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Der Frühling war wieder da. Überall keimte und sproßte es an allen Hecken und Bäumen. Das Gras sah so frisch grün und herrlich aus, daß Stefeli, sein Schulränzchen auf dem Rücken, durch die Wiesen wandernd, es nicht genug betrachten konnte. Da und dort glänzten die goldenen Glitzerchen durch die Halme, und rote Margeritchen nickten lustig hin und her.
Stefeli war auf dem Heimweg vom letzten Schultag der ganzen Schulzeit bis wieder zum Winter. Wie war doch im vorigen Jahr dieser Tag schön gewesen, als es am Abend an Vinzis Seite so durch die Wiesen heimgewandert war und sie beide alles besprochen hatten, was nun kommen würde. Da lag nun der ganze schöne Sommer vor ihnen mit den langen Tagen auf der sonnigen Weide, wo man unter der Eiche saß und an allen Hecken Beeren suchte, und dann wieder dem Schwärzeli nachrannte und so frei war wie die Vögel, die droben im Baum pfiffen. Und jetzt, ja, was würde jetzt kommen? Stefeli sah viele heiße, lange Tage in der Stube und einen langen Strickstrumpf vor sich und keinen einzigen Weidetag. Es mußte sich am Wiesenrand hinsetzen und laut aufseufzen.
Aber beim Seufzen konnte Stefeli nicht lange verharren. Auch fiel ihm eben ein, daß die Erdbeeren an der Ecke hinter der Scheune schon vorgestern halb reif waren; es mußte doch nachsehen, wie sie jetzt aussahen. Schnell sprang es auf und lief eiligst dem Hause zu. Rasch wollte es sich seiner Bücherlast entledigen und dann nach den Beeren rennen. Aber nachdem es hastig die Stubentür aufgerissen hatte, blieb es vor Überraschung unbeweglich auf der Schwelle stehen.
Drinnen saß der Mutter gegenüber ein unbekannter Mann und sprach ganz vertraulich mit ihr, und neben ihm saß ein Junge, gerade so groß wie der Vinzi, der redete lebhaft mit. Die Mutter machte ein so vergnügtes Gesicht, wie lange nicht mehr, und alle Augenblicke wurde von den zweien Vinzis Name genannt.
»Das ist wohl das Töchterchen«, sagte jetzt der Mann, nach der Tür blickend, »komm nur heran, Stefeli, es ist niemand Fremdes. Ich bin Vetter Lorenz, und das ist Jos, Vinzis guter Freund.«
Nun kam Stefeli mit großer Freude heran, die beiden zu begrüßen, die Vinzi so lieb waren, und ihr so sehr erwünscht erschienen in dieser Zeit der unerhörten Verlassenheit, in der es nach seinem Gefühl sich befand. Es schüttelte auch Vetter Lorenz, der es mit so freundlichen Augen anschaute, eine ganze Weile lang die Hand in seiner Freude und dann auch Jos, der ihm die ganze Zeit lustig zugelächelt hatte, als wollte er sagen: »Wir können's gewiß gut miteinander.«
Jetzt kehrte sich Stefeli noch einmal zum Vetter um und sagte angelegentlich: »Nicht wahr, Vetter Lorenz, Jos bleibt nun bei uns gerade so lange, wie Vinzi bei Euch war, den ganzen Sommer?«
»Das ist wirklich ein rechter Willkomm, wenn man gleich für den ganzen Sommer empfangen wird. Wir wollen einmal mit deinem Vater reden und sehen, was er meint. Und weißt du, zuerst würde ich jetzt Jos ein wenig mit hinausnehmen, damit du sehen kannst, wie ihr etwa miteinander auskommt.«
Das ließ sich Stefeli nicht zweimal sagen. Sogleich nahm es den jungen Vetter bei der Hand und zog ihn in großer Freude mit sich fort. Nun sollte er auch gleich alles sehen und kennen lernen, was da war in Stall und Scheune, im Garten und im Hühnerhof, daß es so werde, wie wenn Vinzi wieder daheim wäre und es wieder alles mit ihm teilen könnte.
Unterdessen war auch Vinzenz Lesa von der Arbeit heimgekehrt, in seine Stube eingetreten und hatte mit Verwunderung und sichtlicher Freude seinen Gast begrüßt.
In der unbefriedigten Stimmung, die ihn mehr und mehr bedrückte, war der frohgestimmte, immer zufriedene Vetter Lorenz ihm eine erwünschte Erscheinung.
»Es hat uns leid getan, daß wir auch gar nichts mehr von euch hörten«, sagte dieser nach den ersten Begrüßungen, »und meine Frau ließ mir gar keine Ruhe mehr. Sie meinte, so sehen wir euren Vinzi am Ende den ganzen Sommer nicht bei uns, und sie hätte ihn am liebsten den ganzen Sommer droben; ich nicht weniger, er fehlt uns überall. Nun haben wir gedacht, ich bringe einmal unseren Jos für eine Zeit zu euch, wie es ausgemacht war, vielleicht wollt ihr's so haben, und nachher können dann beide miteinander heraufkommen bis zum Winter. Nun sagt mir die Base, der Vinzi sei fort; so kann ich ihn nicht einmal sehen, und mit seinem Heraufkommen ist's auch nichts. Meine Frau wird grausam jammern. Wieviel die auf den Buben hält, das glaubt ihr gar nicht; aber er verdient es auch.«
Die Eltern hörten wohl beide gern, wie der Vetter von ihrem Vinzi sprach; aber sie schwiegen beide. Wenn jetzt Vinzis Name genannt wurde, sah Frau Stefane gleich, wie die Falte auf der Stirn ihres Mannes sich zusammenzog, so, als habe ihn etwas getroffen, das weh tut. So sprach sie so wenig als möglich von Vinzi.
Stefeli hatte unterdessen in sorgsamer Weise gefunden, nun müsse gewiß Jos etwas zu essen haben, und trat eben wieder Hand in Hand mit ihm, wie mit einem alten Freund, in die Stube ein.
