Frau von Staël
Corinna oder Italien
Frau von Staël

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Sechzehntes Buch.

Trennung und Abwesenheit.

Erstes Kapitel.

Sobald die Kunde von Corinnens Ankunft sich in Venedig verbreitet hatte, war Alles begierig, sie kennen zu lernen. Wenn sie ein Cafe des Marcusplatzes besuchte, so drängte man sich dicht unter die Gallerien desselben, um sie einen Augenblick zu sehen. Auch von der höhern Gesellschaft Venedigs wurde sie auf das Eifrigste gesucht. Früher war es ihr wohl werth und lieb, daß sie überall, wo sie erschien, mit so viel Glanz empfangen wurde, und stets hatte sie es mit schlichter Aufrichtigkeit zugegeben, wie empfänglich sie sei für die Bewunderung der Welt. Das Genie bedingt auch wirklich ein Bedürfniß nach Ruhm, wie es denn überhaupt wohl kein Gut auf Erden geben mag, nach welchem die, welche es zu erwerben die Mittel haben, nicht auch Verlangen trügen. – In ihrer gegenwärtigen Lage aber fürchtete Corinna Alles, was mit den Lord Nelvil so theuren Gewohnheiten des häuslichen Lebens nicht vereinbar war, oder doch nicht vereinbar zu sein schien.

Um ihres Glückes willen war es schade, daß Corinna sich so leidenschaftlich an einen Mann fesseln mußte, der mit ihrer idealischen Lebensweise im Widerspruche sich befand, der ihre hohen Gaben eher beschränken mochte, als sie entfalten half. Es läßt sich aber begreifen, wenn eine Frau, die sich viel mit Kunst und Wissenschaft beschäftigte, grade solchen Mann durch ihre Liebe bevorzugt, dessen Geschmacksrichtung und Eigenschaften von den ihrigen ganz abweichen. Hier und da werden wir unserer selbst wohl einmal überdrüssig; dann vermag uns das, was uns ähnlich ist, nicht anzuziehn. Es bedarf der Uebereinstimmung der Gefühle und des Gegensatzes der Charaktere, auf daß aus Sympathie und Verschiedenheit die Liebe erzeugt werde. Lord Nelvil besaß diese doppelte Anziehung im höchsten Grade: durch seine bequemen, schmiegsamen Umgangsformen lebte es sich leicht mit ihm, und doch verhinderte sein düstres, reizbares Gemüth, daß man der Anmuth seines Wesens recht sicher gewohnt wurde. Obgleich die Tiefe und Ausdehnung seines Verstandesvermögens ihn zu Allem befähigt hatten, flößten seine politischen Ueberzeugungen und ein lebhafter Hang zum Militärstand ihm doch mehr Neigung für eine praktische, als eine wissenschaftliche Laufbahn ein, und mit Bezug darauf pflegte er zu sagen: »Thaten seien immer noch poetischer, als selbst die Poesie«. Er fühlte, daß er über den Erfolgen seines Geistes stand, und sprach von diesen mit großer Gleichgültigkeit.

Um ihm zu gefallen, suchte Corinna ihn in dieser Hinsicht nachzuahmen; sie fing an, ihre eigenen literarischen Verdienste gering zu achten, um jenen bescheidenen und zurückgezogenen Frauen ähnlicher zu werden, von welchen Oswalds Heimat die Vorbilder liefert.

Inzwischen machten die Huldigungen, welche Corinna in Venedig erfuhr, auf Oswald nur angenehmen Eindruck, es war so viel Wohlwollen in dem Empfang der Venetianer, sie drückten mit so viel feuriger Grazie das Vergnügen aus, welches sie in Corinnens Unterhaltung fanden, daß Oswald sich wohl glücklich fühlen mußte, von einer so hinreißenden und allgemein verehrten Frau geliebt zu sein. Er war auf ihren Ruhm nicht mehr eifersüchtig, seit er ihres Vorzuges so gewiß sein konnte, und seine Liebe schien durch Alles, was er rings um sich her über sie vernahm, nur noch gesteigert. Ja, weniger, als bisher, gedachte er seines schwerfälligen Englands und nahm etwas von der italienischen Sorglosigkeit über die Zukunft an. Corinna gewahrte diese Veränderung, und ihr voreiliges Herz erfreute sich derselben, – als ob sie hätte dauern können!

Die italienische ist die einzige Sprache Europa's, deren verschiedene Dialekte jeder einen Geist für sich haben. In jedem derselben, auch in denen, welche mehr oder weniger von dem klassischen Italienisch abweichen, kann man Verse machen und Bücher schreiben. Aber nur dem Neapolitanischen, dem Sicilianischen und Venetianischen unter den verschiedenen Dialekten der einzelnen Staaten ertheilt man die Ehre, als vollgültig angesehen zu werden; unter diesen dreien endlich wird nun wieder das Venetianische für das anmuthigste und originalste gehalten. Corinna sprach es mit bezaubernder Weichheit; die Art, wie sie einige Barcarolen heiteren Genre's vortrug, ließ voraussetzen, daß sie im Lustspiel ebenso vortrefflich als in der Tragödie sein müsse. Sie wurde vielfach gebeten, in einer komischen Oper, welche man in geschlossenem Kreise aufzuführen gedachte, eine Rolle zu übernehmen. Corinna hatte Oswald niemals mit dieser Seite ihres Talents bekannt machen wollen; seit sie ihn liebte, war sie sich des Mangels an dazu erforderlichem Frohsinn nur zu bewußt gewesen; zuweilen auch hatte sie sich scheu gesagt, es könne ihr Unglück bringen, wollte sie sich so ganz dem heitersten Muthwillen überlassen. Jetzt aber willigte sie mit seltsamer Zuversicht ein, zumal Oswald selbst sie dringend darum gebeten hatte. Es wurde demnach beschlossen, daß sie in dem zur Aufführung gewählten Stück »Die Tochter der Luft« die Titelrolle übernehmen werde.

Dieses Lustspiel bestand, wie die meisten von Gozzi, aus den übernatürlichsten, ebenso originalen als heitern Zauberpossen. Truffaldin und Pantalon erscheinen in diesen Burlesken oft neben den größesten Königen der Erde. Das Wunderbare dient hier dem Scherz, aber so, daß dessen Komik durch eben dieses Wunderbare, welches an sich niemals gemein oder niedrig sein kann, veredelt wird. Die »Tochter der Luft« oder »Semiramis in ihrer Jugend« ist eine von Himmel und, Hölle mit der Macht, die Welt zu unterjochen, begabte Coquette. Gleich einer Wilden in felsiger Höhle erzogen, gewandt wie eine Zauberin, gebieterisch gleich einer Königin, vereint sie natürliche Lebhaftigkeit mit überlegter Anmuth, kriegerischen Muth mit weiblicher Leichtfertigkeit und Ehrgeiz mit Unbesonnenheit. Diese Rolle verlangt viel fantasievolle und fröhliche Schlagfertigkeit, wie nur der Augenblick sie eingeben kann, und die ganze Gesellschaft erwartete mit gutem Grund, daß Corinna die Aufgabe auf das Glänzendste lösen werde.

Zweites Kapitel

Das Schicksal treibt zuweilen ein grausames wunderliches Spiel; es ist, als ob es eine Macht wäre, die Furcht erregen und jede Vertraulichkeit zurückweisen wolle. Wenn man sich am sichersten der Hoffnung hingiebt, und besonders, wenn man den Anschein hat, mit dem Schicksal scherzen und auf Glück rechnen zu wollen, dann wirkt sich meist etwas Furchtbares in das Gewebe unseres Lebens ein, und die verhängnißvollen Schwestern kommen und flechten ihren schwarzen Faden noch dazwischen, um das Werk unserer Hände zu verderben.

Am siebzehnten November, dem Tage der Aufführung erwachte Corinna ahnungslos, und fröhlich unterzog sie sich den letzten Vorbereitungen für den Abend. Im ersten Akt hatte sie in sehr malerischem Kostüm als Wilde zu erscheinen. Ihr Haar, das zwar aufgelöst, dennoch in reizender Sorgfalt geordnet war, sowie ihr duftiges, fantastisch-leichtes Gewand verliehen ihrer edlen Gestalt einen ungewöhnlich anmuthigen Charakter von Coquetterie und schalkhaftem Uebermuth. Sie erreichte den Palast, in welchem die Aufführung stattfinden sollte, als dort bereits Alles versammelt war; Alles, mit Ausnahme Oswalds. Corinna verzögerte den Beginn der Vorstellung, so viel sie es vermochte, und fing schon an sich über seine Abwesenheit sehr zu beunruhigen. In dem Augenblick, als sie auf die Bühne trat, sah sie ihn endlich; verborgen zwar, in einer sehr dunklen Ecke des Saales, aber sie sah ihn doch. Und da dieselbe Angst, in welche das lange Warten sie hinein getrieben, nun auch ihre Freude doppelt aufwallen ließ, wurde sie inspirirt von blitzender Heiterkeit, wie auf dem Kapitol sie getragen ward von der Begeisterung.

Gesang und Worte wechselten miteinander ab; das Stück war auf improvisirten Dialog eingerichtet; dies gewährte Corinna den großen Vortheil, die Handlung zu höherer Lebendigkeit steigern zu können. Beim Singen wußte sie den Geist der italienischen Buffa-Arie mit eigenthümlicher Eleganz zur Geltung zu bringen. Ihre, von Musik begleiteten Bewegungen waren ebenso drollig als vornehm; sie erregte Lachen, ohne daß sie zu imponiren aufhörte, und ihre Rolle wie ihr Talent beherrschten Zuschauer und Schauspieler, indem sie sich anmuthig über die Einen wie über die Andern lustig machte. Ach! wer hätte mit ihrem Siege nicht Mitleid gehabt, wenn er gewußt, daß dies vertrauensvolle Glück schon den Strahl der Vernichtung herabzog, daß diese triumphirende Heiterkeit bald den bittersten Schmerzen Platz machen sollte!

Vielfach und herzlich waren die Beifallsbezeigungen der entzückten Zuschauer; ihre Freude theilte sich Corinna mit. Sie empfand jene Art von Aufschwung, wie ihn das Vergnügenwohl hervorrufen kann, wenn es uns ein gesteigertes Lebensgefühl und Vergessenheit unseres Geschickes giebt und für einen Augenblick den Geist von allen Banden, allen Sorgen befreit. Oswald hatte Corinna den tiefsten Schmerz in einer Zeit darstellen sehen, als er sich schmeicheln durfte, sie glücklich zu machen, und jetzt, wo er soeben eine für sie Beide sehr folgenschwere Nachricht erhalten, mußte er bewundernd vor ihrer vollendeten Schilderung der ungetrübtesten Heiterkeit stehen. Mehrere Male dachte er daran, Corinna von dem verwegenen Spiele hinweg zu ziehen, aber er fand eine traurige Genugthuung darin, noch einmal auf diesem liebenswürdigen Gesichte den leuchtenden Ausdruck des Glücks zu sehen.

