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Es war der letzte Tag des Karneval, des lärmendsten Festes im ganzen Jahre, an welchem das Volk in Rom von einem wahren Freudenfieber, von einem Taumel des Vergnügens ergriffen wird, wie er in anderen Ländern seines Gleichen nicht findet. Alles ist maskirt; kaum daß sich in den Fenstern hie und da Leute zeigen, die ohne Masken und folglich unthätige Zuschauer des Festes sind. Dieses muntere Treiben beginnt an einem bestimmten Tage, ohne daß irgend welche öffentlichen oder privaten Ereignisse des verflossenen Jahres leicht Jemand hinderten, an demselben Theil zu nehmen.
Hier hat man Gelegenheit, von der Einbildungskraft des Volkes eine Vorstellung zu gewinnen. Die italienische Sprache ist selbst in ungebildetem Munde noch voller Reiz. Alfieri sagte schon, daß er in Florenz auf den öffentlichen Markt gehe, um ein gutes Italienisch sprechen zu hören. Rom bietet den gleichen Vortheil, und diese beiden Städte sind vielleicht die einzigen der Welt, wo das niedere Volk so gut spricht, daß man dem geistreichen Scherz an allen Straßenecken begegnen kann.
Allerlei Ausgelassenheit, wie sie in den Harlekinsspäßen und in den komischen Opern herrscht, ist hier selbst unter Menschen ohne Erziehung sehr verbreitet; und in der Carnevalszeit, wo Uebertreibung und Caricatur nun einmal vorausgesetzt sind, spielen sich unter den Masken die drolligsten Scenen ab.
Oft stellt sich dieser Lebhaftigkeit ein grotesker Ernst entgegen, und man möchte dann glauben, daß ihre wunderlichen Costüme ihnen solch ungewohntes Würdegefühl verleihen. In ihren Verkleidungen verrathen sie mitunter eine überraschende Kenntniß der Mythologie, und die ältesten Sagen scheinen unter dem Volke noch frisch zu leben. Häufig spotten sie der gesellschaftlichen Zustände mit derbem und höchst originellem Witz. Diese Nation scheint in ihren Lustbarkeiten viel bedeutender, als in ihrer Geschichte. Die italienische Sprache beweist sich gegen alle Abstufungen der frohen Laune von bequemster Nachgiebigkeit, und es bedarf nur eines leichten Biegens oder Fallens der Stimme, um den Sinn der Rede zu veredlen oder herabzuziehen, um ihn abzuschwächen oder nachdrücklicher zu machen. Besonders hat sie in dem Munde der Kinder sehr viel Anmuth. Die Unschuld dieses Alters kontrastirt mit der neckischen Gewandtheit solchen Geschwätzes oft höchst zierlich.Anmerkung der Autorin: In Toscana fragte ich ein kleines Mädchen: wer hübscher sei, sie oder ihre Schwester. O, sagte sie: il più bel viso è il mio, das schönste Gesicht habe ich. Man kann wohl sagen, daß es eine Sprache ist, die von selbst redet, die fast immer scharf ausprägt, ohne daß man darauf Acht zu haben braucht, und die meistens geistreicher klingt, als der es sein mag, welcher sich ihrer bedient. In den Festen des Carneval ist weder Luxus, noch guter Geschmack. Durch ein gewisses, allgemeines Ungestüm werden sie Bacchanalien der Fantasie, aber auch nur der Fantasie; denn die Römer sind im Ganzen mäßig und höchst ernsthaft, diese letzten Carnevalstage eben ausgenommen. Man macht stets und nach allen Richtungen hin in dem Charakter der Italiener plötzliche Entdeckungen, und das trägt besonders dazu bei, ihnen diesen Ruf von List und Schlauheit zu geben. Freilich ist in diesem Lande, das so verschiedenes Joch getragen, die Verstellung zur Gewohnheit geworden; doch muß man den jähen Uebergang von einer Weise zur andern nicht immer diesem Fehler zuschreiben. Oft ist ihre so leicht entzündete Fantasie Ursache davon. Ein nur geistreiches, nur vernünftiges Volk hat es leicht, verständlich und vorsichtig zu sein; wogegen eines, das viel in der Einbildung lebt, sich oft fremd und unerwartet äußern mag. Die Einbildungskraft überspringt das Hinüberleitende, Vermittelnde; ein Nichts kann sie verletzen, und dann ist sie auch wieder gleichgültig, wo sie am meisten in Aufregung sein sollte; kurz, ihre schließlichen Eindrücke sind aus den äußeren Veranlassungen nicht immer vorauszusehen. So ist es z. B. nicht recht zu begreifen, welches Vergnügen die römischen Großen darin finden, stundenlang den Corso auf und ab zu fahren, sei dies nun während des Carneval oder zu anderer Zeit. Nichts bringt sie von dieser Gewohnheit ab. Ebenso giebt es auch Masken, die im lächerlichsten Costüm und mit der gelangweiltesten Miene von der Welt einherwandeln, die wie betrübte Hanswurste, wie düsterschweigende Polichinelle während des ganzen Abends kein Wort reden, aber doch, so zu sagen, ihr Carnevals-Gewissen auf diese Weise beruhigen wollen. Man sieht in Rom eine Art Masken, die es nirgend sonst giebt; das sind die, welche man den antiken Statuen nachbildet. Sie täuschen in der Entfernung durch vollendete Schönheit, und die Frauen verlieren oft sehr, wenn sie jene Masken abnehmen. Aber dennoch haben diese Nachahmungen, diese umherwandelnden Wachsgesichter, wie hübsch sie auch sind, durch ihre leblose Unbeweglichkeit etwas Scheuerregendes.
