche Produkte, auf dem Gebiete der Normalisierung des Steuerwesens usw.;
b) die Front des Kampfes zwischen Proletariat als Ganzem (in der Person des Staates) und dem Kulakentum auf dem Gebiete der Liquidierung der Spekulationspreise für landwirtschaftliche Produkte, auf dem Gebiete der Abwälzung der Hauptlast der Steuern auf das Kulakentum usw.;
c) die Front des Kampfes zwischen der Dorfarmut, vor allem den Tagelöhnern, und dem Kulakentum.
Sie sehen, daß diese Fronten weder ihrem spezifischen Gewichte noch dem Charakter des vor sich gehenden Kampfes nach gleich sein können. Darum muß auch unser Verhältnis zu den Formen des Klassenkampfes an diesen Fronten verschieden, ungleich sein.
Sehen wir uns die Sache näher an.
Die erste Front. Das Proletariat (in der Person des Staates), das mit der Schwäche unserer Industrie und der Unmöglichkeit, Anleihen für sie zu bekommen, rechnet, hat eine Reihe wichtiger Maßnahmen getroffen, die die Industrie vor der Konkurrenz der ausländischen Industrie schützen und die imstande sind, ihre Entwicklung zum Nutzen unserer ganzen Volkswirtschaft, darunter auch der Landwirtschaft, zu beschleunigen. Diese Maßnahmen sind: das Außenhandelsmonopol, landwirtschaftliche Steuern, die staatlichen Formen der Beschaffung landwirtschaftlicher Produkte, die Planmäßigkeit in der Entwicklung der Volkswirtschaft, und zwar all das – auf der Grundlage der Nationalisierung der wichtigsten Industriezweige, des Transportes und des Kredites. Sie wissen, daß diese Maßnahmen dazu geführt haben, wozu sie führen mußten, sie haben dem unaufhaltsamen Sturz der Preise für Industrieprodukte, wie auch dem unaufhaltsamen Steigen der Preise für landwirtschaftliche Produkte eine Grenze gesetzt. Andererseits ist es klar, daß das Bauerntum, das Industrieerzeugnisse kauft und die Produkte seiner Wirtschaft auf den Markt bringt, vorzieht, diese Erzeugnisse zu möglichst niedrigen Preisen zu erhalten und die eigenen Produkte zu möglichst hohen Preisen zu veräußern. Außerdem ist das Bauerntum sehr dafür, daß die landwirtschaftliche Steuer abgeschafft oder wenigstens auf ein Minimum herabgesetzt wird.
Das ist der Boden für den Kampf zwischen Proletariat und Bauerntum.
Kann der Staat auf die oben angeführten Maßnahmen verzichten? Nein, das kann er nicht, denn der Verzicht auf diese Maßnahmen würde in diesem Augenblick zur Zerstörung unserer Industrie führen, zum Zerfall des Proletariats als Klasse, zur Umwandlung unseres Landes in eine Agrarkolonie der industriell entwickelten kapitalistischen Länder, zum Zusammenbruch unserer ganzen Revolution.
Ist das Bauerntum als Ganzes an der Beseitigung dieser wichtigen Maßnahmen unseres Staates interessiert? Nein, es ist nicht daran interessiert. Denn die Beseitigung dieser Maßnahmen im jetzigen Moment bedeutet den Triumph des kapitalistischen Entwicklungsweges, der kapitalistische Entwicklungsgang aber ist der Weg der Entwicklung über die Verarmung der Mehrheit des Bauerntums im Namen der Bereicherung eines kleinen Häufleins von Reichen, eines Häufleins von Kapitalisten. Wer wird zu behaupten wagen, daß das Bauerntum an seiner eigenen Verarmung interessiert ist, daß es interessiert ist an der Umwandlung unseres Landes in eine Kolonie, daß es nicht absolut interessiert ist am Triumph der sozialistischen Entwicklung unserer Volkswirtschaft?
Das ist der Boden für das Bündnis zwischen Proletariat und Bauerntum.
Bedeutet das, daß unsere Industrieorgane, die sich auf das Monopol stützen, die Preise für Industrieprodukte heraufschrauben können zum Schaden der Interessen der großen Masse des Bauerntums und zum Schaden der Industrie selber? Nein, das bedeutet es nicht. Eine solche Politik würde vor allem die Industrie selber schädigen, sie würde es uns unmöglich machen, unsere Industrie aus einer schwachen Treibhauspflanze, die sie gestern noch war, umzuwandeln in eine starke und machtvolle Industrie, die sie morgen werden muß. Daher unsere Kampagne zugunsten niedrigerer Preise für Industrieprodukte und zugunsten der Hebung der Produktivität der Arbeit. Sie wissen, daß diese Kampagne einen großen Erfolg zu verzeichnen hat.