Am Ende des Stückes erschien Corinna als Amazone, prächtig und königlich angethan. Sie herrschte, der Rolle entsprechend, über die Menschen, ja fast schon über die Elemente, sie herrschte durch jenes Vertrauen in ihre Reize, das eine schöne Frau wohl empfinden kann – wenn sie nicht liebt. Denn es genügt zu lieben, auf daß keine Gabe der Natur oder der Verhältnisse ihr noch völlige Sicherheit gewährte. Aber diese gekrönte Coquette, diese souveräne Fee, in deren Auffassung und Darstellung Corinna auf das Wundervollste Zorn mit Scherz, Sorglosigkeit mit dem Streben zu gefallen und Anmuth mit Despotismus vereinte, schien über das Schicksal ebenso wie über die Herzen zu siegen, und als sie auf den Thron stieg, gebot sie ihren Unterthanen lächelnd und mit holdem Selbstbewußtsein, sich zu unterwerfen. Alle Zuschauer erhoben sich, um Corinna wie eine ächte Königin zu grüßen. Vielleicht hatte in keinem Augenblick ihres Lebens die Furcht vor dem Schmerz ihr ferner gelegen; da fiel ihr Blick plötzlich auf Oswald, der sich nicht mehr fassen konnte, und den Kopf in die Hände stützend seine Thränen zu verbergen suchte. Sie war betroffen; und noch war der Vorhang nicht gefallen, als sie von dem, jetzt schon unglückbringenden Thron hinabstieg und in das anstoßende Gemach eilte.

Oswald folgte ihr dorthin. Die Todtenblässe seiner Züge entsetzte sie so, daß sie genöthigt war, sich stützesuchend gegen die Wand zu lehnen. »Oswald! o mein Gott! was ist Ihnen?« – fragte sie zitternd. »Ich muß noch diese Nacht nach England abreisen«, sagte er, ohne zu wissen, was er that; denn er hätte der unglücklichen Freundin das für sie so Schreckliche nicht in dieser Form mittheilen dürfen. Sie stürzte außer sich ihm entgegen. »Nein, es kann nicht sein; Sie können mir solches Leid nicht anthun! Was that ich, um es zu verdienen? Sie nehmen mich also wohl mit?« – »Verlassen wir erst diese unerträgliche Menschenmenge«, antwortete Oswald, »komm mit mir, Corinna.« – Sie folgte ihm: schwankend, mit entstelltem Antlitz, nicht mehr begreifend, was man sie fragte, unverständliche Antwort gebend, – ein Jeder glaubte, sie sei plötzlich erkrankt.

Drittes Kapitel

»Oswald«, sagte Corinna, als sie sich in der Gondel befanden, in gänzlicher Verwirrung, »was Sie mir eben sagten, ist tausendmal grausamer, als der Tod. Seien Sie großmüthig, stürzen Sie mich in die Wellen, damit ich ihn los werde, den verzehrenden Schmerz. Thun Sie's doch, Oswald. Es bedarf dazu geringeren Muthes, als Sie mir eben bewiesen.« – »Wenn Sie noch ein Wort weiter reden, stürze ich mich selbst, und zwar vor Ihren Augen, hinein. Hören Sie mich nur erst an; lassen Sie uns nur erst in Ihrer Wohnung sein, dann werden Sie über mein und Ihr Schicksal zu entscheiden haben. Bis dahin, um Gottes willen, fassen Sie sich.« Die innere Qual, welche Oswalds Ton verrieth, hieß Corinna schweigen; aber sie war so gebrochen, daß sie kaum die zu ihrer Wohnung führenden Stufen hinaufzusteigen vermochte. Dort angekommen, riß sie voller Abscheu ihren Putz herunter. Lord Nelvil, als er sie, die vor wenigen Augenblicken so Glänzende, in diesem Zustande sah, sank weinend aus einen Stuhl. »Gott im Himmel! bin ich denn ein Barbar?« rief er, »Corinna, glaubst Du's?« – »Nein«, sagte sie, »nein, ich kann's nicht glauben; ist dies nicht noch das Auge, das mir jeden Tag mein Glück brachte? Oswald, o, ist's denn möglich, daß ich Sie fürchten muß, Sie, dessen Gegenwart für mich ein Strahl vom Himmel war! Ist's möglich, daß ich mich nicht getraue, zu Ihnen aufzublicken, daß ich vor Ihnen wie vor einem Mörder stehe? Oswald! Oswald!« Und flehend sank sie vor ihm nieder.

»Was meinst Du?« rief er wüthend, »Du willst also, daß ich mich entehre! Gut denn, ich werde es thun. Mein Regiment schifft sich binnen vier Wochen ein, ich erhielt vorhin davon die Nachricht. Ich bleibe, hüte Dich, ich bleibe, wenn Du mir diesen Schmerz zeigst – diesen über mich so allmächtigen Schmerz; aber ich werde den Schimpf nicht überleben.« – »Ich verlange nicht, daß Sie bleiben«, antwortete Corinna, »doch was schadet es Ihnen, wenn ich mitgehe?« – »Mein Regiment schifft sich nach den Inseln ein und es ist keinem Officier erlaubt, seine Frau mitzunehmen.« – »So darf ich Ihnen wenigstens bis England folgen?« – »Ich erfahre«, erwiderte Oswald, »aus den eben erhaltenen Briefen noch weiter, daß das Gerücht von unserm Verhältnis sich in England verbreitet hat, daß die englischen Blätter davon erzählen, und man zu vermuthen beginnt, wer Sie sind; daß endlich, auf Anstiften der Lady Edgermond, Ihre Familie erklärt hat, Sie niemals anerkennen zu wollen. Lassen Sie mir die Zeit, sie zu Besserem zu überreden, und Ihre Stiefmutter zu den Pflichten zu zwingen, die sie Ihnen schuldig ist. Wenn ich jetzt mit Ihnen ankomme, und genöthigt bin, Sie zu verlassen, ehe ich Ihnen Ihren Namen wieder erwarb, gebe ich Sie dem öffentlichen Urtheil in seiner ganzen Unerbittlichkeit preis, ohne nachher zu Ihrer Vertheidigung anwesend zu sein.« »So versagen Sie mir denn Alles«, stammelte Corinna, und stürzte bewußtlos zu Boden; ihr Kopf fiel hart auf das Parquet und blutete. Oswald brach bei diesem Anblick in lauten Jammer aus, und Theresina, welche ihn vernommen haben mochte, erschien bestürzt, um der Herrin die nöthige Hülfe zu leisten. Als diese sich wieder aufzurichten vermochte, fiel ihr Blick zufällig in einen Spiegel, und sie sah ihr bleiches, schmerzentstelltes Angesicht, ihre aufgelösten, blutigen Haare. »Nicht so war ich, Oswald, nicht so, als Sie mir zuerst auf dem Kapitol begegneten«, sagte sie; »damals schmückte ein Kranz der Hoffnung und des Ruhmes meine Stirn, jetzt ist sie mit Blut und Staub besudelt. Aber nicht Ihnen sei es erlaubt, mich in der Verzweiflung zu verachten, in die Sie mich gestürzt. Die Andern dürfen es wohl; aber Sie – Sie dürfen's nicht. Sie müssen Mitleid mit der Liebe haben, die Sie einflößten – Sie müssen« – –

»O schweig, das ist zu viel!« rief Lord Nelvil, und nachdem er Theresina geheißen, sich zu entfernen, schloß er Corinna leidenschaftlich an sein Herz. »Es ist entschieden«, sagte er, »ich bleibe; Du wirst mit mir machen, was Du willst. Ich will ertragen, was der Himmel mir auferlegt; ich will Dich in diesem Unglück nicht verlassen, da ich Dich nicht nach England nehmen kann, ehe ich Dir dort eine würdige Stellung sicherte. Den Beleidigungen jener hochmüthigen Frau darf ich Dich nicht aussetzen. Ich bleibe ja, ich bleibe, denn ich kann Dich nicht verlassen.« – Seine Worte riefen Corinna wieder zu sich selbst zurück, doch nur um sie aus der Verzweiflung in eine noch schrecklichere Niedergeschlagenheit zu versetzen. Sie fühlte die auf ihr lastende Nothwendigkeit, und lange verharrte sie gesenkten Hauptes in düstrem Schweigen. »Sprich doch, Geliebte«, sagte Oswald, »laß mich Deine Stimme hören; nur an sie kann ich mich noch halten, nur Du sollst mich leiten.« –»Nein«, erwiderte Corinna, »nein, Sie müssen fort! Sie müssen!« Und ihre Thränen verkündeten ihm ihre Entsagung. »Geliebte!« rief Lord Nelvil, »dort das Bild Deines Vaters nehme ich zum Zeugen, und Du weißt, ob der Name eines Vaters mir heilig ist! Ich rufe es zum Zeugen auf, daß mein Leben Dir gehört, so lange es zu Deinem Glücke nothwendig ist. Nach meiner Rückkehr von den Inseln werde ich mich bemühen, Dir Deine Heimat, und den Dir zukommenden Rang und Namen in derselben wiederzugeben; und falls mir dies nicht gelänge, würde ich nach Italien zurück kommen, und zu Deinen Füßen leben und sterben.«

– »Ach«, seufzte Corinna, »und diese Gefahren, denen Sie nun entgegen gehn ......« »Fürchte nichts«, erwiderte Oswald, »ich werde ihnen glücklich entrinnen; wenn ich aber nicht wiederkehrte, ich, der unbekannte, namenlose Mann, dann würde mein Andenken in Deinem Heizen bleiben? Du würdest mich nicht nennen hören, ohne daß Thränen Deinen Blick umfloren, nicht wahr, Corinna? Du würdest sagen: »Ich habe ihn gekannt, er liebte mich.« – »Ach, laß mich, laß mich!« rief sie, »Du täuschest Dich über meine äußere Ruhe! Morgen, wenn die Sonne scheint und ich es fühle, daß ich Dich nicht mehr – nie mehr wiedersehe, dann versagt mir vielleicht das Leben, ach! Und dies wäre ja auch ein Glück!« – »Warum«, rief Lord Nelvil, »warum fürchtest Du, mich nicht wieder zu sehen, Corinna? Ist mein feierliches Versprechen unserer ewigen Vereinigung nichts für Dich? Kann Dein Herz zweifeln?« – »Nein, ich verehre Sie zu hoch, um Ihnen nicht zu glauben«, antwortete Corinna, »es würde mir noch furchtbarer sein, meine Bewunderung für Sie aufgeben zu müssen, als meine Liebe. Ich halte Sie für einen höheren Menschen, für den reinsten und edelsten Charakter, der je auf Erden wandelte. Was mich an Sie fesselt, ist nicht blos der Zauber Ihrer Persönlichkeit, es ist der Glaube, daß niemals so viel Tugenden in einem Manne vereint waren; und Ihre geliebten Augen erzählen von ihnen allen! Nein, fern von mir ein Zweifel an Ihrem Wort. Ich würde den Anblick des menschlichen Angesichts fliehen, da es mir nur noch Grauen erregte, wenn Lord Nelvil täuschen könnte. – Nein, das nicht; aber die Trennung bringt so viel Unerwartetes, und das entsetzliche Wort »Lebe wohl«.... »Niemals«, unterbrach er sie, »niemals kann Dein Oswald Dir das letzte Lebewohl sagen; es sei denn auf dem Todtenbette.« – Seine Erschütterung war angsterregend, und Corinna, das Schlimmste für seine Gesundheit fürchtend, suchte sich nun besser zu beherrschen; sie, die doch so viel mehr zu beklagen war.