Die Vornehmen glänzen in den letzten Carnevalstagen durch großen Equipagen-Luxus; indessen liegt der eigentliche Reiz dieses Festes in dem Volksgedränge und der allgemeinen Verworrenheit. Es ist wie eine Erinnerung an die Saturnalien; alle Klassen vermischen sich; die ernsthaftesten Magistratspersonen fahren emsig, zuweilen mit einer rechten Amtsmiene, auf und nieder. Alle Fenster sind geschmückt, die ganze Stadt ist auf den Straßen, es ist im wahrsten Sinne ein Volksfest. Das Vergnügen des Volks besteht weder in Schauspielen, noch in Schmausereien, noch auch in der Pracht, von der es Zeuge ist. In dem Genuß von Wein und Speisen begeht es keine Maßlosigkeiten; dagegen liebt es diese, ihm gestattete Ungebundenheit, diesen scheinbar gleichgültigen Verkehr mit den Vornehmen, welche ihrerseits eine Lust darin finden, sich so in der Menge zu verlieren. Vor Allem ist es doch immer das Verfeinerte, das Ausgesuchte der Belustigungen, sowie die Sorgfalt und Vollendung der Erziehung, was zwischen den verschiedenen Klassen die Scheidewand aufrichtet. In Italien indeß ist die Trennung der Stände weniger scharf ausgeprägt; die natürliche Begabung und die Einbildungskraft Aller überwuchern hier selbst die Geistescultur der höhern Klassen. So hat man während des Carneval eine völlige Vermischung der Stände, der Lebensformen, der Bildungsgrade. Die Menge, das Rufen, die Witzesworte und die Confetti, mit welchen man die Vorüberfahrenden ohne Unterschied zu treffen sucht, schütteln hier alle sterblichen Wesen zusammen, werfen die ganze Nation bunt durcheinander, als gäbe es keine gesellschaftliche Ordnung mehr.
Mitten in diesen Tumult hinein geriethen jetzt Corinna und Lord Nelvil, als sie, Beide nachdenklich und in sich gekehrt, von Tivoli zurück kamen. Sie waren anfangs wie betäubt, denn nichts erscheint einem Gemüth, das eben ganz nach innen gewendet ist, unverständlicher, als diese thätige, lärmende Vergnüglichkeit. Auf der Piazza del popolo ließen sie halten, um das, neben dem Obelisken gelegene Amphitheater zu besuchen, von welchem aus man dem Rennen der Pferde zusehen kann. In dem Augenblick, als sie aus der Kalesche stiegen, wurden sie von Graf d'Erfeuil bemerkt, der Oswald sogleich bei Seite nahm, um mit ihm zu reden.