Jos ging stracks auf Vetter Vinzenz zu, um ihn zu begrüßen, und dieser schaute mit einer Mischung von Leid und Wohlgefallen in das offene Gesicht des Jungen, dem Kraft und Gesundheit und die helle Lebensfreude aus den Augen lachten.
»Der wird so groß wie du bist, Lorenz«, sagte endlich Vinzenz, nachdem er noch einmal Jos von oben bis unten mit seinen Blicken gemessen hatte, »der ist dir schon eine rechte Hilfe!«
»Das ist er, das kann ich dir sagen«, erwiderte Lorenz, dem es gar nicht mißfiel, daß der Vetter seinen Buben so eingehend betrachtete, er mußte es doch der Mühe wert finden.
Frau Stefane, die sich zurückgezogen hatte, machte jetzt schnell die Tür auf und gab einen Wink in die Stube hinein.
Sofort begann Stefeli in aller Ordnung den Tisch zu rüsten und blieb ganz emsig dabei, damit es ja nichts vergesse.
»Da hat ja Base Stefane auch schon gute Hilfe«, sagte Vetter Lorenz, der mit Wohlgefallen der flinken Ausführung zuschaute, »eine solche gefiele meiner Frau auch. Du mußt ihr einmal das Kind auf den Berg schicken, Vetter, freilich kannst du dann zusehen, wie du's wiederbekommst.«
Nun kam die Mutter herein und brachte vom Besten auf den Tisch, was Küche und Keller liefern konnte; denn diese Gäste zu bewirten, die ihrem Vinzi soviel Freundlichkeit erzeigt hatten, war ihr eine ganz besondere Freude.
»Ihr bleibt nun doch ein paar Tage bei uns, Vetter«, sagte sie, wie sie ihm nun am Tisch gegenübersaß und dafür sorgte, daß auf seinen Teller und auch auf den von Jos immer wieder ein paar Stücke von dem frischen, rosenroten Schinken und die schönsten Blätter von ihrem goldgrünen Gartensalat kamen, »und Jos laßt Ihr uns dann wohl für ein paar Wochen?«
Hier zupfte Stefeli die Mutter heftig an der Schürze und flüsterte: »Sag doch für den Sommer, Mutter, eh er ja sagt«; denn es hatte die größte Angst, der Vorschlag werde angenommen und dann gelte er.
»Ja, Base Stefane, Ihr macht's einem nicht schwer, daß man gerne dabliebe«, erwiderte der Vetter. »Ich bin mit Absicht an einem Samstag gekommen, daß ich morgen einen schönen Sonntag hätte; denn da bleib ich gern bei euch, wenn's euch recht ist. Am Montag kehr ich heim, das muß sein. Wie er es mit dem Buben haben will, kann Vetter Vinzenz sagen, ich überlasse es ihm.«
»Das hat Zeit«, sagte dieser gemächlich, »wir machen morgen einen Gang durch die Felder, da kann dann manches Wort geredet werden, du wirst ja wohl ein wenig das Land ansehen wollen?«
»Und den Kuhstall, Vater, noch vor allem«, rief Jos mit Begeisterung aus. Bis jetzt hatte er vor großem Respekt vor Vetter Vinzenz ganz still geschwiegen; aber der Eindruck, den er drüben im Stall empfangen hatte, war zu mächtig, er mußte ihn jetzt mitteilen. »Schönere Kühe, als der Vetter im Stall hat, gibt es gewiß gar keine mehr, und so sauber sind sie, als wären sie gerade jetzt aus der Schwemme gekommen.«
»Ich hab es wohl gedacht, daß die dir gefallen würden«, sagte der Vater, »die muß ich heut auch noch sehen. Du hast doch immer noch deine Freiburger Rasse, Vinzenz?«
»Warum nicht?« gab dieser zurück, »wenn etwas gut ist, so ändere ich nicht. Dein Bub hat Augen im Kopf.«
Sowie man vom Tisch aufgestanden war, traten die Männer ihren Gang nach dem Stall und der Scheune an. Jos und Stefeli nahmen mit Freuden die Gelegenheit wahr, noch einen Streifzug zu unternehmen. Da war ja noch so vieles, das Jos sehen mußte.
Früh am folgenden Nachmittag wanderten die zwei Männer durch die blühenden Wiesen und Felder, die zu Vinzenz Lesas Gut gehörten.
Frau Stefane hatte mit den Kindern den Weg nach der sonnigen Halde eingeschlagen, wo die ersten Erdbeeren reiften. Sie wußte wohl, der Gang würde den beiden die größte Freude machen, und dazu wußte sie auch, daß die Männer sich zu besprechen hatten, darum hatte sie für den Spaziergang diese Trennung des Weges angeordnet.
Die Männer hatten jetzt unter allerlei Betrachtungen über die blütenbedeckten Bäume, das üppige Gras, die fruchtverheißenden Äcker die Anhöhe erreicht, wo die schöne Waldbesitzung des Vinzenz Lesa begann.
Bevor sein Gast in den Waldweg, der von den schönsten Buchen beschattet war, eintrat, stand er still und schaute hinunter auf das Wohnhaus, das so einladend dort unten aus den hohen Nußbäumen hervorschaute.
»Vinzenz, du bist ein glücklicher Mensch«, sagte er jetzt; »Frieden und Freude im Haus und ringsum alles so schön, wie es nicht schöner gewünscht werden könnte, und alles dein Eigentum.«
»Ja, und drüben im Freiburgischen noch ein Heimwesen, Kühe darauf zu halten, doppelt soviel wie hier. Gras heimzuführen, die Scheune bis oben voll.«
Die Falte auf Vinzenz Lesas Stirn zog sich immer mehr zusammen, während er sprach, als hätte er immer noch etwas Ärgeres anzuzeigen.