Sie sprachen nun Weiteres über diese schwere Trennung, über die Art ihres Briefwechsels, über die Gewißheit ihrer Wiedervereinigung. Seine Abwesenheit wurde auf ein Jahr festgesetzt, denn Oswald glaubte bestimmt, die Expedition werde nicht länger dauern. Genug, es blieben ihnen noch einige Stunden des Zusammenseins, und Corinna hoffte sich kraftvoll zu zeigen. Aber schon als Oswald ihr mittheilte, daß bereits um drei Uhr Morgens die bestellte Gondel eintreffen werde, und sie diese Stunde nicht mehr weit sah, bebte sie an allen Gliedern und das Schaffot selber hätte ihr nicht größeren Schrecken bereiten können. Oswalds Entschlossenheit schien auch mit jedem Augenblick mehr dahinzuschwinden, und Corinna, da sie ihn nie die Herrschaft über sich hatte verlieren sehen, zerriß der Anblick seines Leidens das Herz. Arme Corinna! Sie tröstete ihn, und sollte doch tausendmal unglücklicher werden, als er!

»In London, Oswald, werden Ihnen die Weltmenschen sagen, daß ein Liebesversprechen noch keine Ehe sei; daß unzählige Engländer auf ihren Reisen so eine Italienerin geliebt haben, um sie nach der Heimkehr zu vergessen; daß ein paar glückliche Monde weder die Frau binden, der sie bereitet wurden, noch Den, welcher sie spendete, und daß ein ganzes Leben nicht von dem Zauber abhängen dürfe, der Sie auf kurze Zeit in dem Verkehr mit einer Ausländerin umfangen hielt. Jene werden dem Anschein nach Recht haben, Recht vor der Welt: aber Sie, der Sie das Herz kannten, über das Sie sich zum Herrn machten, Sie, der Sie wissen, wie dieses Herz Sie liebt, werden auch Sie Sophismen finden, um eine tödtliche Wunde für heilbar zu halten? Und die glatten, grausamen Gesellschaftsmenschen, werden Sie Ihrer Hand das Zittern nehmen können, wenn Sie einen Dolch in meine Brust stoßen?« – »Ach! wie sprichst Du doch!« rief Lord Nelvil; »es ist ja nicht Dein Schmerz allein, der mich zurückhält, sondern auch der meine. Wo fände ich ein Glück, das dem gleichen kann, welches ich mit Dir genossen? Wer auf der ganzen Welt wird mich verstehen, wie Du mich verstanden hast? Die Liebe, Corinna, die Liebe, die kannst nur Du allein so erfassen, die kannst nur Du allein so erregen! Diese Harmonie der Seele, dies innige Einverständniß zwischen Geist und Herz – bei welcher andern Frau könnte ich sie finden, als bei Dir, meine Corinna? Dein Freund ist kein leichtfertiger Mann, Du weißt es ja! Das ganze Leben nehme ich ernst, und sollte vor Dir mein Wesen verläugnen?«

»Nein, nein«, erwiderte Corinna, »Sie werden eine wahrhaftige Seele nicht verachten; und nicht Sie, Oswald, ich weiß es, nicht Sie werden unempfindlich vor meiner Verzweiflung stehn. Aber neben Ihnen droht mir ein furchtbar Feindliches: die despotische Strenge nämlich, die hochmüthige Mittelmäßigkeit meiner Stiefmutter. Sie wird Ihnen alles Mögliche anführen, was meine Vergangenheit herabsetzen kann. Ersparen Sie mir Ihnen ihre unbarmherzigen Reden vorherzusagen. Statt daß meine Gaben mich in ihren Augen entschuldigen müßten, rechnet sie mir dieselben als mein größestes Vergehen an. Sie versteht ihren Zauber nicht und sieht nur ihre Gefahren. Alles, was nicht in die Richtung paßt, die sie vorgeschrieben, findet sie unnütz, selbst strafbar, und alle Poesie des Herzens scheint ihr eine unbequeme Grille, die sich's anmaßt, ihre Vernunft gering zu schätzen. Im Namen von Tugenden, die ich ebenso heilig halte als sie, wird sie meinen Charakter und meinen Lebensweg verdächtigen. Oswald! sie wird Ihnen sagen, daß ich Ihrer unwürdig sei!« – »Und wie sollte ich auf sie hören können«, unterbrach sie Oswald; »welche Tugenden dürfte man über Deine Großmuth, Deine Aufrichtigkeit, Deine Güte, Deine Menschenliebe zu setzen wagen, Du himmlisches Geschöpf? Man soll die gewöhnlichen Frauen nach gewöhnlichen Gesetzen richten! Wer Schande über den Bevorzugten, den Du liebst, und der Dich nicht ebenso hochachtete, als er Dich anbetet! Nichts in der ganzen Natur kommt Deinem Geiste, Deinem Herzen gleich. An der reinen göttlichen Quelle, wo Du Deine Gefühle schöpfst, ist Alles Liebe und Wahrheit. Corinna, Corinna! O, ich kann Dich nicht verlassen; mir schwindet aller Muth. Wenn Du mir nicht hilfst, kann ich nicht fort, und von Dir, von Dir muß ich die Kraft empfangen, Dich zu betrüben.« – »Wohlan«, sagte Corinna, »warte noch ein paar Augenblicke, ehe ich meine Seele Gott empfehle, und ihn anflehe, mir in dieser Trennungsstunde beizustehn. Wir haben uns geliebt, Oswald, geliebt mit tiefer Leidenschaft! Ich habe Dir die Geheimnisse meines Lebens anvertraut; das sind aber doch nur Thatsachen; Du weißt mehr von mir; Du kennst mein ganzes Innere! Ich habe keinen Gedanken, der nicht eins wäre mit Dir. Wenn ich im Schreiben meine Seele ausströme, so hast Du mich dazu begeistert; an Dich richte ich mein Träumen und Sinnen und mein letzter Athemzug wird Dir gehören. Wo fände ich Zuflucht, wenn Du mich verließest? In der Kunst suche ich nur Dein Bild, in der Musik nur Deine Stimme – der Himmel ist gleich Deinem Blick! Das Genie, das sonst mein Wesen entflammte, ist Alles zu Liebe geworden. Begeisterung, Nachdenken, Verstand – ich habe Alles nur in Gemeinschaft mit Dir!«

»Allmächtiger Gott, erhöre mich!« betete sie nun, mit zum Himmel gewendetem Blick. »O Gott, der du über die Schmerzen der Liebe, die edelsten von Allen, nicht unbarmherzig richtest, nimm mein Leben hin, wenn er aufhört mich zu lieben; nimm mir den elenden Rest des Daseins, den ich doch nur in Leid und Noth dahinschleppen könnte. Was gut und groß ist an mir, das nimmt er mit sich hinweg. Wenn er das Feuer seines Herzens für mich erlöschen läßt, dann, o Gott, dann bestimme, daß auch mein Leben erlösche. Großer Gott! Du hast mich nicht erschaffen, um alles edelste Gefühl zu überleben, und was bliebe mir, wenn ich aufhören müßte, ihn zu verehren? Denn auch er muß mich lieben, er muß es; ich fühle bis in den tiefsten Herzensgrund eine Liebe für ihn, welche die seine von ihm fordert. O Gott!« rief sie nochmals, »den Tod oder seine Liebe!« Als sie geendet, wendete sie sich zu Oswald und fand ihn hingestreckt in entsetzlichen Zuckungen. Die Aufregung hatte seine Kräfte überschritten; er wies Corinnens Beistand zurück, er wollte sterben, und schien im Wahnsinn; Corinna hielt seine Hände in den ihren; mit Sanftmuth wiederholte sie ihm Alles, was er selbst ihr tröstend gesagt hatte. Sie versicherte, daß sie ihm glaube, auf seine Wiederkehr rechne und nun ganz gefaßt sei. Ihr holder Zuspruch that ihm wohl; doch je mehr die Abschiedsstunde heranrückte, je unmöglicher schien es ihm, sich zu überwinden.

»Weshalb«, sagte er zu Corinna, »weshalb nun treten wir nicht, noch ehe ich abreise, vor den Altar, um dort den Eid unserer Treue niederzulegen?« Corinna bebte; forschend und in großer Verwirrung blickte sie zu ihm hinauf. Es fiel ihr ein, daß Oswald beim Erzählen seiner Erlebnisse geäußert hatte: der Schmerz einer Frau sei von allmächtigem Einfluß auf ihn, aber sein Gefühl erkälte sich auch durch eben die Opfer, welche dieser Schmerz ihm abgewonnen. Diese Erinnerung gab Corinna ihre ganze Festigkeit, ihren ganzen Stolz zurück. Nach kurzem Schweigen erwiderte sie: »Sie müssen Freunde und Vaterland wiedergesehen haben, Mylord, ehe Sie den Entschluß fassen, Ihr Leben unwiderruflich an das meine zu knüpfen. Jetzt würde ich ihn der Rührung des Abschieds verdanken, und nicht so kann ich die Ihre werden.« – Oswald drang nicht weiter in sie. »Wenigstens schwöre ich von Neuem«, sagte er, Corinnens Hand ergreifend, »daß meine Treue an diesen Ring gebunden ist. So lange Sie ihn bewahren, wird nie eine andere Frau Rechte an mich haben; wenn Sie ihn einst verschmähen, ihn mir zurücksenden.....«–»Hören Sie auf«, unterbrach ihn Corinna, »hören Sie auf, eine Besorgniß auszudrücken, die Sie nicht hegen. Ach! nicht ich werde zuerst das heilige Band unserer Herzen zerreißen; Sie wissen es wohl, nicht ich! Und ich erröthe, etwas zu betheuern, das so zweifellos ist.«

Indessen verfloß die Zeit. Corinna erbleichte bei jedem Geräusch, und Lord Nelvil, in den tiefsten Schmerz versenkt, hatte kaum noch Kraft zu einem Worte. Endlich zeigte sich das gefürchtete, kleine Licht, und bald darauf hielt die Gondel vor der Thür. Scheu wich Corinna vor ihrem Anblick zurück; Oswald schloß nochmals die Geliebte in seine Arme. »Sie sind da! sie sind da!« rief sie. »Leben Sie wohl, gehen Sie – es ist vorbei.« – »O mein Vater«, stammelte Lord Nelvil, »o mein Vater! Verlangst Du denn das von mir?« – »Gehen Sie«, sagte Corinna, »gehen Sie! Es muß sein.« – »Theresina soll kommen«, antwortete Oswald, »ich mag Sie nicht allein lassen.« – »Allein! ach, bin ich's denn nicht bis zu Ihrer Rückkehr?« – »Ich kann nicht fort, ich kann nicht!« rief Oswald, und verzweifelnd wünschte er sich den Tod. »So werde ich Sie gehen heißen – ich selbst; aber gewähren Sie mir noch einige Augenblicke.« – »Ja wohl!« rief Oswald, »ach, bleiben wir noch zusammen. Dieser fürchterliche Kampf ist besser noch, als Dich nicht mehr sehen.«

Unter Corinnens Fenster riefen die Gondoliere nach Lord Nelvils Dienerschaft; man antwortete, und bald darauf meldete einer der Bedienten, daß Alles bereit sei. »Ja, Alles ist bereit«, sagte Corinna, und sich von Oswald losmachend, trat sie vor das Bild ihres Vaters, lehnte das Haupt daran und betete. Ihr ganzes vergangenes Leben mochte sich wohl in diesem Augenblick vor ihr aufrollen; mit Gewissenhaftigkeit übertrieb sie alle ihre Fehler; sie fürchtete die göttliche Barmherzigkeit nicht zu verdienen, und fühlte sich doch so unglücklich, daß sie des Glaubens an das Mitleid des Himmels sehr bedurfte. Endlich richtete sie sich auf, und Lord Nelvil die Hand reichend, sagte sie: »Gehen Sie jetzt, ich will es; einen Augenblick später kann ich's vielleicht nicht mehr wollen. Gehen Sie; Gott segne jeden Ihrer Schritte und beschütze auch mich; ich brauche es.«– Oswald zog sie noch einmal mit unaussprechlicher Leidenschaft an sein Herz und verließ darauf, bleich und schwankend, wie ein Mensch, der in den Tod geht, dieses Gemach, wo er vielleicht zum letzten Male geliebt hatte, und geliebt worden war, wie die Erde es kaum wieder gesehen!