»Es ist nicht gut«, sagte er, »daß Sie sich mit Corinna so öffentlich zeigen, und vollends wie eben jetzt: allein miteinander vom Lande kommend. Sie setzen ihren Ruf auf's Spiel, und was wollen Sie nachher thun?« – »Ich glaube«, antwortete Lord Nelvil, »Corinna nicht damit zu kompromittiren, wenn ich die Neigung zur Schau trage, die ich für sie hege; doch wenn dem so wäre, würde ich nur zu glücklich sein, mit Aufopferung meines Lebens ...« – »Ach, was das Glücklichsein anbetrifft«, unterbrach Graf d'Erfeuil, »davon glaube ich nichts; man wird nur durch das Angemessene beglückt. Die Gesellschaft hat, was man auch sage, viel Macht über unser Glück, und was sie nicht billigt, soll man unterlassen.« – »So hätte man also nur darauf zu denken, was die Gesellschaft von uns will«, erwiderte Oswald, »und was man sonst denkt und fühlt, dürfte niemals als Richtschnur dienen! Wenn dies so nöthig wäre, wenn man unablässig einander nachahmen wollte, wozu dann noch Geist und Herz bei dem Einzelnen? Die Vorsehung hätte sich diesen Luxus sparen können.« – »Das ist Alles sehr gut«, erwiderte der Graf, »sehr schön gesagt und höchst philosophisch gedacht! Aber mit solchen Grundsätzen rennt man ins Verderben. Die Liebe vergeht, die öffentliche Meinung besteht. Sie halten mich für leichtsinnig, aber Sie werden mich im Leben nicht etwas thun sehn, das mir den Tadel der Welt zuziehen könnte. Man kann durch kleine Freiheiten, die man sich erlaubt, durch liebenswürdigen Scherz eine gewisse Unabhängigkeit der Ansichten an den Tag legen, aber nie darf man solche in seinen Handlungen zeigen; denn wenn die Sache ernsthaft wird ...« – »Ernsthaft!« rief Oswald, »aber das Ernsthafte daran ist ja eben die Liebe und das Glück.« – »Nein, nein«, entgegnete d'Erfeuil, »das wollte ich nicht sagen. Es giebt gewisse, nun einmal herrschende Convenienzen, denen man nicht entgegentreten darf, ohne für einen Sonderling zu gelten, für einen Mann – nun, Sie verstehen mich, – für Jemand, der anders ist, als die Anderen.« – Lord Nelvil lächelte; und ohne die mindeste Empfindlichkeit zog er den Grafen mit seiner leichtfertigen Strenge auf. Mit innerer Genugthuung empfand er, daß jener zum ersten Mal, und noch dazu in einer ihn so tief bewegenden Angelegenheit, ihn nicht beeinflusse. Corinna hatte aus der Entfernung den kleinen Hergang errathen. Aber Lord Nelvils Lächeln beruhigte sie, und dieses Gespräch, statt sie zu verstimmen, hatte Beide erst in die rechte Festlaune versetzt.
Der Wettlauf der Rosse sollte beginnen. Lord Nelvil erwartete davon etwas, den englischen Rennen Aehnliches, und er vernahm daher mit Verwunderung, daß es kleine Berberpferde seien, die man hier ganz frei, ohne Reiter laufen läßt. Dieses Schauspiel fesselt die Aufmerksamkeit der Römer im höchsten Grade. Sobald es anfängt, stellt sich die Menge in zwei langen Reihen zu beiden Seiten der Straße auf. Die eben noch mit Menschen überfüllte Piazza del popolo ist plötzlich leer. Jeder sucht auf den Tribünen Platz zu finden, und zahllose Köpfe mit schwarzen Augen wenden sich den Schranken zu, von welchen aus der Lauf beginnen soll.
Die Pferde werden von wohlgekleideten Stallknechten, die an ihren Erfolg das leidenschaftlichste Interesse setzen, herbeigeführt; sie sind ohne Sattel und Zaum, nur ein glänzendes Stück Zeug bedeckt ihren Rücken. Die Thiere stehen hinter der Barriere, und ihre Ungeduld, diese zu überspringen, ist kaum zu bändigen; sie müssen fortwährend mit Gewalt zurückgehalten werden; sie bäumen sich, sie wiehern und stampfen, als ob sie einen Ruhm schon gar nicht mehr erwarten können, den allein, ohne die lenkende Menschenhand zu erstreben, ihnen gestattet ist. Diese Ungeduld der Pferde, dazu das Schreien der Stallknechte machen aus dem Moment, wo die Schranken fallen, einen vollständigen Theatereffekt. Die Thiere gehen ab. »Platz! Platz!« ruft es von allen Seiten, mit unbeschreiblich eifrigem Entzücken. Die Stallknechte verfolgen ihre Pferde, so lange sie diese sehen können, mit Zurufen und Geberden, und die Thiere selbst sind eifersüchtig auf einander, wie Menschen. Das Pflaster sprüht unter ihren Hufen, ihre Mähnen fliegen, und ihr Drang, in solcher freien Selbstüberlassenheit den Sieg davon zu tragen, geht so weit, daß es welche gegeben hat, die von der Schnelligkeit ihres Laufes todt am Ziele niederfielen. Es hat etwas ganz Unheimliches, diese ungefesselten Rosse so von persönlicher Leidenschaft bewegt zu sehen, denn man wähnt, es sei Denkfähigkeit hinter dieser Thiergestalt verborgen. Die Reihen der Menge lösen sich auf, wenn die Pferde vorüberflogen; Alles eilt ihnen lärmend nach. Sie erreichen das Ziel, den Palast von Venedig, und nun muß man die Freude und den Triumph der Besitzer sehen, deren Pferde gesiegt haben. Einer, der den ersten Preis gewonnen, warf sich vor seinem Pferd auf die Kniee, dankte ihm, empfahl es dem heiligen Antonius, dem Schutzpatron der Thiere, und das Alles mit einer Begeisterung, die so ernsthaft war, als sie den Umstehenden komisch erscheinen mußte.Anmerkung der Autorin: Ein italienischer Postillon, der sein Pferd sterben sah, rief aus: O sant' Antonio, abbiate pietà dell' anima sua! O heiliger Antonius, erbarme Dich seiner Seele!
