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In Leuk

Am grünen Abhang über dem Dorfs Leuk leuchtete die Junisonne auf das frische Gras, das weithin die Höhe bedeckte und die Luft mit Wohlgeruch erfüllte. Bei dem vereinzelt siehenden Haus am Wege, der den Berg hinan den Bädern von Leuk zuführt, standen zwei Frauen, die ihr Gespräch in so emsiger Weise führten, als könnten sie kaum mit allem fertig werden, was noch gesagt sein mußte.

»Das kann ich dir sagen, Marianne«, fuhr diejenige der beiden fort, die am meisten mitzuteilen hatte, »wenn du ein paar Zimmer einrichten könntest wie ich, so würdest du bald den Gewinn davon einsehen. Gäste bekämest du schon. Es kommen viele, die mit Leuten zusammenhängen, die oben in den Bädern sind, die aber nicht dort oben wohnen wollen oder nicht sollen, wie die drei, die ich nun habe. Freilich, du wohnst ein wenig weit unten, die Leute sind im Sommer lieber auf halber Höhe wie hier, als unten auf dem Talboden. Wenn du nur so wohntest wie die dort drüben, die haben den besten Platz an der Halde und noch die schönsten Wiesen dazu. Aber die schönsten Leute sind sie nicht«, schloß die Frau mit wenig freundlichen Blicken auf das Haus hinüber, das eine Strecke weiter oben abseits vom Wege stand. »Der Hochmut frißt sie fast, ihn nicht so arg, aber die Frau, die solltest du sehen!«

»Worin sieht man es denn, daß sie so hochmütig ist?« fragte Marianne.

»Worin? Frag du lieber, worin sieht man's nicht«, entgegnete Madlene schnell, »in allem sieht man es. Am Gehen und am Stehen und am hoffärtigen Aussehen, so, als wäre es immer Sonntag für sie. Und die Kinder sind schon gerade wie sie, natürlich, sie hat sie so erzogen. Der Bub hat sein schwarzes Haar immer so gekräuselt, als ging es auf die Kirchweih, und das Kleine streckt sein Näschen immer so in die Luft hinaus, als wollte es jedem sagen: ›Jetzt komm ich‹.«

»Wenn dem Kleinen die Nase einmal so in die Luft hinausgewachsen ist, so kann es ja nichts dafür«, meinte Marianne, »und der Bub ist eigentlich an seinem Kraushaar auch nicht schuld. Grüßt dich denn die Frau nicht, wenn du sie antriffst?«

»Doch freilich, das tut sie schon, das wollte ich ihr nicht raten, den Hochmut soweit zu treiben«, sagte Madlene in drohendem Ton; »aber wenn du meinst, sie stehe ein einziges Mal nur eine Minute stille, wenn man ihr begegnet, und sage etwa ein paar Worte, wie man doch mit seinen Nachbarn zu tun pflegt, so bist du im Irrtum. Und fängt man einmal mit ihr an, so gibt sie eine kurze Antwort und läuft gleich davon, als wäre man nicht ihresgleichen. Die kann aber warten, bis ich wieder ein Gespräch mit ihr anfange.«

Marianne hatte unterdessen nach dem bezeichneten Hause hinübergeblickt und sagte ganz verwundert: »Wie ist denn das? Solange ich denken kann, stand dort oben ein altes graues Haus, an dem nie ein Fenster offen war, und alle Scheiben waren vom Alter grau und undurchsichtig, es sah aus wie ein Räubernest. Und jetzt ist ein schneeweißes Haus dort, und alle Fenster glitzern in der Sonne; das kann doch nicht das gleiche sein.«