Als Oswald ihren Blicken entschwunden war, gerieth Corinna in einen bejammernswerthen Zustand: ein maßloses Herzklopfen raubte ihr den Athem; ihr Blick umwölkte sich; die Dinge um sie her schienen alle Wesenheit zu verlieren und irrten vor ihren Augen bald nah, bald fern umher. Sie glaubte, der Boden wanke unter ihren Füßen, wie bei einem Erdbeben, und hielt sich fest, um nicht zu fallen. Noch einige Minuten hindurch hörte sie das Geräusch der letzten Vorbereitungen zur Abfahrt. Er war noch da! sie konnte ihn noch wiedersehen! aber sie fürchtete sich vor sich selbst. Inzwischen lag er fast bewußtlos in der Barke. Endlich stieß diese ab, und jetzt stürzte Corinna nach der Thür, um ihn zurückzurufen. Theresina hinderte sie daran. Bald fing es heftig zu regnen an; ein rasender Sturm erhob sich; das Haus erbebte wie ein Schiff auf offenem Meer. Nun litt Corinna noch die schreckliche Besorgniß um Oswalds Sicherheit, da er in diesem Wetter auf der Lagune war. In der Absicht sich einzuschiffen, um ihm wenigstens bis zum Festlande zu folgen, eilte sie nach dem Kanal hinunter. Doch die Nacht war so stürmisch, daß auch nicht eine einzige Gondel anzutreffen war. In unerträglicher Ruhelosigkeit eilte sie auf den schmalen Steinen weiter, welche die Häuser vom Kanal trennen. Der Sturm nahm immer zu; mit ihm ihre Angst um Oswald. Sie versuchte von einigen Schiffern gehört zu werden, die in ungewisser, dunkler Entfernung sichtbar wurden; aber diese hielten ihr Rufen wohl für das Hülfegeschrei Verunglückter, die sich in solcher Nacht auf das Wasser hinausgewagt. Ohnehin hätte Niemand vermocht herbeizukommen, so furchtbar drohten die zürnenden Wellen des großen Kanals.

Der Anbruch des Tages fand Corinna noch in dieser Lage. Das Wetter hatte sich allmählig beruhigt, und Oswalds Gondolier brachte ihr die Nachricht von dessen glücklich zurückgelegter Fahrt durch die Lagunen. Dieser Augenblick glich beinahe noch dem Glücke, und erst nach einigen Stunden empfand die arme Corinna von Neuem seine Abwesenheit; erst dann kam ihr das Vorgefühl der öden Tage, der müde dahinschleichenden Zeit, des ruhelosen, verzehrenden Schmerzes, der sich fortan in ihr Dasein hineingraben sollte.

Viertes Kapitel.

Während der ersten Tage seiner Reise war Oswald hundertmal bereit gewesen, umzukehren; zuletzt siegten freilich die strengen Gründe, die ihn nach der Heimat riefen, über dieses Verlangen. Fürwahr, in der Liebe ist's ein feierlicher Schritt, sie einmal überwunden zu haben: ihre Allmacht ist dahin!

Alle theuren Heimatserinnerungen tauchten in Oswalds Seele auf, als er sich England näherte. Das in Italien zugebrachte Jahr stand mit keiner seiner frühern Lebensepochen in Verbindung; es glich in seiner Wirkung auf ihn einem leuchtenden Meteor, das seine Einbildungskraft beherrscht hatte, welches aber doch die Ansichten und Neigungen, nach denen sich sein Leben bisher gebildet, nicht völlig umzuformen im Stande gewesen war. Er fand sich selbst wieder; und obwohl das Bedauern, von Corinna getrennt zu sein, ihn für heitere Eindrücke unempfänglich machte, nahmen seine Ideen doch schon wieder eine gewisse Unbeweglichkeit an, die sich in dem berauschenden Umherschweifen unter den Kunst- und Naturschönheiten Italiens scheinbar verloren hatte.

Sobald er den Fuß auf englischen Boden setzte, traten ihm überall Ordnung, Wohlstand, Reichthum und Industrie entgegen, und seine mit ihm geborenen Neigungen und Gewohnheiten standen entschiedener denn je wieder auf. In diesem Lande, wo die Männer so viel Würde, die Frauen so viel Bescheidenheit besitzen, wo das häusliche Glück mit dem politischen enge im Bunde steht, dachte Oswald an Italien nur, um es zu beklagen. In seinem Vaterlande glaubte er aller Orten die menschliche Vernunft auf die edelste Weise herrschen zu sehn, während Italiens Institutionen und gesellschaftliche Zustände ihm nichts als Verworrenheit, Schwäche und Unwissenheit gezeigt hatten. Seine verführerischen Bilder, seine poetischen Eindrücke wichen in Oswalds Herzen mehr und mehr der tiefen Ehrfurcht vor Freiheit und Sittlichkeit, und obwohl er Corinnens in Liebe gedachte, tadelte er sie doch leise, daß sie ungern in einem Staate gelebt hatte, den er für so weise, so großartig eingerichtet hielt. Wäre er aus einem Lande, wo man die Einbildungskraft wie eine Gottheit ehrt, in ein dürres, leichtfertiges gekommen, würden ihn seine Erinnerungen, würde seine ganze Seele ihn nach Italien wieder hingezogen haben; aber er tauschte die unklare Sehnsucht nach romantischem Glücke gegen den stolzen Besitz der ächten Güter des Lebens ein, gegen Unabhängigkeit und Sicherheit. Er trat wieder in die Sphäre zurück, welche dem Manne ziemt: das Handeln mit einem Zweck; das Träumen und Schwärmen gilt nun einmal als das Antheil der von Jugend auf zu Schwachheit und Resignation erzogenen Frauen. Der Mann will erwerben, was er zu besitzen wünscht, und ist schnell bereit, sich in zürnender Ungeduld gegen sein Geschick aufzulehnen, wenn's ihm, der seiner Kraft und seines geschulten Muths sich bewußt ist, dennoch nicht gelingt, es nach seinem Willen zu beugen.

Oswald fand in London seine Jugendfreunde wieder; er hörte wieder diese kräftige, gedrungene Sprache, die noch viel mehr anzudeuten scheint, als sie ausdrückt; er sah diese ernsten Physiognomien wieder, sah, wie sie plötzlich aufleuchten, wenn ein tiefes Gefühl über die herkömmliche Zurückhaltung siegt; er konnte wieder den Genuß haben, Entdeckungen in Herzen zu machen, die sich nur nach und nach dem beobachtenden Auge offenbaren – kurz, er fühlte sich im Vaterlande! Die, welche es niemals verließen, wissen nicht, durch wie viele Bande wir an dasselbe geknüpft sind. Indessen begleitete der Gedanke an Corinna alle Eindrücke, welche Oswald empfing, und da er sich so unzertrennlich mit der Heimat verbunden fühlte, hatte er auch zugleich die größeste Abneigung, sie von Neuem zu verlassen. So führten ihn denn alle seine Ueberlegungen auf den Entschluß zurück, seinen Aufenthalt in Schottland zu nehmen, und Corinna als seine Gattin dorthin zu führen.

Er wünschte sehnlich fortzukommen, um nur schneller wiederkehren zu können. Da erhielt er Gegenbefehl: die Einschiffung der Expedition, an welcher sein Regiment sich betheiligen sollte, war aufgeschoben, und zwar mit dem Vermerk: es dürfe sich dennoch kein Officier länger als vierzehn Tage von seinem Platze entfernen, da der Aufbruch sehr unerwartet geschehen könne. In dieser Lage fühlte Lord Nelvil sich sehr unglücklich; er litt schmerzlich darunter, von Corinna getrennt zu sein, und weder Zeit, noch Freiheit zu haben, um irgend einen Plan fassen und ausführen zu können. Er verbrachte sechs Wochen in London, ohne in die große Welt zu gehn, einzig nur dem Augenblicke entgegenlebend, wo er Corinna wiedersehen werde, und war sehr verstimmt, daß er eine so lange Zeit ohne sie verlieren müsse. Endlich beschloß er, diese Tage des Wartens für eine Reise nach Northumberland zu verwenden; er wollte dort Lady Edgermond besuchen, um diese zu einer rechtskräftigen Anerkennung Corinnens, als Lord Edgermonds Tochter, die man fälschlich für todt ausgegeben, zu bestimmen. Seine Freunde zeigten ihm die öffentlichen Blätter, in denen man sich sehr ungünstige Andeutungen über Corinnens Lebensweise erlaubt; und er empfand den glühenden Wunsch, ihr den Rang und die Anerkennung, auf welche sie Anspruch machen durfte, wiederzuverschaffen.

Fünftes Kapitel.

Oswald reiste nach dem Landsitze Lady Edgermonds, in gespannter Erwartung, den Ort zu sehen, wo Corinna so viele Jahre gelebt hatte. Verlegen stand er vor der Nothwendigkeit, Lady Edgermond verständlich machen zu müssen, daß er ihrer Tochter entsagen wolle, und diese gemischten Gefühle bewegten ihn und stimmten ihn gedankenvoll. Das nördliche England, durch welches sein Weg ihn führte, wurde seiner schottischen Heimat immer ähnlicher, und immer allmächtiger herrschte deshalb auch die Erinnerung an den Vater in seinem Herzen. Auf dem Schlosse der Lady Edgermond angekommen, fand er sich von dem guten Geschmacke, den hier sämmtliche Einrichtungen verriethen, wohlthuend überrascht; und da die Herrin des Hauses noch nicht bereit war, ihn zu empfangen, trat er in den Park hinaus, um sich inzwischen dort ein wenig umzuschauen. Hier erblickte er eine junge Dame, an deren eleganter Gestalt und wunderbar schönen blonden Haaren er die zu holdester Jungfräulichkeit entfaltete Lucile erkannte. Sie las mit großer Aufmerksamkeit; er näherte sich ihr, grüßte sie, und vergessend, daß er in England war, wollte er ihre Hand ergreifen, um sie nach italienischer Sitte ehrerbietig zu küssen; aber das junge Mädchen trat mit tiefem Erröthen zurück und sagte, sich formvoll verneigend: »Ich will es meiner Mutter sagen, Mylord, daß Sie sie zu sprechen wünschen.« Damit entfernte sie sich, und ließ Lord Nelvil in Verwunderung zurück über ihr engelgleiches Angesicht und ihre vornehme bescheidene Haltung.