Wenn der Tag sich neigt, pflegen die Rennen beendigt zu sein, und dann beginnt eine andere, viel weniger malerische, aber ebenso lärmende Lustbarkeit. Die Fenster werden erleuchtet; selbst die Wachen verlassen jetzt ihre Posten, um sich in den allgemeinen Jubel zu mischen. Jeder versieht sich nun mit einer kleinen, brennenden Kerze, moccolo genannt, die er dem Andern auszulöschen sucht, indem er stets das Wort amazzare (tödten) mit entsetzlicher Lebhaftigkeit wiederholt. (Che la bella principessa sia amazzata! che il signore abbate sia ammazzato!) »Daß die schöne Fürstin getödtet werde! daß der Herr Abbé getödtet werde!« ruft man von einem Ende der Straße zum anderen.Anmerkung der Autorin: Ueber das römische Carneval muß man die reizende Beschreibung Goethe's lesen, die ein ebenso treues als lebhaftes Bild davon giebt. Die durch das jetzt eingetretene Verbot der Pferde und Wagen sicher gemachte Menge stürzt nun von allen Richtungen her durcheinander; kurz, es giebt kein anderes Vergnügen mehr, als betäubendes Toben und Lärmen. Die Nacht rückt vor; das Geräusch hört allmählig auf, das tiefste Schweigen folgt ihm, und von dem Allen bleibt nur ein verworrener Traum, der für einen Augenblick dem Volk seine Arbeit, dem Gelehrten seine Studien, dem großen Herrn seinen Müßiggang hinwegtäuschte.
Oswald hatte, seitdem er den Vater verloren, noch nicht den Muth gehabt, Musik zu hören. Er fürchtete diese weichen Harmonien, die einer schwermüthigen Stimmung so wohlthätig sind, dem wahren Kummer aber das tiefste Weh bereiten; Musik erweckt die schlummernden Erinnerungen! Wenn Corinna sang, hörte Oswald nur ihre Worte, sah er nur den Ausdruck ihrer Züge, war er einzig nur mit ihr beschäftigt. Vereinigten sich aber Abends auf der Straße mehrere Stimmen, die Weise irgend eines großen Meisters zu singen, – und dies geschieht häufig in Italien, – dann versuchte er anfangs wohl, ihnen zu lauschen, doch vermochte er es nie lange zu ertragen, weil er in eine tiefe, unklare Erregung gerieth, die alle seine Schmerzen wieder aufrührte. Nun aber sollte im Schauspielhause ein ausgezeichnetes Concert veranstaltet werden, bei welchem die ersten Sänger Roms mitzuwirken dachten, und Corinna bat Lord Nelvil, sie dorthin zu begleiten; er willigte ein, in der Hoffnung, daß die Gegenwart der Geliebten seine Empfindungen besänftigen werde.