»Freilich ist es das; da kannst du recht sehen, wie sie der Hochmut sticht«, erwiderte Madlene eifrig. »Da hat der Bauer Lesa mehr als fünfzig Jahre mit seiner alten Wirtschafterin in dem Hause gewohnt und hat die ganze Zeit nicht einen Nagel am Hause anders eingeschlagen; alles war ihm recht und gut, so wie es schon beim Vater und Großvater gewesen war. Kaum hatte er die Augen zugemacht, so kam der Erbe mit seiner Frau über die Gemmi herüber, und es ging an ein Abreißen und Aufmauern und Fegen und Putzen und Aufrüsten, daß man hätte meinen können, es sei ein Landvogt eingezogen. Natürlich kam die ganze Geschichte von der Frau her, der nichts gut genug war, was die Alten in Ehren gehalten hatten.«

»Ich meine aber doch, wenn der letzte Besitzer fünfzig Jahre lang keinen Nagel am Haus eingeschlagen hat und alles so ließ, wie er es von seinem Vater und Großvater übernommen hatte, so wird's wohl nicht unnötig gewesen sein, ein wenig zu putzen und zu räumen«, sagte Marianne; »schön sah das alte Haus nicht aus, jetzt hat's ein anderes Aussehen, das muß ich sagen! Aber warum sagst du, daß der Erbe über die Gemmi gekommen sei, sind denn die Lesa nicht aus unserem Land?«

»Ja, das waren sie schon von Anfang an, du kannst auch durchs Tal hinauf immer wieder einen finden, der Lesa heißt«, erwiderte Madlene. »Aber einer soll drüben über der Gemmi geheiratet haben und dann bei der Frau auf Berner oder Freiburger Boden geblieben sein. Das weiß ich aber nur vom Hörensagen, es ist mehr als hundert Jahre her seitdem, mehr als zweihundert. Als nun der alte Lesa droben tot war, hat es sich gezeigt, daß seine nächsten Verwandten gerade die waren, die dort drüben lebten, und so ist denn der Vinzenz Lesa mit seiner Frau und den zwei Kindern eingerückt; es sind jetzt, denk ich, so zwei Jahre her. Man sagt, sie hätten drüben auch ein schönes Haus und viele Kühe; denn dort sei gutes Grasland und ein schöner Viehschlag. Ein Bruder von Vinzenz sei auf dem Gut, hab ich gehört; ob dieser später auch wieder dorthin zurückkehrt, wenn er alles hier in die Höhe gebracht hat, daß er es gut verkaufen kann, das weiß man nicht, er sagt auch nicht viel.«

»Potztausend, ich muß gehen«, rief Marianne erschrocken aus, als jetzt vom Dorf herauf eine Glocke erschallte. »Ich muß in die Bäder hinauf, und zu spät darf ich auch nicht heimkommen; der Mann will sein Abendessen, und die Kinder warten auch nicht gern. Wo ist denn die alte Wirtschafterin von dem Lesa dort oben hingekommen?«

»Die starb ganz kurze Zeit nach ihm«, berichtete Madlene; »die hatte alle fünfzig Jahre bei ihm zugebracht und war weit über siebzig, die konnte nichts Neues mehr aufnehmen, sie war seine Base. Sieh, sieh«, fuhr Madlene lebhafter fort, »dort kommen sie gerade über die Wiese her. Jetzt kannst du die Frau vom Lesa selbst sehen und ihre aufgeputzten Kinder dazu; wart noch, bis sie kommt.«

Marianne ließ sich nicht lange bitten, noch zu bleiben, sie war sehr begierig darauf, die eben besprochenen Personen zu sehen.

Nun kamen sie näher.

Die Kinder mußten der Mutter vieles mitzuteilen haben. Von beiden Seiten redeten sie beständig und so lebhaft auf sie ein, daß man hätte denken müssen, sie könne weder Ohr noch Auge für irgend etwas anderes mehr haben. Sobald sie aber dem Hause nahe war, wo die zwei Frauen sich ein wenig in den offenen Hausgang zurückgezogen hatten, grüßte sie freundlich. Augenblicklich riß der Junge seine Mütze vom Kopf, und das Mädchen rief mit heller Stimme: »Gott grüß Euch!« Sowie sie einige Schritte weiter gegangen waren, fing die lebhafte Unterhaltung von neuem an.