Lucile war kaum in ihr sechzehntes Jahr getreten. Ihre Züge waren von ganz ungewöhnlicher Zartheit; Blässe und Erröthen verscheuchten dort einander in holder Flüchtigkeit. Der Körper mochte fast zu schlank sein, denn in ihrem Gange verrieth sich einige Schwäche. Da sie die blauen Augen meist niederschlug, erhielt ihre Physiognomie den nöthigen Ausdruck hauptsächlich von einer großen Durchsichtigkeit der Haut, welche gegen ihren Willen die Bewegungen verrieth, die in anderer Weise auszusprechen ihre große Zurückhaltung sie verhinderte. Oswald hatte, seit er im Süden reiste, den Charakter derartiger Frauenschönheit ganz vergessen; er empfand etwas wie Ehrfurcht. Lebhaft warf er sich's vor, sie mit einer Art Vertraulichkeit begrüßt zu haben, und als er sich jetzt nach dem Schlosse zurückwendete, in dessen Portal Lucile eben verschwand, träumte er von der himmlischen Reinheit eines jungen Mädchens, das immer unter dem Schutze der Mutter blieb, und vom Leben nichts kennt, als die kindliche Liebe.

Lady Edgermond war allein, als sie Lord Nelvil empfing; er hatte sie vor einigen Jahren in Gesellschaft seines Vaters schon zweimal gesehen, damals jedoch wenig auf sie Acht gegeben. Jetzt beobachtete er sie genauer, um sie dem Bilde zu vergleichen, das Corinna von ihr entworfen hatte. Er fand dieses in vieler Beziehung richtig, nur schien es ihm, als ob in den Augen Lady Edgermonds mehr Empfindung liege, als die Freundin zugeben wolle; natürlich, sagte er sich, könne sie nicht, wie er, für diese verschlossenen Physiognomien ein Verständniß haben. Um bald auf seine wichtigste Angelegenheit, die Anerkennung Corinnens, hinlenken zu können, begann er das Gespräch, indem er Italien und dessen Vorzüge rühmte. »Es mag für einen Mann ein angenehmer Aufenthalt sein«, erwiderte Lady Edgermond, »wenn aber eine Frau, die mich näher angeht, sich dort lange gefiele, würde ich das nicht billigen.« – »Dennoch«, entgegnete Lord Nelvil, von dieser Andeutung verletzt, »dennoch habe ich dort die ausgezeichnetste Frau angetroffen, die mir in meinem Leben vorgekommen ist.« – »In Betreff der Geistesvorzüge kann das der Fall sein, aber ein ehrenwerther Mann sucht in seiner Lebensgefährtin doch wohl andere Eigenschaften.« – »Und findet auch diese«, unterbrach Oswald warm. Er wollte fortfahren und jetzt klar aussprechen, worauf bisher von beiden Seiten nur hingedeutet worden war, als Lucile eintrat, und sich zu dem Ohr der Mutter hinabneigend, dieser leise einige Worte zuflüsterte. »Nein, mein Kind«, erwiderte Lady Edgermond laut, »Du kannst heute Deine Cousine nicht besuchen; ich wünsche, daß Du bleibst, um mit Lord Nelvil zu Mittag zu speisen.« – Lucile erröthete bei diesen Worten noch tiefer, als es im Garten geschehen war; dann setzte sie sich neben ihre Mutter und nahm vom Tische eine Stickerei, mit welcher sie sich beschäftigte, ohne die Augen aufzuschlagen, noch sich ins Gespräch zu mischen.

Lord Nelvil machte dieses Betragen fast ungeduldig; denn es war doch anzunehmen, Lucile sei davon unterrichtet, daß von einer Verbindung zwischen ihnen die Rede gewesen. Er erinnerte sich Alles dessen, was Corinna ihm über die wahrscheinliche Wirkung der strengen Erziehung Lady Edgermonds vorhergesagt hatte; daneben war er jedoch von Lucilens hinreißender Erscheinung mehr und mehr betroffen. In England haben die jungen Mädchen im Allgemeinen mehr Freiheit, als die verheiratheten Frauen, und Vernunft wie Moral erklären diesen Brauch. Lady Edgermonds Grundsätze wichen von demselben ab; zwar nicht in Betreff der Frauen, wohl aber um der Mädchen willen; sie behauptete, in allen Lebenslagen zieme dem Weibe die strengste Zurückhaltung. – Lord Nelvil hoffte, nun seine Absichten in Bezug auf Corinna erklären zu können, sobald er sich mit Lady Edgermond wieder allein befinden werde, doch Lucile entfernte sich nicht mehr, und Jene leitete, bis man sich zum Diner erhob, das Gespräch über verschiedene Dinge mit einfacher, sicherer Verständigkeit, die Oswald einige Anerkennung abnöthigte. Er hätte zwar ihre, auf allen Seiten so abgeschlossenen und mit den seinen oft nicht übereinstimmenden Ansichten bekämpfen mögen; aber er fürchtete, durch irgend ein Wort, das nicht in den Gang ihrer Ideen passe, ihr eine später vielleicht schwer zu ändernde Meinung von sich zu geben, und er zögerte deshalb, bei diesem ersten Bekanntwerden mit seinen Ueberzeugungen scharf hervorzutreten. Einer Frau gegenüber, die keine feineren Unterschiede, keine Ausnahmen zuließ, und Alles nach allgemeinen festgesetzten Regeln beurtheilte, mußten diese ersten Schritte unwiderruflich sein.

Man meldete, daß servirt sei. Lucile näherte sich ihrer Mutter, um derselben den Arm zur Stütze zu bieten, und jetzt erst bemerkte Oswald, wie mühsam Lady Edgermond den kurzen Weg bis zur Tafel zurücklegte. »Ich leide«, sagte sie erklärend, »an einer sehr schmerzhaften, vielleicht tödtlichen Krankheit«; und als Lucile bei diesen Worten bleich wurde, fügte sie sanft hinzu: »Die Sorgfalt meiner Tochter hat mir indessen schon einmal das Leben gerettet, und kann es vielleicht noch ferner erhalten.« Lucile neigte das Haupt, um ihre Bewegung zu verbergen; als sie es wieder erhob, waren ihre Augen von Thränen feucht. Doch hatte sie nicht einmal gewagt, die Hand ihrer Mutter zu ergreifen. Es hatte sich Alles auf dem Grunde ihres Herzens zugetragen; der Andern schien sie nur gedacht zu haben, um ihnen zu entziehen, was sie empfand. Oswald rührte so viel Beschränkung und Zurückgehaltenheit; seine eben noch von der Gewalt der Beredsamkeit und Leidenschaft erschütterte Einbildungskraft gefiel sich in der Betrachtung dieses Bildes der Unschuld; Lucile schien ihm wie von sittsamen Schleiern umgeben; aber doch Schleiern, auf denen sein Auge mit innigem Wohlgefallen ruhte.

Während des Essens sorgte Lucile, da sie ihrer Mutter auch die kleinste Mühe ersparen wollte, für Alles mit leiser Aufmerksamkeit und sprach nur, wenn sie Lord Nelvil eines oder das andere reichte; aber diese unbedeutenden Worte schienen ihm von bezaubernder Süßigkeit, und er fragte sich, wie es möglich sei, daß die einfachsten Bewegungen, die alltäglichsten Formen eine ganze Seele offenbaren können. »Es muß«, dachte er, »entweder ein Genie, wie das Corinnens sein, das Alles übertrifft, was die Fantasie träumen kann, oder dieses verschleierte Geheimniß von Schweigen und Sittsamkeit, welches dem Manne erlaubt, die Tugenden und Gefühle vorauszusetzen, die er zu finden wünscht.« – Die Damen erhoben sich von der Tafel und Lord Nelvil wollte es ihnen nachthun, doch Lady Edgermonds peinliche Genauigkeit, mit der sie an der Beobachtung des Herkömmlichen hing, ließ das nicht zu. Sie ersuchte ihren Gast, bei Tische auszuharren, bis sie im Salon den Thee bereitet haben würde, und demgemäß folgte Oswald den Damen erst nach einer Viertelstunde in das Gesellschaftszimmer nach. Im Verlauf des Abends bot sich ihm dann keine weitere Gelegenheit zu einem gesonderten Gespräch mit Lady Edgermond, denn Lucile entfernte sich nicht einen Augenblick. Er war schon im Begriffe aufzubrechen, um sich am nächsten Tage zu der beabsichtigten Unterredung nochmals einzufinden, als die Lady ihn bat, seinen Besuch bis zum folgenden Morgen auszudehnen. Er willigte gern ein, ohne irgend welch Gewicht darauf zu legen, und bereute doch bald nachher, es gethan zu haben, da ein gewisses Etwas in Lady Edgermonds Worten ihm anzudeuten schien, sie halte dieses Annehmen ihrer Gastfreundschaft für einen Beweis, daß er sich ihr noch in besonderer Absicht zu nähern wünsche. Dies bestimmte ihn sofort, sie um eine Unterredung zu bitten, welche ihm denn auch für den Morgen des folgenden Tages zugesagt wurde.

Lady Edgermond ließ sich in den Garten tragen, und Oswald bot ihr hier zu einem kurzen Spaziergange seinen Arm als Stütze. Sie richtete ihren Blick fest auf ihn und sagte dann nur: »Ich nehme es an«; worauf Lucile ihm den Platz an der Seite ihrer Mutter überließ. »Bitte, Mylord, gehen Sie nicht zu schnell«, flüsterte sie leise, in der Besorgniß, von Jener gehört zu werden. Lord Nelvil erbebte bei dem heimlichen Wort; nur in solcher Absicht, dachte er, könne dieses Engelsantlitz, das für irdische Liebe nicht gemacht schien, so empfindungsvoll zu ihm reden. Es fiel ihm durchaus nicht ein, daß seine innere Erregung ein Unrecht gegen Corinna sei; er hielt sie nur für die unwillkürliche Huldigung, die man Lucilens himmlischer Reinheit zollen mußte. Um die Stunde des Abendgebets, das Lady Edgermond täglich im Kreise der ganzen Dienerschaft abhielt, kehrten sie nach dem Schlosse zurück; hier fanden sie die Leute, von denen die meisten alt und gebrechlich waren und schon dem Vater und dem Gemahl der Herrin gedient hatten, bereits im untern Saale versammelt: eine Scene, die Oswald an die theuern Gewohnheiten des Vaterhauses lebhaft erinnerte.

Alle Anwesenden knieten nieder, Lady Edgermond ausgenommen, welche durch ihre Körperleiden daran verhindert wurde; doch faltete auch sie in würdevoller Andacht und gesenkten Blickes die Hände.