Als Corinna in ihre Loge trat, wurde sie sogleich bemerkt, und da zu der Theilnahme, welche man immer schon für sie hegte, sich nun noch die glänzende Erinnerung an ihre Krönung auf dem Kapitol gesellte, wurde sie mit stürmischen Beifallsbezeigungen empfangen. Von allen Seiten rief man: »Es lebe Corinna!« und die von der allgemeinen Begeisterung mit ergriffenen Musiker stimmten Siegesfanfaren an; denn welcher Art auch ein Triumph sei, er ruft dem Menschen immer Krieg und Kampf zurück. Corinna war von diesem einstimmigen Zeugniß wohlwollendster Bewunderung tief bewegt. Die Musik, die ihr zujauchzenden Menschen, das Bravorufen, und jener nicht zu beschreibende Eindruck, welchen immer eine große, in den Ausdruck eines Gefühls zusammenstimmende Menschenmenge hervorbringt, versetzten sie in ernste Rührung, und wenn sie diese auch zu bekämpfen suchte, so füllten sich doch ihre Augen mit Thränen, und über ihrem pochenden Herzen hob und senkte sich das faltige Gewand. Oswald empfand darüber Eifersucht, und sich ihr nähernd sagte er halblaut: »Man darf Sie solchen Erfolgen nicht entreißen wollen, Madame; da sie Ihr Herz so in Aufruhr bringen können, gelten sie Ihnen wohl mehr, als die Liebe.« – Und ohne ihre Antwort abzuwarten, zog er sich zurück, um am äußersten Ende der Loge Platz zu nehmen. Sie war tief verletzt von seinen Worten; er raubte ihr damit alles Vergnügen an einem Erfolge, welcher sie eben deshalb so lebhaft erfreute, weil er Zeuge davon war.
Das Concert begann. Wer den italienischen Gesang nicht kennt, hat auch von der Musik keine Vorstellung. Es liegt eine Weichheit, eine Biegsamkeit in diesen Stimmen, die uns an der Blumen Duft, an des Himmels Reinheit erinnern. Die Natur hat diese Musik für das Klima gemacht; die eine ist wie ein Reflex des andern und man fühlt auch hier: die Welt ist das Werk eines einzigen Gedankens, der in tausendfach verschiedener Gestalt immer wieder zur Erscheinung kommt. Seit Jahrhunderten lieben die Italiener die Musik mit Leidenschaft. Dante, in seiner Dichtung vom Fegefeuer, begegnet einem der besten Sänger seiner Zeit; er bittet ihn, eines seiner köstlichen Lieder zu singen, und die entzückten Seelen vergessen sich, und lauschen ihm, bis ihr Hüter sie wieder ruft. Christen, wie Heiden, hielten die Macht der Musik bis über den Tod hinausreichend. Von allen schönen Künsten wirkt diese am unmittelbarsten auf das Gemüth. Die anderen erfüllen es mit dieser oder jener Vorstellung, und nur die Musik allein wendet sich an des Daseins innersten Quell, und vermag eine vorhergehende Seelenstimmung ganz umzuwandeln. Was man von der göttlichen Gnade sagt, daß sie plötzlich die Herzen umschaffe, ist in irdischem Sinne auch auf die Musik anzuwenden, und die aus ihr aufsteigenden Ahnungen eines zukünftigen Lebens sind nicht durchaus abzuweisen.
Selbst die Heiterkeit der profanen Musik ist nicht von niederer Art, und läßt keineswegs die Fantasie unberührt. Auf dem Grunde des von ihr geschaffenen Frohsinns ruhen oft poetische Gedanken, angenehme Träumereien, welche der gesprochene Scherz nie zu erzeugen vermöchte. Die Musik ist ein so schnell vorüberschwebendes Vergnügen, man fühlt es so mit dem Genuß entrinnen, daß Schwermuth sich auch in ihre heitern Weisen mischt; dafür aber gesellt sie auch ihrem Ausdruck des Schmerzes ein Gefühl schwärmerischen Behagens bei. Das Herz pocht schneller bei ihren Rhythmen; des Taktes Regelmäßigkeit giebt uns eine gewisse Befriedigung, mahnt an die Flüchtigkeit der Zeit, mahnt, daß man sie genießen soll! Es giebt keine Leere, kein Schweigen mehr um uns, in uns; der Sinn ist erfüllt, das Blut strömt rascher, wir fühlen neues, thätiges Leben in uns!
Die Musik steigert das Vertrauen zu unseren Fähigkeiten; unter ihrem anfeuernden Einfluß fühlt man sich kühn bereit zu edlem Thun. Mit ihr geht man voller Begeisterung in den Tod. Sie hat die schöne Ohnmacht, nichts Niedriges, keine Arglist, keine Lüge ausdrücken zu können. Das Unglück selbst redet in ihrer Sprache ohne Bitterkeit, ohne Zerrissenheit, ohne Zorn. Sanft hebt sie die Last hinweg, welche der nur allzu oft auf dem Herzen trägt, der ernst und groß zu lieben weiß, – jene Last, deren Druck uns so gewohnt wird, daß er sich endlich ganz mit dem Gefühl des Daseins verwächst. Wenn uns Musik umgiebt, ist es, als ständen wir nahe davor, des Schöpfers Absicht zu erfassen, das Geheimniß unseres Lebens zu durchdringen. Nicht Worte vermögen die tiefe Innerlichkeit dieser Stimmung zu schildern, denn Worte schleppen sich nur den ursprünglichen Eindrücken nach, wie eine prosaische Übertragung dem dichterischen Redeschwung. Nur das Auge kann einigermaßen eine Vorstellung davon geben, nur jener Blick des Geliebten, wenn er sich lange auf uns herabsenkt, uns allmählig das Herz durchdringt, daß wir die Augen niederschlagen müssen und uns schüchtern dem heißen Glück entziehen möchten: wie ein Lichtstrahl aus höherer Welt das sterbliche Wesen verzehren würde, das sich unterfinge, keck zu ihm aufzuschaun.