»Die sehen gut aus«, sagte jetzt Marianne und schaute mit Wohlgefallen den dreien nach. »Da seh ich gar keine Hoffart, Madlene; aber sauber und ordentlich sehen die Kinder aus wie wenige und die Mutter dazu. Der steht auch alles so gut an, mich nimmt nur wunder, wie sie's macht. Sie trug nichts anderes, als was wir auch tragen; aber es sah an ihr ganz anders aus. Und dem Buben fiel das schwarze Lockenhaar so schön unter der Mütze hervor, und das Kleine mit dem Luftstechernäschen hat seine braunen Zöpfe so schön ordentlich um den Kopf gebunden und sieht überhaupt flink und lustig aus wie ein Vögelein.«

»Weißt du noch mehr zu erzählen?« fragte Madlene etwas ärgerlich.

»Ja, du hast recht, ich täte besser, meiner Wege zu gehen, als so viel Unnützes zu reden«, sagte Marianne, sich zum Gehen anschickend. »Es macht einem eben große Freude, wenn man einmal wieder Leute sieht, die ihre Kinder in Zucht und Ordnung halten und etwas Rechtes aus ihnen machen wollen. Man sieht soviel andere und meint dann manchmal, es sei nicht mehr möglich, seine Kinder zum Guten zu halten. Die Frau hat mir recht Lust gemacht, es nachzumachen, soviel ich kann, daß meine Kinder auch so ordentlich aussehen und so artig grüßen. Nun will ich gehen. Nichts für ungut, leb wohl, Madlene.«

Jetzt führte Marianne ihr Vorhaben wirklich aus und lief eilig den Wiesen entlang der Höhe zu.

Unterdessen stieg Frau Lesa mit ihren Kindern den Berg hinan. Die Unterhaltung ging ununterbrochen weiter, einmal von der einen Seite der Mutter, einmal von der anderen, und manchmal auch von beiden Seiten zugleich.

»Du kannst es glauben, Mutter«, fuhr eben jetzt der Junge in seiner Mitteilung fort, »das Kind ist nicht viel größer als Stefeli, und denk nur, es stand vor der Haustür, als wir gestern abend am Haus der Frau Troll vorbeigingen, und dann lief es hinein, und auf einmal klang es aus dem offenen Fenster so schön wie ein Lied. Der Bruder saß noch draußen mit einem Buch, und ich fragte: ›Was klingt so schön?‹ Er sagte: ›Alida spielt Klavier.‹ Denk doch, so ein kleines Kind! Ich hätte gern noch zugehört; aber ich dachte, ich dürfe nicht; Stefeli sagte, wir müßten heim, es sei spät.«

»Ja, das war es auch«, bestätigte Stefeli. »Ich wäre auch noch gern dort geblieben; aber wir mußten heim, der Vater saß ja schon am Tisch, als wir kamen. Ich habe auch noch gehört, daß der Bub Hugo heißt, und ein krummes Fräulein ist auch noch da; denn die Alida hat zu dem Bruder gesagt: ›Nun muß ich hinein, sonst holt mich das Fräulein noch selbst hinein, und es geht ganz krumm‹.«

»Nein, nein, Stefeli, das war nun wohl nicht so gemeint«, sagte die Mutter, »das Fräulein wird wohl nicht krumm sein, sondern daß es mit Alida krumm gehen könnte, wenn sie nicht gehorchte, war die Meinung. Sind denn die Eltern der Kinder nicht mit ihnen da?«

»Nein, ich glaub es nicht, ich weiß es aber doch nicht. Was meinst du, Vinzi?« fragte Stefeli, sich an den Bruder wendend.

Er gab keine Antwort.

»Was starrst du so in die Ferne und gibst keine Antwort?« fragte jetzt die Mutter

»Hör, hör, Mutter!« sagte Vinzi leise, »hörst du, wie schön es klingt?«

Die Mutter stand still. Aus der Ferne trug der Wind die Klänge einer Abendglocke vom Tal herauf; leise verklangen sie über den Höhen, und wieder lauter stiegen sie aus der Tiefe empor. Der Wind mußte heute besonders nach dieser Seite wehen, daß man sie so deutlich hörte. Jetzt waren die Töne verklungen.