»Zwölf Käse das Jahr sind aus all der Milch herzustellen.«
»Vinzenz, das ist kein Grund zum Verzagen«, sagte der Vetter mit lachenden Augen. »Ich habe gar nicht gewußt, daß das väterliche Gut drüben dir auch noch gehört. Zwei solche Güter sind dein! Aber dich muß man sich nur verwundern. Da hat dich unser Herrgott mit Segen überschüttet, und du stehst da und machst ein Gesicht zum Himmel auf, als habest du's mit lauter Unwetter zu tun.«
»Du hast gut reden«, sagte Vinzenz grimmig, »du hast drei Buben, wie sie für deine Arbeit sein müssen, gerade genug Kräfte. Du hast nur Freude und Gedeihen vor dir. Und ich: da stehe ich nach aller Arbeit und muß zusehen, wie mir ein schönes Gut verlottert. An zwei Plätzen kann ich nicht sein, und mein einziger Sohn kann die Augen nicht auftun und einen schön bereiteten Weg vor sich sehen, um den ihn Hunderte beneiden würden. Als mir das Gut zufiel, habe ich den väterlichen Hof verlassen, wo mich jeder Baum wie ein Kamerad ansah und jedes Stücklein der Herde, klein und groß, unter meinen Augen herangewachsen war. Ich ging nicht gern, kannst es glauben. Aber hier war alles verlottert, so verkommen, du glaubst nicht wie, ein Fremder hätt's nicht übernommen. Aber ich sagte mir, du tust's für deinen Sohn; in wenig Jahren ist der so weit, daß er hier allein bleiben und den Hof regieren kann, und du gehst wieder heim. Nun ist das Gut hergestellt, schneller als ich's dachte. Sag selbst, ob es nicht aussieht wie ein blühender Garten, von einem Ende bis zum anderen. Und nun soll ich's wieder verlottern lassen? Oder soll das Heimatgut drüben herunterkommen, daß man's nicht mehr kennt? Nun sag, was meinst du? Meinst du noch, singen und pfeifen stände mir besser an als sorgen, nun du weißt, wie alles steht?«
»Es steht nicht halb so schlimm, wie du meinst«, versetzte Lorenz mit heiterem Gesicht. »Du hast einen Buben, der sicher einmal etwas Rechtes tun wird, was er dann auch sei, das kannst du glauben, Vetter. Aber du hast nicht nur den Buben, du hast auch noch ein Töchterchen, und dazu eines, an dem der Vater seine Freude haben kann. Nun laß du sechs oder sieben Jahre vorübergehen. Du bist ein so rüstiger Mann, daß du mit einiger Hilfe deine zwei Güter schon aufrechthalten kannst. Dann ist die Zeit da, wo du dein Töchterchen hier auf den Hof setzen kannst. Das wird schon zu regieren wissen, und du kehrst in deine Heimat zurück. Dann muß auch kein Wunder geschehen, daß etwa jemand auftauche, der nicht ungern die Arbeit und das Regiment mit deinem Töchterchen teilt. So wird dann dein Gut wohl die rechte Verwaltung haben.«
Jetzt schickte sich Lorenz an weiterzugehen; aber noch einmal stand er still.
»Nun hätte ich fast die Hauptfrage vergessen«, sagte er; »wie willst du's mit dem Jos haben? Willst du ihn behalten oder bist du lieber für dich? Unanstellig ist er nicht.«
»Das kann ich sehen«, bemerkte Vinzenz, »er wird dir fehlen, und ich bin schon in deiner Schuld. Vinzi war dir keine Hilfe, in keiner Weise.«
Aber jetzt mußte sich Lorenz ereifern. Da müßte er nur einmal seine Frau darüber hören, die würde ihm etwas anderes sagen, und mit Recht. Sie sei es auch, die ihm schon seit Wochen zugesetzt habe, er solle den Vettersleuten nun einmal den Jos bringen, und sonst lasse sie keinen der Buben nur eine Nacht fort. Aber einmal habe sie die Sicherheit, bei Eltern, die einen Buben hätten, wie Vinzi, könne ihr Jos nur Gutes lernen, und dann sage sie, man müsse diesen seine Dankbarkeit zeigen, daß sie den Vinzi uns so lange gelassen hätten, und dann hätte sie auch noch die Hoffnung, den Vinzi wieder in ihr Haus zu bekommen, wenn Jos erst dagewesen sei und den Verwandten vielleicht auch etwas hätte dienen können.
»Nun, sag es rund heraus«, schloß der Vetter, »ist das, was du da gesagt hast, dein einziger Grund, warum du anstehst, den Jos zu behalten?«
»Es ist mein einziger Grund«, war die feste Antwort.
»Jetzt bleibt Jos bei dir; heimschicken kannst du ihn ja immer, wenn es dir dann besser paßt.«
Nun schritt Lorenz weiter und beschleunigte mehr und mehr die Heimkehr; denn er wünschte noch eine gute Zeit mit der Base Stefane und dem Töchterchen zusammenzusein, mit allen beiden hatte er große Freundschaft geschlossen.
Als der Abend zu Ende war und er von Stefeli Abschied nehmen wollte, weil er am Morgen so früh fort müsse, daß es noch tief im Schlafe liegen werde, da gab Stefeli wohl die Hand; aber es wollte nicht Abschied nehmen. Am Morgen, lange bevor die Sonne kam, stand es auch schon unten an der Tür und schaute lachend dem Vetter entgegen, als er herunterkam. Es hatte den freundlichen Vetter so lieb gewonnen, daß es ihn auch zuallerletzt noch sehen wollte, das frühe Aufstehen war ihm gar nicht im Weg.
Stefeli hatte aber noch etwas im Sinn. Sobald der Vetter unten angekommen war, fragte es angelegentlich: »Kann der Jos jetzt dableiben? Den ganzen Sommer bis zum Herbst?«
»Ja, ja«, antwortete lachend der Vetter, »bis ihn der Vater fortschickt.«
Drinnen hatte die Mutter schon einen dampfenden Kaffee auf den Tisch gestellt und eine feste Stärkung zur Reise.