Bedeutet das außerdem, daß unsere Versorgungsorgane, die sich auf das Monopol stützen, die Preise für landwirtschaftliche Produkte soweit herabsetzen können, daß dadurch das Bauerntum verarmt, – zum Schaden der Interessen sowohl des Proletariats als auch des Bauerntums und zum Schaden der Interessen unserer gesamten Volkswirtschaft? Nein, das bedeutet es nicht. Eine solche Politik würde vor allem für die Industrie verhängnisvoll werden, denn sie würde erstens die Versorgung der Arbeiter mit landwirtschaftlichen Produkten erschweren, zweitens den inneren Markt unserer Industrie endgültig zersetzen und desorganisieren. Daher unsere Kampagne gegen die sogenannte »Schere«. Sie wissen, daß diese Kampagne bereits günstige Resultate gezeitigt hat.
Bedeutet das schließlich, daß unsere lokalen oder zentralen Organe, die sich auf die landwirtschaftlichen Steuern und auf ihr Recht, diese Steuern einzuziehen, stützen, das Steuergesetz betrachten können als etwas Unumstößliches, das ihnen in der Ausübung ihres Amtes die Möglichkeit gibt, die Kornspeicher auseinanderzunehmen und die Dächer von den Häusern der besitzlosen Steuerzahler abzunehmen, wie dies in einigen Bezirken des Tambower Gouvernements vorgekommen ist? Nein, das bedeutet es nicht. Eine solche Politik würde den Bauern jedes Vertrauen zum Proletariat, zum Staate, nehmen. Daher die letzten Maßnahmen der Partei zur Reduzierung der landwirtschaftlichen Steuern, zu ihrer Umwandlung in lokale Steuern, zur Organisation des Steuerwesens überhaupt, zur Beseitigung aller Widerwärtigkeiten, die bei der Einziehung der Steuern hier und da vorgekommen sind. Sie wissen, daß diese Maßnahmen bereits gute Resultate gezeitigt haben.
Wir haben also erstens eine Interessengemeinschaft des Proletariats und Bauerntums in den wichtigsten Fragen, ihr gemeinsames Interesse für den Triumph des sozialistischen Entwicklungsweges unserer Volkswirtschaft. Daher das Bündnis zwischen Arbeiterklasse und Bauerntum. Wir haben, zweitens, Interessengegensätze zwischen Arbeiterklasse und Bauerntum in laufenden Fragen, daher der Kampf innerhalb dieses Bündnisses, ein Kampf, der jedoch immer innerhalb des Rahmens der Interessengemeinschaft sich abspielt, und der in Zukunft verschwinden wird, wenn die Arbeiter und Bauern nicht mehr Klassen sein werden, wenn sie gleichberechtigte Mitglieder der klassenlosen Gesellschaft sein werden. Wir haben, drittens, Mittel und Wege zur Überbrückung dieser Widersprüche zwischen Arbeiterklasse und Bauerntum innerhalb des Rahmens des Bündnisses zwischen Arbeitern und Bauern, im Interesse beider Verbündeten, zur Festigung des Bündnisses, und wir haben diese Mittel und Wege nicht nur zu unserer Verfügung, sondern wir wenden sie schon auf die komplizierten Verhältnisse der neuen ökonomischen Politik und der zeitweiligen Stabilisierung des Kapitalismus mit Erfolg an.
Folgt daraus, daß wir den Klassenkampf an dieser Front entfachen müssen? Nein, das folgt nicht daraus. Im Gegenteil! Daraus folgt nur, daß wir mit allen Mitteln danach streben sollen, den Kampf an dieser Front zu mildern, und zwar mit Hilfe einer Reihe von Abkommen und gegenseitiger Zugeständnisse; auf jeden Fall müssen wir verhindern, daß er scharfe Formen, die zu Zusammenstößen führen können, annimmt. Und das tun wir auch. Denn wir haben dazu alle Möglichkeiten. Denn die Interessengemeinschaft ist viel stärker und tiefer als der Interessengegensatz.
Wie Sie sehen, ist die Losung, den Klassenkampf zu entfachen, absolut unbrauchbar für den Kampf an dieser Front.
Die zweite Front. Hier treten das Proletariat (in der Person des Sowjet-Staates) und das Kulakentum aktiv auf die Bühne. Die Formen des Klassenkampfes sind hier ebenso eigenartig wie im Kampfe an der ersten Front.
Im Bestreben, der landwirtschaftlichen Steuer stark ausgeprägt den Charakter einer Einkommensteuer zu geben, wälzt der Staat die Hauptlasten der Steuer auf die Schultern des Kulakentums ab. Die Kulaki beantworten das, indem sie bemüht sind, sich auf jede Art und Weise von den Steuern zu drücken und all ihre Kraft und ihren ganzen Einfluß auf dem Lande auszunutzen, um die Schwere der Steuerlast auf die Schultern der mittleren und armen Bauern abzuwälzen.