Halb in Sorge, halb in fragender Verwunderung hatten die Blicke der Mutter auf ihrem Buben geruht, während er in tiefes Lauschen versunken stand. Noch blieb sie still; denn noch rührte Vinzi sich nicht, und es war, als lausche er immer noch mit der größten Spannung in die Ferne, obschon kein Ton mehr zu hören war.

»Vinzi, kannst du jetzt wieder verstehen, was man sagt?« fragte Stefeli, das über die Weise des Bruders gar nicht verwundert schien.

»Ja«, antwortete er, wie aus einem Traum erwachend.

»Ist das Fräulein krumm, das bei der Alida und dem Hugo ist?« fragte Stefeli jetzt angelegentlich; es mußte offenbar über den Punkt Gewißheit haben.

»Ja, vielleicht«, sagte der Bruder, noch wie ein wenig abwesend. Aber solche Ungewißheit konnte Stefeli nicht ertragen.

»Wenn sie nicht krumm ist, dann ist sie gerade, aber nicht vielleicht«, warf es ein wenig erzürnt hin. »Jetzt wollen wir gleich noch einmal zum Haus der Frau Troll hinabgehen, dann können wir selbst sehen, wie das Fräulein ist, gelt Mutter, wir dürfen?«

»Nein, deswegen gehen wir nun nicht zu dem Haus zurück«, erwiderte die Mutter; »aber es ist Zeit umzukehren, sonst kommt der Vater früher heim als wir, das darf nicht sein. Am besten ist es, wir gehen denselben Weg zurück, es ist der kürzeste; aber du mußt nicht denken, daß wir dann vor dem Hause der Frau Troll stillstehen, Stefeli, und warten, ob wir ihre Hausbewohner sehen können.«

»Sie sitzen vielleicht vor dem Haus«, sagte Stefeli, seine Absicht im stillen festhaltend.

Nun die Mutter die Rückkehr antrat, rannte es voraus, um recht bald das Haus zu erblicken und zu entdecken, ob jemand davor sitze. Nicht nur um der Frage willen, die zu erledigen war, sondern noch mehr, weil Stefeli gar so gerne die zwei fremden Kinder wieder gesehen hätte, die in dem Hause eingezogen waren und die es am Abend vorher bei der Heimkehr mit Vinzi vor dem Hause der Frau Troll erblickt hatte.

Vinzi wanderte still neben der Mutter her. Er war nicht mehr so gesprächig wie im Hinaufsteigen. Die Mutter war an diesen Wechsel bei ihrem Buben gewöhnt.

»Sag mir, Vinzi«, fragte sie jetzt, »warum hast du immer noch so hingehorcht, als die Glockentöne schon lange verklungen waren?«

»Oh, ich habe sie immer noch gehört«, entgegnete Vinzi, »und dann auf einmal sang es von all den Hügeln nieder, so lieblich, und aus den schwarzen Tannen droben tönte ganz tief der Baß herab, und zwischendurch sang wieder die Glocke ein schönes, helles Lied, oh, so schön, wenn ich dies nur singen könnte!«

»War es nicht ein Lied, das du schon singen gehört hattest?« fragte die Mutter, in großer Teilnahme nach einem rechten Verständnis suchend, »wenn du mir etwas davon vorsingen könntest, fände ich vielleicht das Lied genau und könnte dir die Worte sagen.«

»Nein, nein«, wehrte Vinzi, »es ist gar kein Lied, das ich habe singen hören, es hat keine Worte, es waren ganz neue Weisen, die ich noch nicht kannte. Ich höre sie noch; aber ich kann sie nicht nachsingen.«

Die Mutter schwieg nachdenklich stille, sie konnte nicht recht verstehen, was in ihrem Vinzi vorging. Auch sie hatte an Musik und Gesang von jeher große Freude gehabt. Sie hatte mit ihren Kindern gesungen, sobald sie nur stammeln konnten, und jeden Abend war ihr das liebste, mit den Kindern noch ein Lied zu singen. Das war auch, was der Junge vor allem gern mochte.