Von draußen hörte man jetzt den Vater mit Jos; der war schon vor Stefeli auf dem Platz gewesen und war sogleich nach dem Stalle hinübergelaufen, wo er die Türe schon offenstehen sah. Vetter Vinzenz war eben dort eingetreten. Jos ging auch hinein; er mußte die schönen Kühe wieder ansehen, so recht eine nach der anderen. Dieser frühe Stallbesuch und die Ausrufe der Bewunderung, die Jos immer wieder ertönen ließ, wie auch seine zutreffenden Bemerkungen, die er über dieses oder jenes der auserlesenen Tiere machte, mußten dem Vetter nicht übel gefallen. Eine gute Weile schaute er zu, wie der Junge von Krippe zu Krippe wanderte und sich alles genau betrachtete. Als aber Jos sich so in das Anschauen des geordneten Stalles und seiner Bewohner vertiefte, daß man sehen konnte, er habe darüber alles andere vergessen, da sagte der Vetter: »Ich denke, wir wollen hinübergehen, bevor dein Vater uns etwa entkommt, und wir ihn nicht mehr sehen.«
»Potztausend, daran hab ich nicht mehr gedacht«, rief Jos aus und schoß wie ein Pfeil davon.
Nach vielen herzlichen Händedrücken, die er gegeben und wiederempfangen hatte, machte sich der Vetter auf den Weg. Vinzenz wollte ihm bis zur Grenze seines Gutes das Geleite geben, bis zur Gartenecke gingen alle mit.
Als die Männer verschwunden waren, fragte Stefeli schnell: »Jos, willst du nun auf die Weide gehen, daß ich auch wieder mitkommen kann?«
»Ja, willst du! Es gilt doch nicht, was ich will«, antwortete Jos, »ich bin ja nicht Meister!«
»Oh, wenn man nur einmal Meister wäre!« seufzte Stefeli.
Der Vater kam bald zurück, und da die Mutter an ihren Gemüsebeeten allerlei zu ordnen gefunden hatte, traf er alle drei noch im Garten. Er ging auf den Jos zu. Stefeli stand mit großen, erwartungsvollen Augen hinter Jos und lauschte, was nun kommen würde.
»Es scheint mir, du hast Freude an den Kühen, willst du die Weide übernehmen, Jos?« fragte der Vater. »Da bist du Herr und Meister den ganzen Tag, ich lasse dich allein machen, du weißt, was sein muß! Das Kind wird schon mit dir gehen, daß noch eins da ist, wenn's nottut. Es kennt die Sache nicht übel und weiß Weg und Steg. Ist es dir recht so?«
»O ja, am allerliebsten von allem«, rief Jos aus, und Stefeli machte einen hohen Freudensprung hinter ihm und stürzte der Mutter nach, die ins Haus eintrat; denn nun war schnell das Nötige für den Weidetag zu ordnen. Der Vater ging schon mit Jos dem Stalle zu, der Auszug mußte gleich stattfinden.
Daß es aber so herrlich sein würde, wieder draußen zu sein und hin und her den alten guten Bekannten nachzurennen und wieder unter dem schattigen Baum sich abzukühlen, das hatte Stefeli sich selbst nicht mehr vorgestellt.
Jos war aber auch in einer solchen Freude über alles, was er sah und was vorging, daß Stefeli davon mitgerissen worden wäre, auch wenn es nicht selbst schon voller Glück und Verlangen hinausgezogen wäre. Alle alten Bekannten waren noch da, und vier prächtige, rot und weiß gefleckte Kühe waren hinzugekommen, die hatte der Vater selbst aus dem Freiburgischen herübergeholt. Auch ein Schwärzeli war wieder da, und war es auch nicht dasselbe vom vorigen Jahr, so galoppierte es doch mit derselben Lustigkeit plötzlich von einem Ende der Weide zum anderen und über Brücken und Hecken weg, wenn es nicht vorher erwischt wurde.
Jos mußte sie alle genau kennen lernen. Stefeli wußte ja noch die Eigenschaften von allen und konnte sie ihm erklären, die vier neuen konnten sie dann miteinander kennen lernen.
Jos faßte alles mit dem größten Eifer auf und wußte es für immer. Aber noch wunderbarer war es für Stefeli zu sehen, daß der Jos schon die Bewegungen der Kühe erriet, bevor diese sie nur machten; denn schon stand er neben der einen, als sie eben zu laufen anfangen wollte, und streichelte und beruhigte sie, und eben hatte er das Schwärzeli am Schwanz erwischt, als es den ersten Sprung tun wollte, um dann wie der Wind über die ganze Weide hinunterzusausen. Und so ging es fort; es war gerade, als ob er es ihnen an den Köpfen ansähe, sobald sie das Ausreißen im Sinne hatten. So mußte man auch nie soviel rennen, und Jos sagte immer wieder: »Setze du dich nur unter den Baum, Stefeli, ich werde schon mit ihnen fertig.«
So war es auch, und sogar die neuen hatte er so bald in ihrer Weise erkannt, daß sie ganz große erstaunte Augen machen mußten, wenn ihre Versuche zum Ausreißen heute gleich von vornherein vereitelt wurden.
Aber bei allem scharfen Aufpassen hatte Jos doch Zeit, dazwischen auf einmal ein paar hohe Freudensprünge zu machen und dann vor Vergnügen ein Jodeln und Singen anzustimmen, daß es von allen Höhen widerhallte.
Es tönte auch so gut und melodisch, daß Stefeli ganz entzückt davon war und immer rief: »Sing wieder, Jos, sing noch einmal!«
So war der Morgen schnell vergangen, daß die beiden einander fragend anschauten, ob es denn möglich sei, als sie von fern die Töne der Mittagsglocke hörten.
Nun deckte Stefeli nach alter guter Weise das Mittagsmahl unter dem Baum, und nach einem prüfenden Blick auf die Herde, die sich da und dort ruhig in der Sonne niedergelassen hatte, setzte sich nun auch Jos bereitwillig zu Stefeli hin.
Jetzt mußte er aber erst die schön gerüstete Mahlzeit betrachten. Noch nie hatte er das draußen auf einer Weide gesehen, alles so in der schönsten Ordnung aufgestellt und darüber die beschattenden Zweige hin- und herwehend.
»So schön kann gewiß kein anderer Mensch eine Mahlzeit rüsten, wie du, Stefeli«, sagte er in voller Bewunderung. Erst jetzt fing er an und biß mit dem fröhlichsten Appetit in alles, was ihm Stefeli reichte.