Lucile, deren Amt es war, das göttliche Wort vorzulesen, kniete neben ihrer Mutter. Sie wählte ein Kapitel aus dem Evangelium und schloß darauf mit einem Gebet, das dem ländlichen und häuslichen Leben angepaßt war. Dieses Gebet, von Lady Edgermond verfaßt, hatte eine gewisse Herbigkeit des Ausdrucks, die mit dem weichen, schüchternen Ton der Vortragenden im Gegensatze stand; aber eben dies steigerte noch den Eindruck der letzten, von Lucile mit einigem Beben gesprochenen Worte. Nachdem hier für die Dienerschaft, für die Eltern, den König und das Vaterland gebetet worden, heißt es: »Gewähre uns auch die Gnade, o Gott, daß die Tochter dieses Hauses lebe und sterbe, ohne ihre Seele durch einen Gedanken, durch ein Gefühl befleckt zu haben, das nicht ihrer Pflicht entspräche; und im Hinblick auf die Tugenden des einzigen Kindes verzeihe auch der Mutter ihre begangenen Irrthümer.«

Lucile sprach dieses Gebet täglich; aber heute, in Oswalds Gegenwart, war sie mehr als sonst davon gerührt, und ihre Thränen flossen, ehe sie zu Ende gelesen; dann das Gesicht in die Hände bergend, suchte sie ihre Bewegung den Blicken der Andern zu entziehn. Oswald aber hatte diese Thränen gesehen; mit Rührung und Ehrfurcht betrachtete er diese Jugendlichkeit, die fast noch Kindheit war, diesen Blick, in welchem noch die frischen Erinnerungen an den Himmel zu weilen schienen. Ihr reizendes Gesicht leuchtete inmitten der Andern, von Alter und Krankheit verwelkten, wie das Bild der göttlichen Barmherzigkeit. Lord Nelvil gedachte des strengen, zurückgezogenen Lebens, welches Lucile geführt hatte, und dieser Schönheit ohne Gleichen, die alle Freuden und Huldigungen der Welt entbehrte, und seine Seele schwamm in reinster Bewunderung. Auch Lucilens Mutter flößte Hochachtung ein, und er zollte sie ihr. Sie war eine Frau, die sich selbst noch strenger als Andere behandelte; ihr beschränkter Geist konnte wohl eher der Unerbittlichkeit ihrer Grundsätze, als einem Mangel an natürlicher Begabung zugeschrieben werden; unter diesen selbstauferlegten Fesseln, unter ihrer angenommenen und angeborenen Unbeugsamkeit barg sich eine große Liebe für ihre Tochter, eine Liebe, die um so tiefer war, als die Zähigkeit ihres Charakters sich auf zurückgedrängte Empfindsamkeit gründete und folglich dem einzigen Gefühl, das sie nicht unterdrückt hatte, eine nur desto größere Kraft verlieh.

Um zehn Uhr Abends herrschte das tiefste Stillschweigen im Hause, und Oswald konnte mit Ruhe den verflossenen Tag überblicken. Er gestand sich's nicht ein, Lucile habe Eindruck auf sein Herz gemacht, und vielleicht war dies auch noch nicht der Fall; aber obwohl Corinna die Einbildungskraft tausendfach zu entzücken verstand, gab es doch eine gewisse Gedankenrichtung, einen musikalischen Klang, wenn man sich so ausdrücken darf, der nur zu Lucile stimmte. Die Bilder häuslichen Glückes waren leichter mit dieser und der Zurückgezogenheit Northumberlands, als mit dem Triumphzuge Corinnens zu vereinigen; genug, Oswald konnte sich nicht verhehlen, daß Lucile es sei, welche sein Vater ihm gewählt haben würde. Aber er liebte Corinna, wurde von ihr wieder geliebt, und hatte geschworen, nie ein anderes Band zu knüpfen. Dies war ihm genug, um darauf zu beharren, daß er der Lady am folgenden Morgen seine Absicht, Corinna zu heirathen, mittheilen wolle. Er schlief mit Gedanken an Italien ein, und dennoch war es Lucile, die er im Traume in leichter, verklärter Engelsgestalt an sich vorüberschweben sah. Er erwachte; er wollte den holden Eindruck vergessen; aber dasselbe Traumbild kam wieder, und es schien, als entflattre es nach Oben; von Neuem erwachte er, und bedauerte jetzt, die vor seinen Augen zerfließende Gestalt nicht festhalten zu können. Bald darauf wurde es Tag und Oswald kleidete sich an, um einen Gang ins Freie zu machen.

Sechstes Kapitel.

Die Sonne war zwar eben erst aufgegangen, doch sah sich Lord Nelvil in seiner Voraussetzung, es werde noch Niemand im Hause wach sein, getäuscht, denn Lucile zeichnete schon auf dem Balcon. Ihr lose herabhängendes Haar flatterte im Winde; so glich sie jener Traumgestalt, und es bewegte ihn, sie hier nochmals, wie eine übernatürliche Erscheinung über sich schwebend zu finden. Er blieb einige Zeit unter dem Balcon stehen und grüßte hinauf; indeß mußte Lucile es nicht bemerken, denn sie wendete den Blick nicht von der Arbeit. Darauf setzte er seinen Weg fort, und sein Herz sehnte mehr denn je Corinna herbei, damit sie ihm die unbestimmten Eindrücke verscheuche, von denen er sich keine Rechenschaft geben konnte oder wollte. Wie ein Geheimniß, wie das Unbekannte zog Lucile ihn an; er hätte gewünscht, daß der Sonnenglanz von Corinnens Genie dieses leichte Nebelbild aufzehre, das nach einander in allerlei Gestalt seinen Blick umgaukelte.

Er ging endlich in den Salon, und fand hier Lucile damit beschäftigt, die eben vollendete Zeichnung in einen kleinen Rahmen zu fügen, der gegenüber dem Theetisch ihrer Mutter seinen Platz finden sollte. Oswald prüfte das Blatt: nichts als eine weiße Rose, aber mit vollendeter Anmuth wiedergegeben. »So können Sie malen?« fragte er. »Nein, Mylord; ich verstehe nichts, als diese Nachahmung der Blumen, und dazu müssen es noch die am leichtesten auszuführenden sein. Es giebt hier keinen Lehrer, und das Wenige, was ich gelernt habe, danke ich einer Schwester, die mir einst Unterricht gab.« – Sie seufzte; Lord Nelvil aber erröthete tief bei diesen Worten. »Und wo ist jetzt diese Schwester?« fragte er. – »Sie lebt nicht mehr«, erwiderte Lucile, »aber ich werde sie nie vergessen.« – Oswald sah, daß Lucile, wie die übrige Welt, über das Schicksal ihrer Schwester getäuscht worden war; allein dieses »Ich werde sie nie vergessen« schien ihm einen liebenswürdigen Charakter zu offenbaren, und es rührte ihn. Eben wollte Lucile sich zurückziehn, weil sie sich mit Lord Nelvil allein im Zimmer befand; da trat aber schon Lady Edgermond ein. Sie maß die Tochter mit verwundertem, mißbilligendem Blick und hieß sie das Zimmer verlassen. Hieraus erfuhr Oswald, was er nicht gewußt, daß Lucile etwas Ungewöhnliches, gegen das Herkommen Verstoßendes begangen hatte, als sie einige Minuten ohne die Mutter mit ihm allein blieb; dies machte ihn weich, als ob es ein sehr vielsagender Beweis von Interesse gewesen wäre!

Lady Edgermond setzte sich, und schickte die Diener fort, welche sie bis zu ihrem Sitze geleitet hatten. Sie war blaß und ihre Lippen bebten, als sie Lord Nelvil eine Tasse Thee bot. Er bemerkte diese Aufregung, an welcher sich seine eigene Verlegenheit nur steigerte; indessen gab ihm der Wunsch, Corinna zu dienen, den Muth, das Gespräch anzufangen. »Mylady«, sagte er zu Lady Edgermond, »ich bin in Italien viel in der Gesellschaft einer Frau gewesen, die Sie sehr nahe angeht.« – »Das bezweifle ich«, erwiderte Lady Edgermond scharf und trocken, »denn in dem Lande dort interessirt mich durchaus Niemand.« – »Ich denke doch, die Tochter Ihres Gemahls hätte ein Recht an Ihre Theilnahme.« – »Wenn aber die Tochter meines Gatten vielleicht eine Person wäre, die über ihre Pflichten ebenso gleichgültig denkt als über ihre Stellung, dann würde ich ihr zwar sicherlich weiter nichts Böses gönnen, aber ich würde doch wünschen müssen, nicht mehr von ihr reden zu hören.« – »Und, Mylady«, erwiderte Lord Nelvil mit Wärme, »wenn diese von Ihnen verlassene Tochter nun eines durch ihre bewunderungswürdigen, vielseitigen Talente glänzend begründeten Ruhmes genösse, würden Sie sie auch dann noch verläugnen?« – »Auch dann; ich kann Talente nicht schätzen, wenn sie eine Frau von ihren wahren Pflichten abwendig machen. Es giebt ja Schauspielerinnen, Musikerinnen, Künstlerinnen aller Art, um die Welt zu amüsiren; doch Frauen unseres Ranges haben nur einen geziemenden Beruf, den nämlich, sich dem Gatten und der Erziehung ihrer Kinder zu widmen.« – »Wie!« entgegnete Lord Nelvil, »diese hohen Gaben, die aus der innersten Wesenheit entspringen, die ohne den stolzesten Charakter, ohne das reichste Gefühl nicht bestehen können, diese Talente, die sich mit edelster Güte, mit dem großmüthigsten Herzen vereinen, – die wollen Sie verwerfen! Verwerfen, weil sie das Denkvermögen erweitern, weil sie selbst der Tugend einen ausgedehnteren Wirkungskreis, einen großartigeren Einfluß vorbereiten? – »Der Tugend?« fragte Lady Edgermond mit bitterem Spott; »ich weiß nicht, was Sie unter diesem so angewendeten Worte verstehn! Die Tugend eines Mädchens, das dem Vaterhause entfloh, die Tugend eines Mädchens, das sich in Italien amüsirt, dort das unabhängigste Leben führt, alle nur denkbaren Huldigungen annimmt – um nicht noch mehr zu sagen – das Andern das verderblichste Beispiel giebt, ihrem Range entsagt, ihre Familie, ja selbst dem Namen ihres Vaters ...« – »Mylady«, unterbrach sie Oswald, »das war ein großmüthiges Opfer, welches sie Ihren Wünschen, Ihrer Tochter brachte; sie fürchtete, Ihnen zu schaden, wenn sie den Namen beibehielte ...« – »Sie fürchtete!« rief Lady Edgermond, »so fühlte sie also, daß sie ihn entehrte?« – »Das ist zu viel«, entgegnete Oswald mit großer Heftigkeit, »Corinna Edgermond wird bald Lady Nelvil sein, und wir werden dann sehen, ob Sie bei der Anerkennung der Tochter Ihres Gemahls ein Erröthen nöthig haben werden! Sie richten eine Frau nach Alltagsgesetzen, die begabt ist, wie keine es vorher gewesen; die ein Engel ist an Geist und Güte, ein bewundernswürdiges Genie und dennoch ein feinfühliger und bescheidener Charakter; eine erhabene Einbildungskraft, eine Großmuth ohne Grenzen; eine Frau, die geirrt haben mag, weil eine so unerhörte Ueberlegenheit sich nicht immer mit dem gemeinen Leben abfinden kann, die aber eine so schöne Seele besitzt, daß eine einzige ihrer Handlungen oder ihrer Worte Alles vergessen machte, falls dies irgend nöthig wäre. Den Mann, den sie zu ihrem Beschützer wählt, ehrt sie mehr, als eine Beherrscherin der Welt es vermöchte, wenn sie ihren Auserkorenen bezeichnet.« – »Mylord, Sie werden mir vielleicht Beschränktheit des Geistes vorwerfen«, antwortete Lady Edgermond, indem sie mit großer Anstrengung gefaßt zu scheinen suchte, »doch muß ich bekennen, daß Alles, was Sie mir eben gesagt haben, völlig über mein Verständniß geht. Ich begreife unter Sittlichkeit nichts als die pünktliche Einhaltung der vorgeschriebenen Gesetze; was darüber hinausgeht, nenne ich schlecht angewendete Eigenschaften, die höchstens Mitleid verdienen.« – »Die Welt wäre recht nüchtern geworden, Mylady«, antwortete Oswald, »wenn man niemals den Genius und die Begeisterung zu begreifen verstanden, wenn man aus der menschlichen Natur ein so regelrechtes, einförmiges Ding gemacht hätte. Aber wir wollen einen nutzlosen Wortwechsel nicht weiter fortsetzen; ich komme, Sie in aller Form zu fragen, ob Sie Miß Edgermond als Ihre Stieftochter anzuerkennen denken, wenn sie Lady Nelvil geworden ist.« – »Dann noch weniger«, erwiderte Lady Edgermond; »ich schulde es dem Gedächtnisse Ihres Vaters, eine so unglückselige Verbindung zu verhindern, wenn ich's vermag.«– »Sie schulden es meinem Vater?« fragte Oswald, den eine Erwähnung desselben immer beunruhigte. »Ist es Ihnen denn unbekannt«, fuhr Lady Edgermond fort, »daß Ihr Vater die Hand Miß Edgermonds für Sie ablehnte, als sie sich noch durchaus keines Fehls schuldig gemacht, als er lediglich mit seinem scharfen, unfehlbaren Urtheil voraussah, was sie einst sein werde?« – »Wie! Sie wissen...?« – »Der über diesen Gegenstand handelnde Brief Ihres Vaters an Lord Edgermond ist in den Händen seines Freundes, des Herrn Dickson«, unterbrach Lady Edgermond; »als ich Ihre Beziehungen zu Corinna erfuhr, habe ich diesem das Schreiben zugestellt, damit er Sie bei Ihrer Rückkehr mit dessen Inhalt bekannt machen möge; es kam mir nicht zu, mich damit zu befassen.«