»Komm, Vinzi, wir wollen ein Lied zusammen singen«, sagte sie jetzt, »das wird uns beide fröhlich machen. Was wollen wir singen? Zu welchem Lied hast du Lust?«

»Ich weiß nicht; wenn ich nur singen könnte, was ich noch in den Ohren habe«, entgegnete er.

»Du meinst vielleicht nur, du habest so etwas in den Ohren; sing nur einmal frisch heraus, dann freut's dich selbst«, sagte die Mutter und begann mit heller Stimme nun ein Lied zu singen, das Vinzi wohl kannte.

Er zauderte erst noch ein wenig; aber die bekannten Klänge zogen ihn bald mit. Nun fiel er mit sicherer Stimme ein und sang das Lied mit der Mutter zu Ende, so wie sie's gern hörte. Noch bevor sie das Saus der Frau Troll erreichten, war der Gesang zu Ende gekommen. Jetzt stürzte Stefeli plötzlich hinter einem Baum hervor. Es hatte dort von dem verborgenen Platz aus die fremden Kinder betrachtet, die vor dem Hause saßen, jedes mit einem Buch in der Hand. Es war aber dem Stefeli nicht entgangen, daß Alida gar nicht viel in ihr Buch sah, sondern den Kopf nach allen Seiten drehte, um zu sehen, was etwa vorging. Stefeli wäre gar zu gern hingerannt und gätte ein wenig Freundschaft mit Alida geschlossen. Aber nun war das Fräulein herausgekommen und war gar nicht krumm, sondern so gerade und aufrecht, daß Stefeli von einer großen Scheu ergriffen wurde und sich mehr und mehr hinter dem Baum verbarg, um ja nicht entdeckt zu werden. Das hatte Stefeli alles eilig den Ankommenden berichtet, und nun war es sehr froh, mit der Mutter und Vinzi weiterwandern zu können; denn nun führte der Weg gleich ganz nah an dem Hause vorüber. Da wollte es sehr gern hinkommen, aber lieber in Begleitung von Mutter und Bruder; denn das Fräulein saß noch dort. Als sie dem Hause nahe waren, schauten die Kinder sich gegenseitig sehr forschend an; denn alle vier waren begierig zu sehen, wie die anderen aussahen.

»Es sind die Kinder von gestern«, sagte Alida halblaut, »ich möchte hinübergehen und Bekanntschaft mit ihnen machen.«

»Nein, das tust du nicht, Alida, wir wissen nicht, wer sie sind«, entgegnete rasch das Fräulein.

Obgleich auch diese Worte nur halblaut gesprochen wurden, konnten die Vorübergehenden sie doch verstehen.

»Sie will nicht, daß Alida mit uns rede, hast du's gehört, Mutter?« sagte Stefeli, als sie eine Strecke weitergegangen waren.

»Jawohl«, erwiderte die Mutter, »es ist recht, daß du nicht hingelaufen bist, du mußt es nie tun, Stefeli, hörst du?«

»Ja, aber so kommen wir ja gar nie zusammen, und Alida wollte es doch auch gern«, sagte Stefeli ein wenig aufrührerisch.

»Siehst du, Stefeli, das Fräulein muß vielleicht die zwei Kinder erziehen; da hat sie alles zu verantworten, was sie tun und treiben und mit wem sie zusammenkommen, weil sie von anderen Kindern allerlei hören und annehmen können, was sie nicht sollen«, sagte die Mutter erklärend. »Vielleicht treibt es diese Alida ein wenig wie du, Stefeli, daß sie ihr Näschen gern in jede Öffnung stecken und durch jede Hecke gucken möchte; so muß ihr das Fräulein schon ein wenig aufpassen und acht geben, mit wem sie Bekanntschaft machen will.«

Jetzt hatte Stefeli erst recht Lust, mit Alida zusammenzukommen und ein wenig Freundschaft mit ihr zu schließen.