So schnell wie der Morgen ging auch der Nachmittag dahin, und als sie durch den hellen Abend mit ihrer Herde heimwärtszogen, da sagte Stefeli: »Heute war's so schön, daß ich wollte, alle, alle Tage, die noch kommen, wären gerade so!«
»Und ich auch«, stimmte Jos ein.
Vinzenz Lesa stand an der Ecke seiner Scheune und schaute zu, wie die Herde herankam. Jos lief einmal an der einen Seite, dann schnell an der anderen der Herde entlang, immer so, daß die Tiere in der gleichen Reihe blieben und nicht eines dahinaus, eines dorthinaus auf allen Wegen dem Stalle zueilten.
»Ein fixer, geregelter Bub«, sagte Vinzenz Lesa für sich, dann ging er langsam, die Heimkehrenden in Empfang zu nehmen.
Nun kam eine Reihe von Tagen, die alle so verflossen, daß man glauben konnte, Stefelis Wunsch sei auf dem besten Wege, in Erfüllung zu gehen. Es war eine herrliche Zeit. Stefeli strahlte vor Freude und Wohlbehagen vom Morgen bis zum Abend, und Jos sang und jodelte jeden Tag heller vor innerem Wohlsein.
»Jetzt ist es ganz, wie wenn Vinzi wieder da wäre, gelt Mutter, so ist's, seit der Jos da ist?« sagte Stefeli, als es eben im hellen Abendschein, von Sonne und Freude gerötet, bei ihr eintrat, während Jos noch wie gewöhnlich beim Vetter Vinzenz zurückblieb.
»Ja«, erwiderte die Mutter, »weil Vinzi nicht bei uns sein kann, so ist mir der Jos an seiner Stelle am liebsten: Jos ist mir wirklich so lieb, als gehörte er zu uns.«
»Mir auch«, sagte Stefeli unverzüglich, »nur in drei Sachen geht es anders mit ihm als bei Vinzi. Am Morgen früh und am Abend, wenn wir heimkommen und wenn's regnet, da war's doch netter mit Vinzi.«
Die Mutter verstand ganz wohl, was Stefeli im Wege war; aber sie sagte, es solle nur den Jos machen lassen, er tue ganz das Rechte, es müßte nie suchen, ihn zu hindern.
»Ich habe es schon versucht; aber er gibt nicht nach«, sagte Stefeli der Wahrheit gemäß.
Die Mutter verbot ihm, solche Versuche zu erneuern. Sie war so froh und dankbar über die Art und Weise, wie Jos sich aus freiem Antrieb zu seiner Freude, wie man sehen konnte, beschäftigte in den Zeiten, da er Stefelis Mißbilligung erregte. Sie hatte wohl gemerkt, daß die bessere Stimmung ihres Mannes damit zusammenhing.
Am Morgen war Jos immer der erste auf dem Platz, und war der Stall, wo er immer am liebsten einkehrte, noch geschlossen, so kam ihm gleich etwas in den Sinn, das er in der Scheune in Ordnung bringen wollte, so daß der Vetter Vinzenz ihn immer schon an irgendeiner Hämmerei oder Schnitzerei traf, die einen recht vernünftigen Zweck hatte. Wie ungeduldig dann auch drüben das Stefeli hin- und hertrippelte, Jos kam nicht vom Stall zurück, bis im allerletzten Augenblick und gleich mit dem Vater, wenn schon der Kaffee auf dem Tische stand. Am Abend nach der Heimkehr war Jos nicht von seinen Kühen wegzubringen, bis die letzte von der Tränke zurück im Stalle angekommen und auf ihrer Streu schön gebettet war.
So sah Stefeli schon die Mutter mit der dampfenden Schüssel nach der Stube gehen, eh er nur da war, und an einen Sprung mit ihm noch zur Erdbeerhecke hinüber war nicht mehr zu denken.
An Regentagen war's, als habe der Jos sich verkrochen; er war gar nirgends zu erblicken. Er wußte täglich schon in aller Frühe, was heut zu tun war auf den Feldern, an den Bäumen, auf den Höhen oder im Wald. Kam der Regen, so fragte er flugs den Vetter: »Kann ich heut mit dem Knecht gehen?«
Dieser sagte dann zustimmend: »Warum nicht, wenn der Regen dir nicht im Weg ist.«
Der war dem Jos niemals im Weg; aber alles, was wuchs, wie man es pflanzte und erntete, war ihm eine Lust zu sehen und mitzumachen. Am liebsten war ihm freilich, wenn es hieß: heut geht's in den Wald, das gefällte Holz zu holen.
Dann wurde das Pferd an den großen Holzwagen gespannt, und Jos setzte sich vorn auf den hohen Sitz zum Knecht. Wenn sie dann eine Strecke vom Haus weg waren, sagte der Knecht: »Da, nimm sie, du willst ja gern kutschieren«, übergab Jos die Zügel und streckte sich der Länge nach im Wagen aus, um noch ein wenig zu schlafen.
Jos kannte das Pferd schon gut und es ihn, so ging die Sache vortrefflich. So hatte Jos schon in allen Arbeiten mitgeholfen, die auf dem Gute getan sein mußten. Er wußte genau, wo alles in Ordnung war und wo etwas fehlte. Er griff auch alles mit einer Lust und einem Feuereifer an, daß er gleich empfand, was förderte und was hemmte.
Im Anfang hatte Vinzenz Lesa manchmal in grollendem Tone zu seiner Frau gesagt: »Sieh den an, der freut sich an allem und geht überall ins Zeug mit einem Eifer, als wäre er in dem Seinigen, vor lauter Lust an dem schön geordneten Wesen. Und der eigene, für den alles da ist, der hat's nie gesehen.«
Jetzt war es so geworden, wie es Frau Stefane nur freuen konnte. Jeden Tag sprach ihr Mann von Jos zu ihr; aber der Ton war ein anderer.