Oswald schwieg einige Augenblicke. »Was ich von Ihnen fordere«, hub er dann wieder an, »ist nur eine Gerechtigkeit, ist etwas, das Sie sich selber schulden. Widerrufen Sie dieses Gerücht, das Sie über den Tod Ihrer Stieftochter ausgebreitet haben, und erkennen Sie sie als das an, was sie in Ehren ist: die Tochter Lord Edgermonds.« – »Ich will in keiner Weise das Unglück Ihres Lebens befördern helfen; und wenn Corinnens gegenwärtige Existenz, diese Existenz ohne Namen, ohne Anhalt, Ihnen vielleicht ein Grund wäre, sie nicht zu heirathen, dann wolle mich doch Gott und Ihr Vater davor bewahren, dieses Hinderniß zu beseitigen.« – »Mylady«, antwortete Lord Nelvil, »das Unglück Corinnens wäre ein Band mehr zwischen ihr und mir.« – »Nun wohlan«, sagte Lady Edgermond mit einer Heftigkeit, wie sie sich dieselbe noch nie gestattet hatte, und die ohne Zweifel aus dem Bedauern entsprang, ihrer Tochter einen in vieler Hinsicht so ausgezeichneten Gatten entgehen zu sehen, »wohlan, machen Sie doch sich und sie unglücklich; denn auch sie wird unglücklich! Dieses Land ist ihr verhaßt; sie kann sich in unsere Gewohnheiten, in unser strenges Leben nicht fügen. Sie bedarf eines Schauplatzes, wo sie alle jene Talente, auf die Sie so vielen Werth legen, und die das Leben so schwierig machen, zeigen und bewundern lassen kann. Sie wird sich hier langweilen, wird nach Italien zurückkehren wollen und Sie mit fortziehen. Sie werden dann Ihre Freunde, Ihre und Ihres Vaters Heimat um einer, ich gebe es zu, liebenswürdigen Ausländerin willen verlassen, die Sie indessen doch leicht vergessen würde, wenn Sie selbst dies nur wollten. Denn es giebt nichts Wandelbareres unter der Sonne, als jene überspannten Köpfe. Nur solche Frauen, die sie die alltäglichen zu nennen belieben, die für Gatten und Kinder leben, nur sie verstehen große Schmerzen zu tragen.« – Nie in ihrem Leben hatte Lady Edgermond sich wohl in solcher Heftigkeit gehen lassen; die Aufregung hatte denn auch ihre kranken Nerven dergestalt erschüttert, daß sie, als sie nun geendigt, ohnmächtig zusammensank. Oswald klingelte um Hülfe.

Lucile eilte schnell herbei. Eifrig bemüht, der Mutter einige Erleichterung zu verschaffen, fragte sie Oswald nur mit einem besorgten Blick, ob er es denn sei, der ihr so wehe gethan. Oswald war tief ergriffen. Als Lady Edgermond wieder zu sich kam, suchte er ihr seine Theilnahme an dem Unfalle auszudrücken; doch sie wies ihn kalt ab, und erröthete bei dem Gedanken, daß ihr Zorn so sehr ihren Stolz überwogen, und sie allzu deutlich den Wunsch verrathen hatte, Lord Nelvil für die Tochter zu gewinnen. Sie schickte Lucile hinaus.

»Mylord«, sagte sie, »Sie haben sich von irgend welchem Abkommen, wie es vielleicht zwischen uns obwaltete, in jedem Fall als frei zu betrachten. Da meine Tochter noch so jung ist, wird sie an den von Ihrem Vater und mir gefaßten Plan noch keine ernsteren Hoffnungen geknüpft haben; dennoch scheint es mir, nachdem jene Verabredung aufgehoben ist, schicklicher, wenn Sie, während meine Tochter unverheirathet ist, mein Haus nicht wieder betreten.« – »So werde ich mich also auf den schriftlichen Ausdruck beschränken müssen, Mylady, um mit Ihnen über eine Frau zu verhandeln, die ich nie zu verlassen gedenke.« – »Das liegt in Ihrem Ermessen«, erwiderte die Lady mit erstickter Stimme, und Lord Nelvil entfernte sich.

Wie er jetzt die große Allee hinunterritt, gewahrte er von Weitem in dem Gehölz des Parks Lucilens vornehme Gestalt. Er mäßigte den Schritt seines Pferdes, um sie noch einmal zu sehen, und wiewohl sie sichtlich strebte, sich hinter den Bäumen zu verbergen, schien es ihm doch, als nehme sie dieselbe Richtung, welche er verfolgte. Die große Straße führte an einem das äußerste Ende des Parks abschließenden Pavillon vorüber. Oswald sah Lucile in diesen hineintreten, doch vermochte er, während des Vorüberreitens, in demselben nichts von ihr zu entdecken. Sich langsam entfernend, wendete er mehrmals den Kopf zurück, und endlich glaubte er in dem Gebüsch, das neben dem Pavillon weit genug auf die Straße vorsprang, um diese von dort aus in ganzer Ausdehnung übersehen zu können, ein Geräusch, eine Bewegung zu vernehmen. Er sprengte zurück, indem er sich das Ansehn gab, als habe er irgend einen Gegenstand verloren, und fand Lucile am Rand des Weges stehen. Sie zog, obwohl er sie hochachtungsvoll grüßte, schnell den Schleier über das Gesicht und verschwand in dem Gehölz, ohne zu überlegen, daß sie damit den Beweggrund, der sie hieher geführt, eingestand. Das arme Kind hatte im Leben noch nichts so Lebhaftes und Strafbares empfunden, als das Gefühl, welches sie getrieben, Lord Nelvil noch einmal zu sehen; und statt diesen einfach zu grüßen, eilte sie schuldbewußt hinweg, sich verrathen und in dem Urtheil des fremden Mannes sich verloren glaubend. Oswald hatte Alles dies recht gut verstanden; er fühlte sich durch dieses unschuldige, so schüchtern und aufrichtig ausgedrückte Interesse wohlthuend geschmeichelt. »Keine«, dachte er, »kann wahrhaftiger sein als Corinna, aber Keine auch kannte sich und Andere besser; Lucile müßte man die Liebe, die sie empfindet, und die, welche sie erregt, erst verstehen lehren. Könnte aber wohl dieser Eintagszauber für das ganze Leben ausreichen? Und weil diese holde Unkenntniß seiner selbst nicht immer währen kann, weil man endlich doch in sein Inneres schauen, endlich doch prüfen muß, was man fühlt, ist da die Reinheit, die das Selbsterkennen überdauert, nicht mehr werth, als die, welche ihm vorangeht?«

Schon zog er zwischen Corinna und Lucile Vergleiche; doch es war dieses Vergleichen, so glaubte er wenigstens, nichts weiter als ein Zeitvertreib für seine Gedanken, und die Besorgniß, es könne ihn tiefer beschäftigen, fiel ihm gar nicht ein.

Siebentes Kapitel.

Oswald begab sich nun nach Schottland. Die Erregung, in welche ihn Lucile versetzt, das Gefühl, das er Corinna noch bewahrte, sie wurden jetzt von der Erschütterung verdrängt, mit der er die Heimat wiedersah. Er machte sich die Zerstreuungen des verflossenen Jahres zum Vorwurf; es war ihm, als sei er nicht mehr würdig, das Vaterhaus zu betreten, als hätte er es nie verlassen dürfen. Ach, wie sollte man nach dem Verlust dessen, was man am meisten geliebt, mit sich selbst zufrieden sein, wenn man nicht in tiefster Zurückgezogenheit geblieben ist? Es genügt, in der Gesellschaft zu leben, um immer auf irgend eine Weise den Cultus Derer, die nicht mehr sind, zu vernachlässigen. Umsonst wohnt ihr Gedächtniß im tiefen Herzensgrund: man läßt sich miterfassen von der Thätigkeit der Lebenden, welche den Gedanken an den Tod als schmerzlich, oder überflüssig oder sogar ermüdend zurückweist. Kurz, wenn nicht Einsamkeit den Kummer und die trauernde Sehnsucht verlängert, bemächtigt sich das Leben, wie es nun einmal ist, von Neuem auch des besten Herzens, und erfüllt es wieder mit Interessen, Wünschen, Leidenschaften. Diese Notwendigkeit, sich zu zerstreuen, ist eine erbärmliche Bedingung der menschlichen Natur, und obwohl die Vorsehung den Menschen so gewollt hat, damit er den eigenen Tod, wie den der Andern, zu ertragen vermöge, fühlt man sich doch oft inmitten des Vergnügens von dem Vorwurf ergriffen: daß man desselben fähig ist. Es ist, als ob eine rührende und entsagende Stimme uns zuflüstere: »Ich liebte Dich, und Du kannst mich vergessen?«