In dem zweistimmigen Satz der großen Meister bringt uns das wundervolle Sichineinanderfügen der Stimmen oft zu tiefer Rührung, die indeß leicht in ein bestimmtes Schmerzgefühl übergreift. Das Wohlgefühl ist fast zu köstlich, und die Seele vibrirt darunter, gleich den zu rein gestimmten Saiten eines Instruments, welche ein zu vollkommener Einklang zerreißt.
Während des ersten Theiles des Concerts hatte sich Oswald beständig von Corinna fern gehalten; als das Duo jetzt in süßem mezza voce, und begleitet von weichen Blasinstrumenten, einsetzte, drückte sie, voll inniger Bewegung, ihr Gesicht in das Taschentuch; sie weinte ohne Schmerz, sie liebte ohne Furcht. Oswalds Bild war wohl wie sonst in ihrem Herzen, aber die edelste Begeisterung verklärte dieses Bild. Verworrene Gedanken stürmten durch ihre Seele; sie hätte dieselben, um sie zu ordnen, erst mäßigen müssen. Ein Prophet, sagt man, habe in einer Minute sieben Regionen des Himmels durcheilt; wer so im Stande war, fühlend zu umfassen, was ein einziger Moment in sich zu schließen vermag, der hat sicher einst eine hohe Musik in der Nähe des Geliebten an sich vorüberziehen hören. Auch Oswald empfand diese Macht, sie drängte allmählig seinen Mißmuth zurück. Corinnens Rührung erklärte ja Alles, rechtfertigte Alles. Er näherte sich ihr leise und während des höchsten Aufschwunges dieser göttlichen Musik hörte sie ihn neben sich athmen. Es überwältigte sie; das höchste, tragische Pathos hätte sie nicht so erschüttern können, als dieses Gefühl heißer, zärtlicher Leidenschaft, das Beide gleichzeitig durchdrang, und das mit jedem Augenblick, mit jedem Ton zu wachsen schien. Der Text bedeutet meist nicht viel bei solcher Wirkung, von Zeit zu Zeit geben wohl einige Worte von Liebe und Tod den Gedanken eine Richtung; aber häufiger schmiegt sich die Musik in ihrer Unbestimmtheit den Regungen der Seele an, und Jeder glaubt in dieser Melodie, wie in dem klaren, unerreichbaren Gestirn der Nacht, das Bild seines irdischen Wünschens zu finden.
»Führen Sie mich hinaus«, sagte Corinna zu Lord Nelvil; »ich bin fast einer Ohnmacht nahe.« – »Was fehlt Ihnen?« fragte Oswald beunruhigt, »Sie sind blaß. Kommen Sie; Sie müssen ins Freie.« – Corinna, auf Oswalds Arm gestützt, fühlte, als ob ihre Kräfte dadurch wiederkehrten. Sie traten auf einen Balkon. »Mein theurer Oswald«, sagte Corinna bewegt, »ich werde Sie auf acht Tage verlassen.« – »Was meinen Sie?« unterbrach sie Oswald. – »Ich bringe alljährlich, beim Herannahen der Charwoche, einige Zeit in einem Kloster zu, um mich auf das Osterfest vorzubereiten«, erwiderte Corinna. Oswald hatte dieser Absicht nichts entgegen zu setzen; er wußte, daß sich um diese Zeit viele römische Damen den strengsten Andachtsübungen unterwarfen, ohne sich indessen für den Rest des Jahres ernstlich mit der Religion zu beschäftigen; aber es erinnerte ihn dies nun an Corinnens von der seinen abweichende Confession, die ihm nicht gestattete, mit ihr zu beten. »Ach!« rief er, »warum haben wir nicht Eine Religion! Warum nicht Ein Vaterland?« – Er hielt inne. »Sind denn unsere Seelen, und unsere Geister nicht aus Einem Vaterland?« entgegnete Corinna. »Das ist wahr«, antwortete Oswald; »doch fühle ich darum nicht weniger schmerzlich Alles, was uns trennt.« – Und diese bevorstehende, achttägige Abwesenheit bedrückte ihm das Herz so sehr, daß er den Abend hindurch, als Corinna's Freunde um sie versammelt waren, kein Wort mehr zu reden wußte.