In rechter Freude konnte er jetzt sagen: »Der Bub hat vier Augen im Kopf, alles entdeckt er, was ich selbst übersehen würde, von dem der Knecht nicht einmal merkt, daß es Schaden bringen würde, alles sieht er. Verlassen kann ich mich auf den Buben wie auf keinen zweiten, und gewandt in allem Tun ist er, daß es gradaus eine Freude ist, dem zuzusehen, wenn er an einer Arbeit ist.«
Mit herzlichem Dankgefühl nahm Frau Stefane die zunehmende Freude ihres Mannes an dem jungen Vetter wahr, die auch schon eine viel bessere Stimmung in ihm hervorgebracht, als sie seit langem bei ihm bemerkt hatte.
Wenn sie am Nachmittag still und ungestört in ihrer Stube saß, was nun wieder oft vorkam, seit Stefeli das Weideleben wieder mitmachen durfte, dann gingen die Gedanken der Frau Stefane immer denselben Weg. Sie dachte an ihren Vinzi und wie es wohl mit ihm noch kommen werde. Ob er wohl nach Ablauf des Jahres heimkehren und sein Leben nach des Vaters Wunsch führen und vielleicht nie recht fröhlich dabei werden würde, oder ob er einen neuen Weg eingeschlagen hatte und damit dem Vater für immer entfremdet bleiben sollte. Sie konnte sich da so in die Gespräche, die sie darüber mit Vinzi halten wollte, vertiefen, daß sie bei jedem Geräusch auffuhr und meinte, es könnte vielleicht ihr Junge sein, der plötzlich heimkehrte.
So ging es ihr heute, nachdem sie sich eben in ihren Gedanken lange mit Vinzi unterhalten hatte. Jetzt ging die Haustür auf, und ein ordentliches Getrappel nahte der Stube.
Frau Stefane war aufgesprungen und zur Türe gelaufen, die sie rasch öffnete.
»Alte Bekannte, Frau Lesa, die ein Obdach bei Ihnen suchen«, tönte ihr eine kräftige Männerstimme entgegen.
In demselben Augenblick drängte sich eine schmale Hand in die ihrige, dann noch eine, und dann sah sie klar.
»Oh, willkommen Alida! Hugo! Willkommen Herr Thornau!« rief sie in herzlicher Freude aus, »so sind Sie auch wieder in unserm Land!«
»Eigentlich noch nicht so ganz«, sagte Herr Thornau, ihren Händedruck kräftig erwidernd. »Nehmen Sie uns auf, dann wohl, sagen Sie nein, so müssen wir wieder wandern. Vor allem muß ich Ihnen sagen: hier bringe ich Ihnen zwei Kinder, die keine Mutter mehr haben und die beide begehrt haben, zu Ihnen und sonst nirgendshin zu gehen.«
Jetzt war Frau Stefane schon gewonnen. »Die armen Kinder«, sagte sie für sich, »und der arme Vater«, setzte sie hinzu. Dann wandte sie sich zu diesem.
»Herr Thornau«, sagte sie, »wollen Sie hier bleiben bis gegen Abend, bis mein Mann heimkommt, und dann mit ihm über die Sache reden?«
»Und was sagt die Frau dazu?« fragte Herr Thornau.
»Diese möchte ja gern den Kindern für eine Zeit ein wenig die Mutter ersetzen, wenn sie es nur könnte«, antwortete Frau Stefane.
»Jetzt ist's gut!« rief Herr Thornau ganz befriedigt aus.
Herrn Lesa wollte er gern abwarten und unterdessen sich mit den Kindern ein wenig unter die schattigen Nußbäume hinsetzen.
Vinzenz Lesa schaute mit großer Verwunderung auf die Gäste, die unter seinem Nußbaum saßen, als er seinem Hause zuschritt. Aber es blieb ihm nicht lange Zeit zum Staunen. Herr Thornau war ihm schon entgegengekommen und teilte ihm nun in beredter Weise den Grund seines Erscheinens mit, und daß er die Überzeugung habe, Herr Lesa werde ihm seine Tür nicht verschließen, noch viel weniger seinen Kindern, die beide erklärt hätten, auf der ganzen Welt wünschten sie nirgends als nur im Hause Lesa den ganzen Sommer zuzubringen. So sei er denn gekommen, und sei auch überzeugt, Herr Lesa werde ihn nicht abweisen. Ein andres, ihnen allen schon bekanntes Haus solle er nur nicht vorschlagen, die Kinder gingen da nicht hinein, und er würde sie nicht hineinzwingen. Entweder das Haus Lesa oder wieder heimkehren; denn bei den Kindern zu bleiben, sei ihm unmöglich, und anderswo die Kinder allein zu lassen, das sei ihm ebenso unmöglich.
Vinzenz Lesa hörte es nicht ungern, daß es bei dem Herrn hieß, entweder sein Haus oder keines. Aber man wußte ja nicht, was man mit den Kindern ins Haus bekam, man kannte eigentlich die Leute nicht so recht.
Nachdem er reiflich überlegt hatte, was zu tun sei, sagte er: »Reden Sie mit meiner Frau, Herr, Kinderbesorgung ist ihre Sache.«
So fand er es am besten. Wollte seine Frau die Kinder behalten, was er vermutete, so mochten sie dann anstellen, was sie wollten, die Frau sollte mit ihnen fertig werden, sie hatte die Sache angeordnet.
»Recht von Herzen gern«, erwiderte Herr Thornau, und wandte sich schnellstens Frau Stefane zu. »So wäre alles in Ordnung, nicht wahr. Sie haben mir schon in Ihrem Herzen ja gesagt«, damit schüttelte Herr Thornau herzlich ihre Hand, und es war auch so, sie hatte längst bei sich beschlossen, die mutterlosen Kinder zu behalten und ihnen alle Liebe zu beweisen, die sie nur empfangen mochten.
Herr Thornau wollte nun sofort Abschied nehmen; denn noch diesen Abend gedachte er weiterzureisen, und seine Kinder wußte er nun in den allerbesten Händen, wie er sagte. Aber Frau Stefane meinte, was er etwa besonders für die Kinder wünschte, wie sie sich beschäftigen und auch unterhalten sollten, würde er ihr wohl doch noch sagen. Bei ihr sei es eben mit den Kindern immer sehr einfach zugegangen. Für seine Kinder wünsche er gar nichts als das Weideleben der ihrigen, sagte Herr Thornau, nur Weide vom Morgen bis zum Abend und daneben alles, was Frau Lesa für gut finde.