Im Kampfe gegen die Teuerung und im Bestreben, die Stabilität des Arbeitslohnes aufrecht zu erhalten, ist der Staat bemüht, Maßnahmen wirtschaftlichen Charakters zu ergreifen, die dazu führen sollen, gerechte Preisgrenzen für landwirtschaftliche Produkte festzulegen, die den Interessen der Bauernwirtschaft vollkommen entsprechen. Das Kulakentum beantwortet diese Maßnahme, indem es die Produkte der armen und mittleren Bauern aufkauft, große Reserven ansammelt, sie in seinen Kornspeichern festhält und nicht auf den Markt kommen läßt, um so die Preise künstlich hochzuschrauben, sie auf die Höhe von Spekulationspreisen zu bringen. Sie wissen wahrscheinlich, daß es den Kulaki in einigen Gouvernements unseres Landes in diesem Jahre gelungen ist, die Brotpreise auf 8 Rubel pro Pud heraufzuschrauben.
Daher der Klassenkampf an dieser Front mit seinen eigenartigen und mehr oder weniger klar hervortretenden Formen.
Es könnte scheinen, als wäre die Losung, den Klassenkampf an dieser Front zu entfachen, hier vollkommen anwendbar. Aber das ist unrichtig, vollkommen unrichtig. Denn auch hier sind wir an der Entfachung des Klassenkampfes nicht interessiert, denn wir können hier ohne diesen Kampf und die mit ihm verknüpften Komplizierungen auskommen.
Wir können und müssen die Sowjets neu beleben, die mittleren Bauern für uns gewinnen und die Dorfarmut innerhalb der Sowjets organisieren, um zu erreichen, daß die Hauptlast der Steuern auf die Schultern des Kulakentums abgewälzt wird und die große Masse der ärmeren Bauern eine geringere Steuerlast trägt. Sie wissen, daß Maßnahmen in dieser Richtung getroffen sind und daß sie bereits günstige Resultate gezeitigt haben.
Wir können und müssen dem Staate genügend große Reserven an Lebensmitteln zur Verfügung stellen, damit er in der Lage ist, auf den Lebensmittelmarkt einen Druck auszuüben, zu intervenieren, wenn dies notwendig ist, die Preise auf einem für die arbeitenden Massen annehmbaren Niveau zu halten und so die Machinationen des spekulierenden Kulakentums zu untergraben. Wir haben dieser Sache in diesem Jahre viele Millionen Pud Getreide geopfert. Wir haben auf diesem Gebiete günstige Resultate erreicht, denn es ist uns gelungen, nicht nur in solchen Bezirken, wie Leningrad, Moskau, das Don-Becken, Iwanowo-Wosnessensk usw. die Brotpreise niedrig zu halten, sondern wir haben auch das Kulakentum gezwungen, in einer Reihe von Bezirken zu kapitulieren und die alten Brotreserven auf den Markt zu werfen.
Natürlich hängt die Sache hier nicht nur von uns ab. Es ist sehr wohl möglich, daß das Kulakentum in einigen Fällen selber anfangen wird, den Klassenkampf zu entfesseln, daß es versucht, ihn auf den Siedepunkt zu treiben und ihm die Form einer Banditen- oder einer Aufstandsbewegung zu geben. Aber dann wird die Losung der Entfachung des Kampfes nicht mehr unsere Losung, sondern die Losung des Kulakentums, folglich eine konterrevolutionäre Losung sein. Außerdem wird dann natürlich das Kulakentum alle Nachteile dieser Losung, die gegen den Sowjetstaat gerichtet ist, am eigenen Leibe zu spüren haben.
Wie Sie sehen, ist die Losung der Entfachung des Klassenkampfes auch für diese zweite Front nicht anwendbar.
Die dritte Front. Hier wirken zwei Kräfte: einerseits die Dorfarmen, vor allem die Tagelöhner, andererseits das Kulakentum. Der Staat steht hier formell abseits. Diese Front ist nicht so breit wie die beiden früher genannten. Außerdem tritt der Klassenkampf an dieser Front klar und offen zutage, während er an den anderen Fronten mehr oder weniger maskiert ist.
Hier handelt es sich um eine direkte Ausbeutung von Arbeitern oder Halbarbeitern durch das Unternehmer-Kulakentum. Darum können wir hier keine Politik der Besänftigung, der Milderung des Kampfes betreiben. Unsere Aufgabe besteht hier darin, daß wir den Kampf der Dorfarmen gegen das Kulakentum organisieren und leiten.
Bedeutet das nicht, daß wir dadurch den Klassenkampf künstlich entfachen? Nein, das bedeutet es nicht. Brauchen wir jetzt, wo wir die Diktatur des Proletariats haben und wo die Partei- und Gewerkschafts-Organisationen vollkommen frei handeln können, solche künstlichen Mittel? Natürlich nicht.
Darum ist die Losung der Entfachung des Klassenkampfes auch für diese dritte Front nicht annehmbar.
So steht es mit der dritten Frage. Wie Sie sehen, ist die Frage des Klassenkampfes auf dem Lande nicht so einfach, wie das auf den ersten Blick scheinen könnte.
Gehen wir jetzt zur vierten Frage über.