»Dort geht der Vater«, sagte Vinzi, »wenn wir mit ihm daheim sein wollen, müssen wir schneller gehen.«

Das hatte die Mutter auch im Sinn. Sie beschleunigte ihren Schritt, und nur eine kleine Strecke von ihrem Hause entfernt trafen die drei mit dem Vater zusammen, und bald saß die kleine Familie beim Abendessen um den viereckigen Tisch in der geräumigen Stube.

Am Tisch ging es still zu. Die Kinder wußten, daß sie da zu schweigen hatten; die Eltern sprachen auch nicht viel. Sowie die Kinder fertig waren, fragte Vinzi: »Dürfen wir hinaus?« Es wurde erlaubt, und sie rannten in aller Eile der Scheune zu. Da drinnen und ringsum draußen gab's eine Menge Winkel und Ecken, wo man sich herrlich verstecken und verkriechen konnte.

Der Juniabend war hell und warm. Vinzenz Lesa hatte sich nun gemächlich vom Tisch erhoben; er ging hinaus, zündete sein Pfeifchen an und setzte sich auf die Bank vor dem Hause. Bald nachher kam die Frau heraus und setzte sich neben ihn. Nun wurde er gesprächig. Er erzählte von seinem heutigen Besuch bei einem Bekannten unten im Tal und wie er dessen Wiesen und Felder und seinen Viehstand besichtigt habe und dann im stillen immer seine eigene Besitzung damit habe vergleichen müssen. Als sie dann alles gründlich miteinander durchgesehen hatten, habe er zu sich selbst sagen müssen: »Vinzenz Lesa, dir ist ein schönes Erbteil zugefallen.«

»Ja, wir haben zu danken, und wir wollen es auch tun, Vinzenz«, setzte hier die Frau ein.

»Ja, das ist schon recht«, fuhr der Mann fort; »aber wenn ich mich daran freuen will und recht mit Lust ausdenken, wie ich das schöne Heimwesen noch ausdehnen und auch den Viehstand noch vergrößern könnte, dann ist's gerade, als würfe mir auf einmal einer einen Bengel (Knüppel) zwischen die Füße, daß ich keinen Schritt mehr weiter kann. Das ist der Bub, der Vinzi, der mir in den Sinn kommt. Für wen wollte ich denn das alles tun als für ihn? Und was ist das für ein Bub? Keine Augen hat er im Kopf! Keine Freude, keine Teilnahme zeigt er, wenn er auch die schönsten Kühe, die weit und breit zu finden sind, auf die Weide führen kann. Sag ich zu ihm: ›Sieh doch, was diese Wiese für ein prächtiges Futter gibt!‹, dann sagt er ›ja‹ und schaut in die Weite, daß man sieht, er hat weder zugehört, noch hat er die Wiese angesehen, auf der er steht. Ich glaube, der ist aus der Art geschlagen.«

»Nein, nein, Vinzenz, das ist denn doch zuviel gesagt«, warf jetzt die Frau lebhaft ein. »Wenn der Vinzi auch etwa nicht zugehört hat und seine Gedanken anderswo sind und auch noch nicht die rechte Freude an der Landwirtschaft hat, die er haben sollte, so hat er doch noch nichts Schlimmes angestellt, das kannst du nicht sagen.«

»Das sag ich ja nicht«, fuhr der Mann fort; »aber das sag ich: Was fehlgeschlagen ist, das ist fehlgeschlagen, und wenn ein Bub keine Empfindung hat für Wiesen und Felder, wie wir sie haben, für Kühe, wie sie in meinem Stalle stehen, und für alles, was zu dem erlesenen Heimwesen gehört, so ist er aus der Art geschlagen, und wie dem zu helfen ist, weiß ich nicht.«