Mit solchen Gefühlen betrat Oswald sein Vaterhaus; nicht so in Verzweiflung, als bei seiner früheren Heimkehr, war er doch voll tiefster Traurigkeit. Er sah, wie die Zeit einen Jeden an den Verlust dessen gewöhnt hatte, den er beweinte. Die Dienerschaft glaubte ihm nicht mehr davon sprechen zu dürfen, und Alles hatte längst seine gewohnten Beschäftigungen wieder aufgenommen. Die Reihen schlossen sich, und das Geschlecht der Kinder wuchs heran, um das der Väter zu ersetzen. Oswald zog sich in die Gemächer seines Vaters zurück, in denen er Alles an seinem alten Platze fand. Aber wo war die Stimme, welche der seinen antwortete; wo das Vaterherz, das höher schlug, wenn es den Sohn erblickte? Lord Nelvil blieb lange in tiefem Nachsinnen. »O Schicksal!« rief er, mit von Thränen überströmtem Angesicht, »was willst du von uns? Ist all das Leben nur, auf daß es zu Grunde gehe? Erstehen so viele Gedanken, damit sie verflüchtigen? Nein, nein! er hört mich, mein einziger Freund, er ist mir gegenwärtig, er sieht meine Thränen, und unsere unsterblichen Geister erwarten einander. O mein Vater! O mein Gott! leitet mich durch das Leben. Jene ehernen Seelen, mit den unbeweglichen Eigenschaften der gröberen Natur, sie kennen keine Unentschiedenheit, keine Reue; aber die mit Einbildungskraft, mit Gefühl und Gewissenhaftigkeit begabten Wesen vermögen kaum einen Schritt zu thun, ohne fürchten zu müssen, daß sie irren. Sie suchen die Pflicht als Führer, und selbst die Pflicht wird ihrem Urtheil unklar, wenn die Gottheit sie ihnen nicht offenbart.«

Abends ging Oswald in der Lieblingsallee seines Vaters auf und nieder; überall glaubte er dessen theures Bild zu sehen. Ach! Wer hat während heißen Gebets nicht zuweilen gehofft, daß er kraft seiner Liebe ein Wunder bewirken könne! Eitle Hoffnung! Vor dem Grabe stehen wir als Unwissende. Ungewißheit der Ungewißheiten! den Alltäglichen beunruhigest du nicht. Doch je mehr das Denken sich veredelt, je mehr wird es unwiderstehlich hingezogen zu den Abgründen der Betrachtung. Oswald, ganz in diese Grübeleien versunken, bemerkte nicht, daß jetzt ein Wagen in der Auffahrt hielt; ein Greis stieg aus und kam langsam auf Oswald zu. Es war Herr Dickson, der alte Freund seines Vaters, und er empfing diesen jetzt mit einer Innigkeit, wie er sie früher nie für ihn gefühlt hatte.

Achtes Kapitel.

Herr Dickson glich dem Vater Oswalds durchaus nicht; er besaß weder dessen Geist, noch Charakter; doch war er bei Lord Nelvils Tode zugegen gewesen, und da beide Freunde von gleichem Alter waren, schien es, als sei der Eine nur noch ein wenig hier zurückgeblieben, um dem Andern bald von dieser Welt Nachricht zu bringen. Oswald lieh dem alten Manne seinen Arm, als er ihn die Treppe hinaufführte, und leistete ihm auch sonst mit Herzlichkeit all jene Aufmerksamkeiten, die er so gern noch seinem Vater hätte erweisen mögen. Herr Dickson kannte Oswald von dessen frühester Kindheit an und ohne Zögern, wie ohne Zwang, begann er ihm sogleich von seinen Angelegenheiten zu reden. Er tadelte sein Verhältniß zu Corinna auf das Nachdrücklichste; doch würden des Greises schwache Einwände Oswald noch weniger als die der Lady Edgermond beeinflußt haben, wenn er ihm nicht zugleich jenen schon erwähnten Brief eingehändigt hätte, den Lord Nelvil einst in Betreff Corinnens an Lord Edgermond schrieb, als er den Plan der Vermählung dieser mit seinem Sohne nicht ausgeführt sehen wollte. Hier folgte dieser, im Jahre 1791 während Oswalds Aufenthalt in Frankreich geschriebene Brief. Der Sohn las ihn zitternd.

Brief Lord Nelvils an Lord Edgermond.

»Werden Sie es mir verzeihen, mein Freund, wenn ich Ihnen in dem, zwischen unsern Familien verabredeten Heirathsprojekte eine Veränderung vorschlage? Mein Sohn ist ein und ein halbes Jahr jünger, als Ihre älteste Tochter, und es wäre darum wohl besser, ihm Lucile zu bestimmen, die zwölf Jahre weniger als ihre Schwester zählt. Ich könnte mich auf diesen Grund beschränken; da mir jedoch das Alter von Miß Edgermond bekannt war, als ich um sie für Oswald bei Ihnen warb, wäre es ein Mangel an vertrauender Freundschaft, wenn ich Ihnen nicht die eigentlichen Gründe angäbe, die mich von dieser Verbindung abstehen lassen. Wir sind seit zwanzig Jahren Freunde und dürfen deshalb rückhaltslos über unsere Kinder mit einander sprechen; um so mehr, als sie noch so jung sind, daß sie sich nach unserm Rathe umbilden können. Ihre Tochter ist bezaubernd; bezaubernd wie eine jener schönen Griechinnen, welche die Welt hinrissen und unterjochten. Nehmen Sie an diesem Vergleich keinen Anstoß. Ihre Tochter hat von Ihnen ohne Zweifel nur die reinsten Grundsätze und Empfindungsweisen gelernt, hat sicherlich nur solche in ihrem eigenen Herzen genährt; allein sie scheint mir ein wenig zu sehr von dem Wunsche belebt, zu gefallen, einzunehmen, Effekt zu machen. Ihre Begabung ist freilich größer, als ihre Eigenliebe, und es ist eben nur eine Notwendigkeit, dieses Verlangen nach weiterer Entfaltung eines so seltenen Talents. Ich weiß gar nicht, welch ein Schauplatz solcher Geistesthätigkeit, solcher überschwänglichen Einbildungskraft, kurz einem so glühenden Charakter, wie er sich in dem ganzen Wesen Ihrer Tochter kundgiebt, genügen könnte. Sie würde meinen Sohn dem heimatlichen Boden entführen, denn eine derartige Frau kann hier nicht glücklich sein, und Italien allein ist der für sie geeignete Aufenthalt.

»Sie bedarf jener unabhängigen Art zu leben, die sich nur dem Augenblick unterwirft. Unser Landleben, unsere häuslichen Gewohnheiten müssen begreiflicher Weise ihren Neigungen entgegen stehen. Ein Mann, der das Glück hat, als Bürger unseres edlen Vaterlandes geboren zu sein, muß vor Allem seine Pflichten als solcher erfüllen, muß vor Allem Engländer sein; und in Ländern, wo die politischen Institutionen den Männern die ehrenvollste Gelegenheit zur Thätigkeit, zu öffentlichem Hervortreten geben, sollen die Frauen im Schatten bleiben. Wie aber könnte eine Frau von so seltener Auszeichnung, wie Ihre Tochter, sich an solchem Loose genügen lassen? Glauben Sie mir, sie gehört nach Italien. Ihr Herz, ihre Religion, ihre Gaben, Alles zieht sie dorthin. Verheirathen Sie sie dort. Mein Sohn, als der Gatte Miß Edgermonds, würde sie ohne Zweifel höchst leidenschaftlich lieben, denn unmöglich kann ein Weib hinreißender sein, als sie. Um ihres Beifalls willen würde er folglich in seinem Hause fremde Sitten einführen, und wie bald verlöre er dann den nationalen Sinn und jene Vorurtheile, wenn Sie wollen, die uns untereinander verbinden, die aus unserer Nation ein Ganzes, eine freie, unauflösbare Genossenschaft machen, eine Verbrüderung, die nur mit den Letzten von uns zu Grunde gehen kann. Mein Sohn würde sich bald in England unbehaglich fühlen, wenn er seine Frau dort nicht glücklich sähe; er hat, ich weiß es, die ganze Schwäche, welche mit sehr weichem Gefühl verbunden zu sein pflegt; und wenn ich dieses Verläugnen seines Vaterlandes noch erlebte, gäbe mir der Schmerz darum den Tod: nicht allein, weil es mir den Sohn raubte, sondern auch, weil es ihn um die Ehre brächte, seinem Staate zu dienen.

»Welch eine Bestimmung wäre es denn für ein Kind unserer Berge, im Schooße der Freuden Italiens ein müßiges Leben zu verträumen? Ein Schotte, der Cicisbeo seiner Frau! Wenn nicht noch gar der einer Andern! Seiner Familie kein Lenker, keine Stütze! Wie ich Oswald kenne, würde Ihre Tochter viel Einfluß über ihn gewinnen. Es ist mir deshalb sehr lieb, daß sein gegenwärtiger Aufenthalt in Frankreich ihm die Gelegenheit entzogen hat, Miß Edgermond zu begegnen. Ja, für den Fall ich vor der Verheirathung meines Sohnes stürbe, wage ich Sie anzuflehen, mein Freund, ihn nicht mit Ihrer ältesten Tochter bekannt zu machen, ehe die jüngere in dem Alter ist, um ihn fesseln zu können. Unser Verhältniß ist so alt und heilig, daß ich diesen Beweis der Freundschaft von Ihnen wohl erwarten darf. Machen Sie Oswald, falls es nöthig sein sollte, in Betreff dieses Punktes mit meinem Willen bekannt; ich bin überzeugt, er wird ihn ehren; vollends ehren, wenn ich dann nicht mehr unter den Lebenden bin.

»Und schenken Sie, bitte ich, dagegen der Verbindung Oswalds und Lucilens Ihre ganze Billigung. In den Zügen Ihrer jüngeren Tochter, in dem Gesichtsausdruck, dem Ton ihrer Stimme liegt die rührendste Bescheidenheit; und wenn sie auch noch sehr Kind ist, glaube ich doch schon in ihr die wahre Engländerin, also eine Frau zu sehen, die einst das Glück meines Sohnes begründen könnte. Sollte ich nicht lange genug leben, um Zeuge dieser Vereinigung zu sein, so werde ich mich ihrer noch im Himmel freuen, und wenn wir uns dort einst wiederfinden, mein theurer Freund, soll unser Segen und Gebet auch dann noch das Glück unserer Kinder behüten. Ganz der Ihre.

Nelvil.«

Oswald blieb eine Weile sprachlos, nachdem er gelesen, und Herr Dickson hatte Zeit genug, in seinen langen Reden ohne Unterbrechung fortzufahren. Er bewunderte die Scharfsicht seines Freundes, mit welcher er Miß Edgermond so richtig beurtheilt habe, obgleich er ja noch weit entfernt gewesen sei, die höchst tadelnswerthe Aufführung, deren sie sich seither schuldig gemacht, vorauszusehen. Er behauptete, eine solche Wahl würde dem Gedächtnisse des Vaters die tödtlichste Beleidigung sein. Oswald erfuhr auch von ihm, daß während seines zweiten Aufenthalts in Frankreich, im Jahre 1792, sein Vater einen ganzen Sommer bei Lady Edgermond zugebracht, nur in ihrem Umgange Trost gefunden und sich dort mit der Erziehung Lucilens, seines Lieblings, beschäftigt habe. Kurz, Herr Dickson griff Oswalds Herz ohne Berechnung zwar, aber auch ohne Schonung, bei seinen empfindlichsten Seiten an.

So vereinigte sich Alles, um das Glück der abwesenden Corinna zu untergraben. Sie hatte keine andere Vertheidigung als ihre Briefe, und was stand ihr nicht Alles entgegen: die Natur der Verhältnisse, der Einfluß der Heimat, das Angedenken eines Vaters, die Beschwörungen der Freunde zu Gunsten des Bequem-conventionellen, zu Gunsten eines dem Laufe des alltäglichen Lebens entsprechenden Beschlusses, und endlich der sich entfaltende Zauber eines jungen Mädchens, das mit den reinen und friedlichen Hoffnungen auf häusliches Glück in schöner Uebereinstimmung stand.


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