Das Klavierspiel sei längst aufgegeben, eigentlich zu seinem Leidwesen; denn Musik sei seine Freude. Jetzt sei sein Hauptwunsch, daß seine Kinder gebräunt und vollwangig, so wie er ihre Kinder gesehen hatte, zu ihm heimkehren möchten.
Dann nahm er Frau Stefane noch ein wenig auf die Seite, und auf den blassen, etwas traurig aussehenden Hugo weisend, fügte er hinzu: »Den muß ich Ihnen gewiß nicht besonders empfehlen. Sie sehen, wie er aussieht. Er war nie sehr kräftig noch fröhlich; aber seit er die Mutter nicht mehr hat, ist es schlimmer geworden. Kein Leben, keine Freudigkeit, kein Interesse mehr, der Arzt wollte ihn forthaben.«
Nun nahm Herr Thornau rasch Abschied bis zum Herbst; dann wollten sie einander alle fröhlich wiedersehen, so hoffe er zuversichtlich.
Eben kamen Jos und Stefeli in fröhlichem Geplauder mit ihrer Herde dem Stalle zu. Hier verschwand Jos wie immer, und Stefeli schlenderte dem Hause entgegen. Es hatte keine Eile, daheim zu sein; denn um diese Zeit war die Mutter mit der Küche beschäftigt, und Jos würde natürlich noch eine Stunde lang nicht herüberkommen, wie es sich sagte.
Aber plötzlich verwandelte sich der zögernde Gang in große Sprünge: drüben an der Erdbeerhecke waren zwei Gestalten zu sehen, wenn das wahr wäre! Wirklich so war es: mit Freudengeschrei stürzte Stefeli auf Alida los, und auch die beiden, Hugo und Alida, begrüßten Stefeli mit lauten und anhaltenden Freudenbezeugungen.
»Aber wo ist denn Vinzi?« fragte Alida, nachdem die Begrüßungen zu Ende gekommen waren.
Stefeli berichtete, wie lang er schon fort sei, und wann er wieder heimkomme, wisse kein Mensch.
Jetzt sah Alida sehr enttäuscht aus; aber Stefeli hatte immer einen Trost bei der Hand.
»Er kommt gewiß nach Hause, solang ihr da seid, und dann ist auch Jos da, den werdet ihr schon gern haben, ich kann dir's sagen. Ihr bleibt doch lange bei uns, den ganzen Sommer?«
Das bejahte Alida. »Und alle Tage, vom Morgen bis zum Abend, sollen wir auf der Weide zubringen, das hat der Papa befohlen«, setzte sie hinzu; »aber daß Vinzi nun nicht dabei ist, das macht die Sache ein wenig langweilig.«
Aber Stefeli versicherte Alida, auf der Weide sei es niemals langweilig, und der Vater habe heute gesagt, nun sei das Wetter gut für lange Zeit, da könnten sie ja jeden Tag draußen sein.
So kam es auch. Einen Tag um den anderen konnte die fröhliche Gesellschaft nach der sonnigen Weide ausziehen, und Frau Stefane sorgte dafür, daß unter dem schattigen Baum täglich ein nahrhaftes Mittagessen eingenommen werden konnte. Alida war in hellem Entzücken über dieses freie, niemals gekannte Weideleben. So am frühen Morgen, während sie sonst noch stundenlang hinter den dicken Gardinen im Bette lag, in den ersten Sonnenschein und die herrlich frische Luft hinauszuziehen, wenn alle Vögel auf den Bäumen pfiffen und sangen, daß es zum Himmel tönte wie ein lautes Freudengeschrei, das war ein wonnevoller Anfang des Tages!
Dann begann ein Schweifen hierhin und dorthin, nach allen anziehenden Punkten auf der ganzen Weide, immer war sie mit Stefeli zusammen auf Entdeckungsreisen aus. Bald nach Beeren und Blumen, bald nach dem alten Mäuerchen, wo sich die glänzenden Eidechsen sonnten und ganz aufmerksam zuhörten, sobald die Kinder ihnen zu singen begannen, was Stefeli wohl wußte. Schwiegen sie aber, und machten sie nur die geringste Bewegung, waren die grünen Tierchen alle zusammen plötzlich weggehuscht.
Daß man auf den schönen Weideboden sich hinsetzen konnte, wo man nur wollte – sonnig und trocken war es überall – das war für Alida ein ganz besonderer Genuß, das hatte sie noch gar nie erlebt, und dessen freute sie sich nun auch alle Augenblicke aufs neue.
Immer bereit, setzte sich dann Stefeli gleich zu ihr hin, und alles, was um die beiden her war, gab ihnen fortwährend zu den lebhaftesten Gesprächen Anlaß.
Am ersten Morgen, als Stefeli nach Abrede Alida in aller Frühe geweckt hatte und nun beide frisch und unternehmend vor der Scheune standen und Jos erwarteten, der die Kühe von ihren Ketten losmachte, um sie in die Weidefreiheit hinauszutreiben, da war auch Hugo aus seinem Zimmer heruntergekommen, um, wie es der Vater angeordnet hatte, mit auf die Weide zu gehen.
Er sah so matt und bleich aus, daß es Frau Stefane wehtat, ihn anzuschauen. Sie hatte ihn gleich liebevoll bei der Hand genommen und in seine Stube zurückgeführt, hier die Kissen seines Bettes wieder zurechtgemacht und ihm gesagt, er müsse noch ein wenig ruhen. Es habe keine Eile für ihn, auf der Weide anzukommen, sie werde ihn später hinführen, damit er dann den Weg wisse; denn er brauche nicht so früh schon hinzugehen, auch an den kommenden Tagen nicht.