Oswald ging folgenden Tages schon frühzeitig zu Corinna, deren Mittheilung von gestern ihn beunruhigte. Ihre Kammerfrau kam ihm entgegen, um ihm ein Billet ihrer Herrin einzuhändigen, welches ihn benachrichtigte, daß sie sich an eben diesem Morgen in ein Kloster zurückgezogen habe und, wie sie das bereits gesagt, ihn erst nach dem Charfreitage wiedersehen werde. Sie gestand, daß sie Abends vorher nicht den Muth gehabt habe, ihm auch noch diese rasche Ausführung ihres Entschlusses mitzutheilen. Oswald war höchst peinlich betroffen. Diese Räume, in denen er Corinna gesehen, und die nun so verödet waren, machten ihm den schmerzlichsten Eindruck. Da war ihre Harfe, hier lagen ihre Bücher, ihre Zeichnungen, Alles, was sie gewöhnlich umgab, und sie nur fehlte. Ein ahnender Schauer durchbebte ihn: er erinnerte sich des verlassenen Zimmers seines Vaters.
»So kann ich einst vielleicht auch ihren Verlust erfahren«, sagte er vor sich hin, als er sich müde auf einen Stuhl sinken ließ; »dieser hohe Geist, dies reiche Herz, diese in Leben und Liebe leuchtende Gestalt kann der Tod erfassen, und das Grab der Jugend wäre dann so stumm, wie das des Alters? O, welche Täuschung ist das Glück! Und weshalb von der unerbittlichen Zeit, die immer über ihrer Beute wacht, sich noch einen schönen Augenblick rauben lassen? Corinna! Corinna! Du hättest mich nicht verlassen sollen! Unter Deinem Zauber vergaß ich alles grübelnde Nachsinnen; alles Andere versank im Glanz Deiner Gegenwart; jetzt, nun ich allein bin, jetzt finde ich mich wieder und meine Wunden brechen auf.« – Und er rief ihren Namen mit einer Art von Verzweiflung, die man nicht ihrer kurzen Abwesenheit beimessen konnte, sondern seiner steten quälenden Herzensangst, welche Corinna allein zu besänftigen im Stande war. Die Kammerfrau kam wieder herein; sie hatte Oswalds Selbstgespräch wohl zum Theil gehört, und davon gerührt sagte sie nun: »Mylord, ich will Ihnen ein Geheimniß meiner Herrin anvertrauen; vielleicht kann ich Sie damit ein wenig trösten. Folgen Sie mir in das Schlafzimmer, Sie werden dort Ihr Portrait sehen.« – »Mein Portrait!« rief Oswald, – »Sie hat es aus dem Gedächtnisse gemalt«, erwiderte Theresina (so hieß Corinnens Kammerfrau); »seit acht Tagen ist sie Morgens schon um fünf Uhr aufgestanden, um damit fertig zu sein, ehe sie ins Kloster ging.«
Oswald besichtigte das sehr ähnliche, mit vieler Sorgfalt angefertigte Portrait, welches Zeugniß gab, wie gegenwärtig er ihren Gedanken war. Seinem Bilde gegenüber hing das sehr schöne einer heiligen Jungfrau, und vor demselben stand Corinnens Betstuhl. Solche wunderliche Mischung von Liebe und Religion findet sich bei den meisten Frauen Italiens, und das oft unter viel ungewöhnlicheren Verhältnissen. Corinna, frei wie sie war, verknüpfte den Gedanken an Oswald nur mit den reinsten Gefühlen und Hoffnungen. Doch das Bild des Geliebten so einem Sinnbilde der Gottheit gegenüberstellen, und sich auf die Zurückgezogenheit eines Klosters durch acht, der Anfertigung dieses Bildes gewidmete Tage vorbereiten, das war immerhin ein Zug, der mehr noch die italienischen Frauen im Allgemeinen, als Corinna im Besonderen charakterisirte. Ihre Art von Frömmigkeit ließ mehr Fantasie und Gefühl, als seelischen Ernst und Strenge der Grundsätze vermuthen, und nichts konnte Oswalds Ansichten über ein richtiges Erfassen der Religion entgegengesetzter sein. Wie aber hätte er Corinna in einem Augenblicke tadeln können, wo er einem so rührenden Beweis ihrer Liebe begegnete?