»Es kann ihm ja auch von selbst noch anders kommen, er ist doch noch jung«, sagte seine Frau beschwichtigend, obschob ihre heimliche Sorge um den Buben auf dem heutigen Gang wieder schwerer geworden war. Es war ja etwas Unverständliches an dem Buben. Sie wußte es wohl, und daß er immer wie anderswo war, als da, wo er sein sollte, kannte die Mutter am besten. Sie fand jetzt für gut, die Gedanken ihres Mannes auf eine andere Seite zu lenken, und erzählte ihm, wie sie heute im Vorübergehen bei der Frau Troll Leute gesehen, die für den Sommer die oberen Zimmer bei ihr gemietet haben. Es seien zwei so nette Kinder dabei, daß sie habe denken müssen, solche Kinder nähme sie auch gerne ins Haus. Sie könnten auch so etwas gut einrichten, das Haus wäre groß genug, und ein paar Zimmer könnte sie wohl so herrichten, daß man sie anbieten dürfte.

»Man weiß doch gewiß nie, wenn du über Nacht etwas erfindest, daß man in seinem eigenen Hause nicht mehr sicher ist«, sagte der Mann halb im Ärger, halb im Schrecken. »Wir haben ja eigene Kinder, warum sollten wir anderen Leuten ihre Kinder abnehmen?«

»Aber wenn sie so nett sind wie diese und wohl erzogen, dann könnten unsere Kinder doch nur Gutes von ihnen lemen«, entgegnete die Frau, »wir sehen ja unsere Kinder auch lieber, wenn sie sauber sind und sich manierlich betragen, als wenn sie wie die Ferkelchen herumstolpern und grobe Worte reden.«

»Ach was, Kinder tun alle ungebärdig, und wenn es bös kommen will, so kann man ihnen den Meister zeigen; aber ich weiß schon, wohin du zielst; laß es nur sein, es hilft dir nicht«, sagte der Bauer abwehrend. »Ich will nichts Fremdes im Haus haben, ich will für mich sein, und mit diesen fremden Herrenleuten brauchen die Kinder auch nichts zu tun zu haben, du mußt sie nicht dort hinübergehen lassen, sonst wird das Stefeli auch noch verdorben, wie es der Bub schon ist. Jetzt ist es noch ganz anders als der. Es läuft den Kühen nach und streichelt sie wie Freundinnen, und das junge Rind läuft wiederum ihm nach und frißt dem Kind aus der Hand und reibt den Kopf an ihm wie an einem Kameraden. Und sagt man etwas, so paßt das Kind auf und ist bei der Sache, und sieht auch mit eigenen Augen, wo etwas fehlt, im Stall oder in der Scheune, und weiß genau, was sein muß. Der Bub nie, der sieht nichts und weiß nichts. Wenn ich die zwei vertauschen, das Mädle zum Buben und den Buben zum Mädle machen könnte, dann wär's etwas anderes. Aber wenn's doch einmal so sein muß, so will ich doch das Kind nicht auch noch angesteckt haben.«

»Man könnte meinen, das Gut-gezogen-sein sei eine böse Krankheit, Vinzenz«, sagte die Frau mit Ruhe. »Du mußt aber keine Sorge haben; ich habe drüben ein Fräulein gesehen, das die Kinder hütet, und es sorgt schon dafür, daß diese Kinder den unseren nicht zu nahe kommen. Jetzt wird's aber Zeit sein hineinzugehen.«

Sie rief nach den Kindern, sie sollten kommen, ihr Abendlied zu singen. So wie sie da waren, stimmte die Mutter ein, und beide sangen gleich mit heller, sicherer Stimme mit. Sie kannten das Lied wohl, und für die Töne der Musik mußten beide ein gutes Ohr haben. Sie hatten als ganz kleine Kinder schon die Lieder der Mutter alsbald richtig nachgesungen. Wie nun das Lied so schön durch die friedliche Abendstille klang, da kehrte auch dem Vater Vinzenz die gewohnte Ruhe zurück, nachdem er durch seine eigenen Gedanken und Befürchtungen in ungewohnter Weise in Aufregung geraten war.

 


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