Zum ersten Male, seit er die Mutter verloren, fühlte sich Hugo wieder von einer mütterlichen Hand gehalten und gepflegt, und eine große Liebe zu Frau Stefane erfüllte sein Herz von diesem Tage an. Sie wachte auch wie eine Mutter über ihm, und was sie nur sah, das ihm gut tun konnte, das mußte für ihn getan sein. So hatte in dieser ersten Zeit der stille Knabe, dem noch ein großes Leid im Herzen lag, täglich manche Stunde allein mit Frau Stefane zugebracht, was eine rechte Wohltat für ihn war. Er hatte ein solches Zutrauen zu ihr gefaßt, daß er angefangen hatte, ihr von seiner Mutter zu erzählen, und sie hatte ihm mit solcher Teilnahme zugehört, daß er immer wieder darauf kam, wenn er mit ihr allein war.
Daß ihr warmes Mitgefühl eine große Wohltat für ihn war, konnte man dem Knaben bald ansehen.
So kam heute im herrlich leuchtenden Morgensonnenschein Hugo so früh aus seinem Zimmer herunter wie noch nie seit dem ersten Morgen, da er so blaß und matt erschienen war.
Jetzt sah er schon viel frischer aus, und zur Freude der Frau Stefane begehrte er gleich nach der Weide hinauszugehen, während er sonst immer am liebsten im Hause sitzen blieb, bis sie fand, nun sollte er hinaus, und ihn dann immer ein Stück Weges begleitete.
Draußen fand er Jos allein, der singend und jodelnd mit seiner Herde hin- und herwanderte. Alida und Stefeli hatten eine Entdeckungsreise unternommen. Es war, als ob Hugo heute zum ersten Male die schönen Tiere sähe, die da herumweideten und dann und wann ihre Köpfe erhoben und mit ihren großen Augen das Land betrachteten. Er fing an, den Jos über allerlei zu befragen; denn nun er den Tieren so aufmerksam zuschaute, bemerkte er eine so große Verschiedenheit in ihrem Betragen wie in ihrer Erscheinung, daß er sich sehr verwundern mußte; denn er hatte gedacht, Kühe seien eben Kühe, eine wie die andere. Nun hatte er Jos auf sein Gebiet gebracht. Der wurde mit einem Male so beredt und machte Hugo mit solchem Eifer auf alle Gewohnheiten seiner Kühe aufmerksam, daß dieser von der lebhaften Teilnahme an allen Gliedern seiner Herde ganz angesteckt wurde und nun immer noch mehr von Jos hören wollte. Er konnte auch nur fragen, Jos wußte alles, was er nur wissen wollte, und das alles schilderte er mit einem Feuer und einer Anschaulichkeit, daß Hugo eine rechte Lust ankam, diese Dinge alle auch so kennen zu lemen und solchen Genuß davon zu haben, wie Jos hatte.
Schon wußte er nun, welches Futter die schönste Milch gibt und wie nachher die Milch zu Butter und zu Käse gemacht wird, und wie man dazu die Milch behandeln muß. Auch daß die Sennen am liebsten die Milch von Vinzenz Lesa beziehen wollten, weil seine Kühe so sauber gehalten wurden und auch weil sie von der besten Rasse waren.
Noch waren die beiden in der eifrigsten Unterhaltung, als Stefeli dahergerannt kam und zu ihrer Verwunderung sofort unter dem Baum das Mittagsmahl rüstete. Die beiden hatten vor lauter Vertiefung in ihr Gespräch nicht bemerkt, wie die Zeit vergangen und es schon spät geworden war. Das war Stefeli eben recht; denn auch die Entdeckungsreise hatte eine ziemliche Verspätung zur Folge. Nun erschien auch Alida, und in besonders guter Stimmung setzten sich heute alle vier zum Essen nieder. Daß Hugo heiterer und lebendiger war als je zuvor, gab der ganzen Gesellschaft einen Anlaß zu besonderer Fröhlichkeit.
»Wir wollen nun eine Familie sein«, schlug Alida vor, »dann bleiben wir immer zusammen. Hugo ist der Gutsherr, ich bin seine Schwester, das Fräulein auf dem Gut. Jos ist der Verwalter.«
»Dann kann ja Stefeli die Gutsherrin sein«, setzte Hugo hier ein.
»Was denkst du auch, Hugo«, rief ihm Jos zu, »Stefeli kocht uns ja und deckt uns den Tisch, das kann doch nicht die Frau vom Gutsherrn, es muß die Frau vom Verwalter sein.«
»Jos hat recht«, entschied Alida, »so muß es sein.«
»Dann hat der Gutsherr eine Mutter, das ist noch viel besser als eine Frau«, sagte Hugo. »Wenn dann Frau Lesa uns einmal besucht, so müßt ihr sie alle als die Mutter des Gutsherrn empfangen und ihr ein großes Fest bereiten.«
Der Gedanke fand großen Anklang, und es wurde gleich ausgemacht, wie das Fest gefeiert werden sollte, und Alida erfand so erstaunliche Festpläne mit Fackeln und Raketen, daß Jos sagte: »An dem Tage springen jedenfalls unsere Kühe vor Schrecken über alle Zäune, und die Festleute können ihnen dann nur gleich in ihren Festjacken nachklettern.«
Bei dieser Vorstellung brachen alle vier so in Lachen aus, daß die Stimmung für feierliche Festanordnungen vorüber war. Das Mittagsmahl war auch vorüber, und nun legte sich eines hier in den Schatten der breiten Äste, das andere dort, und bald schliefen sie alle vier, von den blätterreichen Zweigen umfächelt, so herrlich, als lägen sie auf den kostbarsten Ruhebetten, und sogar auf Hugos blasse Wangen lockten Luft und Sonne, die hier so milde walteten, einen rosigen Schimmer hervor.
In fröhlichster Unterhaltung kam am Abend die Gesellschaft hinter der Herde durch die sinkende Sonne heimgezogen, alle zusammen wie von Gold übergossen.
Wo Jos gewöhnlich zurückblieb, da schwenkte nun auch Hugo ab, beide verschwanden im Stalle.
»Jetzt fängt der auch an«, sagte Stefeli, »mich nimmt nur wunder, was er noch drinnen tun will.«
»Es ist recht, laß ihn nur gehen«, bemerkte Alida, »er ist viel fröhlicher, wenn er mit Jos zusammen ist wie heute, das habe ich wohl gemerkt.«