Seine Blicke schweiften nachdenklich durch dieses zum ersten Mal von ihm betretene Gemach. Zu Häupten von Corinnens Bett sah er das Portrait eines älteren Mannes, dessen Züge jedoch durchaus nicht den Italiener verriethen. Zwei Armbänder waren an diesem Bilde befestigt: das eine aus schwarzen und weißen Haaren, das andere aus Haaren von wunderschönem Blond geflochten; und was Lord Nelvil als ein sonderbarer Zufall erschien: diese letzteren erinnerten ganz an die von Lucile Edgermond, deren seltene Schönheit ihm vor drei Jahren sehr aufgefallen war. Oswald betrachtete diese Armbänder schweigend, denn Theresina über ihre Herrin auszufragen, wäre ihm nicht in den Sinn gekommen; die Kammerfrau jedoch, welche Oswald zu errathen meinte, und seine Eifersucht erregt glaubte, beeilte sich ihm zu sagen, daß Corinna die Armbänder schon seit den eilf Jahren trage, während welcher sie ihr diene, und daß dies die Haare von Corinnens Vater, Mutter und Schwester seien. »Seit eilf Jahren sind Sie bei Corinna?« fragte Lord Nelvil, »so wissen Sie also – –« und dann brach er ab, über die unwillkürliche Frage erröthend, die zu äußern er im Begriffe war, und verließ schnell das Haus, um jeder weiteren Versuchung zu entfliehen.
Im Fortgehen wendete er sich mehrere Mal nach Corinnens Fenstern zurück; doch als auch diese ihm entschwanden, kam neue Trauer, die Trauer der Einsamkeit, über ihn. Er ging Abends in große Gesellschaft und versuchte sich zu zerstreuen, denn um in der Träumerei einen Reiz zu finden, muß man im Glück, wie Unglück, mit sich selbst im Frieden sein.
Die große Welt wurde Lord Nelvil bald ganz unerträglich; nun erst, da er die Leere, die Nüchternheit gewahrte, welche durch Corinnens Abwesenheit in der Gesellschaft entstanden, nun erst begriff er den Zauber und das schöne Geistesleben, das sie um sich zu verbreiten wußte. Er versuchte, mit einigen Damen zu reden; allein diese antworteten ihm in den landläufigen Phrasen, mit denen man sein Gefühl, seine Meinungen und besonders die Wahrheit verbirgt, wenn überhaupt die, welche sich deren bedienen, in dieser Beziehung etwas zu verbergen haben. Er trat zu den Männern, die, nach Geberde und Stimme zu urtheilen, sich eifrig über wichtige Gegenstände besprachen, und er hörte, daß man alltägliche Dinge in der alleralltäglichsten Form verhandelte. Darauf nahm er schweigend Platz und sah gelassen jener ziel- und zwecklosen Beweglichkeit zu, wie sie eben in den meisten Gesellschaften zu finden ist. Übrigens ist in Italien die Mittelmäßigkeit noch gutmüthig genug; sie zeigt wenig Eitelkeit, wenig Eifersucht, hat meist sogar viel Wohlwollen für geistige Überlegenheit, und wenn sie zuweilen auch recht lästig werden kann, verletzt sie wenigstens nie durch ihre Prätensionen.
Und doch waren es dieselben Gesellschaften, welche Oswald wenige Tage vorher so anziehend gefunden hatte. Das kleine Hinderniß, welches die Anwesenden seiner Unterhaltung mit Corinna entgegensetzten, die Sorgfalt, mit der sie sich wieder zu ihm wendete, wenn die Höflichkeitspflichten gegen Andere genügend erfüllt waren, das Einverständniß, das über die von der Gesellschaft ihnen auferlegten Rücksichten zwischen ihnen bestand, Corinnens Vergnügen in Oswalds Gegenwart zu sprechen, und indirekt Gedanken an ihn zu richten, deren wahren Sinn er allein verstand, – das Alles hatte diesen Cirkeln die schönste Reichhaltigkeit gegeben, und eifrig rief er sich jetzt die in ihnen verlebten süßen und angenehmen Augenblicke zurück, welche ihn über den Werth dieser Gesellschaften so sehr zu täuschen vermocht hatten. »Ach«, sagte er sich, »hier, wie in der ganzen Welt, kommt alles Leben nur von ihr! Besser, ich suche bis zu ihrer Wiederkehr die einsamsten Stätten auf. Ich werde ihre Abwesenheit weniger schmerzlich empfinden, wenn ich nichts um mich sehe, was Vergnügen bedeuten soll.«