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Herr Thornau, der mit seiner kranken Frau in den Bädern von Leuk verweilte, hatte soeben zwei Briefe durch den Boten von Dorf Leuk erhalten. Der eine war von der Begleiterin seiner Tochter, der andere von dieser selbst. Beide berichteten dasselbe, den brennenden Wunsch, er möchte sich sobald wie möglich bei ihnen einfinden, sie hätten dringend mit ihm zu sprechen. Diese völlige Übereinstimmung in den Wünschen der beiden machte ihm keine besondere Freude; er wußte aus Erfahrung, daß solche Übereinstimmung immer einem großen Zwiespalt entsprang. Er legte die Briefe auf das Lager seiner Frau und sagte: »Da ist wieder ein Ruf nach Leuk hinunter; ich will aber nicht, daß du dich dadurch aufregen läßt. Es ist ja natürlich ein neuer Landrattenfall, den ich zu erledigen habe, und ich will nicht, daß dir so etwas Schaden bringe.«
Daß die Kranke schon aufgeregt war, konnte der Mann wohl sehen; sie sagte aber nur wie vor sich hin: »Ach, wenn wir die Kinder doch nicht weggeschickt hätten! Es ist nicht gut für sie; sie sollten bei den Eltern sein.«
»Hast du den Wunsch, Alida, daß sie hier bei uns sind, so sprich ihn nur aus«, sagte Herr Thornau, »du weißt, ich habe die Kinder dort unten untergebracht, damit du mehr Ruhe hast, wünschest du sie hier zu haben, so werde ich sie sofort heraufholen.«
»Ja, ich werde mehr Ruhe haben, wenn du es tust«, erwiderte die Frau, »es ist nicht gut für sie, wie wir meinten. Die Begleiterin mag es gut meinen und will sie auf alle Weise gut erziehen; aber sie kennt das Kindergemüt nicht, und will zuviel erziehen. Sie fährt gleich mit großen Ernst drein, wo es gar nicht nötig wäre. Ich sehe, wie sie mit aller guten Meinung es dahin gebracht hat, daß Hugo immer stiller und verschlossener, Alida immer störrischer und widerspenstiger wird. Es sind ja beide Kinder nicht leicht zu behandeln.«
»Ganz richtig«, stimmte ihr der Mann bei, »Alida hat durchaus mein Temperament, sie bedarf als Mädchen einer besonders guten Leitung. Die Natur hat bei den zweien eine Kreuzung vorgenommen, Hugo hat ganz dein Wesen und deinen Charakter, auch deine zarte Gesundheit, auch er braucht eine besondere Aufsicht.
»Und auch besondere Pflege«, setzte die Mutter hinzu. »Nicht wahr, du wirst ihn immer so liebevoll behandeln, wie er es nötig hat, auch wenn ich nicht mehr da bin?«
»Ach, ums Himmels willen, wer wird denn an so was denken! Davon sprechen wir gar kein Wort weiter!« rief Herr Thornau aus, »und nun will ich gleich meinen Weg zu der Gerichtssitzung antreten; denn zwei Stunden kostet es mich immer; aber es ist ein hübscher Weg; zurück kehre ich wohl mit einem Wagen.«
Herr Thornau kicherte leise vor sich hin, wie er den Berg hinabwanderte. Der letzte Fall, den er zu schlichten gehabt hatte, trat ihm wieder vor die Augen. Alida hatte bei ihren Klavierübungen sehr unsanft auf die schuldlosen Tasten losgedroschen, um ihnen fühlbar zu machen, wie wenig erfreulich es sei, sich mit ihnen abzugeben. Da hatte ihr Fräulein Landrat einen verdienten Verweis erteilt, war aber dabei in eine leidenschaftliche Aufregung geraten. Plötzlich hatte Alida beide Hände auf den Mund gepreßt, damit ihr kein Laut entwische. »Warum lachst du?« hatte Fräulein Landrat noch erregter gefragt, worauf Alida erklärte, das könne sie nicht sagen. Auf dreimaliges erneutes Fragen hatte sie immer dieselbe Antwort gegeben. Nun hatte das Fräulein ihr befohlen, sofort die Wahrheit herauszusagen; daß sie gehorchen müsse, wisse sie. Das wußte Alida wirklich und teilte nun der Fragenden mit, ihr Gesicht sei beim starken Schelten so spitz geworden, daß es ganz einer Zeichnung im Heft der Naturgeschichte geglichen habe. Da sei ihr plötzlich in den Sinn gekommen, vielleicht heiße sie Fräulein Landratte. Das Fräulein hatte nun beim Vater über solche Ungehörigkeit Klage geführt; aber Alida behauptete, sie habe ja nicht unschicklich sein wollen; aber sie habe gehorchen müssen, das habe ihr der Vater vor allem befohlen. So war der Fall für den Vater ein wenig schwierig zu erledigen gewesen.
Jetzt war Herr Thornau am Hause der Frau Troll angelangt. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und Alida stürzte heraus, sie hatte den Vater kommen gesehen. Mit der ersten Begrüßung rollte gleich ein ganzer Strom von Mitteilungen über das fragliche Ereignis daher; aber der Vater hemmte seinen Lauf. »Erst kommt Fräulein Landrat«, sagte er, »und nachher kommst du an die Reihe.« So wurde es gehalten, und Herr Thornau lernte den Vorgang erst von der einen, dann von der anderen Seite durch lebhafte Schilderungen kennen. Alida unterließ nicht, dem Vater die Vertreibung des Vinzi durch Frau Troll in besonders deutlicher Weise vor Augen zu führen. Hugo wurde als Zeuge aufgerufen, daß Vinzi gar kein hergelaufener Straßenbube, sondern ein sehr netter und gut aussehender Junge sei, mit dem jeder Mensch lieber Freundschaft machen wollte als mit Frau Troll, was Hugo bestätigte.
Daß der musikalische Feuereifer seiner Tochter einen besonderen Grund hatte, bezweifelte der Vater keinen Augenblick; das war ihm aber jetzt nicht die Hauptsache. Aber daß ein dienstfertiger Junge, der erst ein verlorenes Gut seiner Tochter zurückgebracht und dann auf ihre Einladung wieder ins Haus gekommen war, nachher schimpflich fortgeschickt worden war, das war durchaus nicht in Ordnung, da mußte etwas gutgemacht werden. Er wollte gleich mit seinen Kindern den Jungen und seine Eltern aufsuchen, um sich wenigstens zu entschuldigen; vielleicht war ja auch ein kleines Geschenk anzubringen, dachte Herr Thornau, war doch auch das Wiederbringen des verlorenen Tuches gar nicht berücksichtigt worden. Alida stellte sich mit großer Freude als Führerin hin. Sie hatte längst von Vinzi erfahren, wo er wohne und wie man zu seinem Hause gelange. So konnte man gleich aufbrechen. Der Weg war sehr einfach: ein Fußpfad führte über die große Wiese hin und ein wenig um die Ecke; in kurzer Zeit stand die Gesellschaft vor Vinzenz Lesas Hause. Es war ringsum alles still, nur im Hühnerhof drüben bei der Scheune gackerten gemütlich Henne und Küchlein. Um das Haus herum sah es so sauber aus, als wäre den Augenblick der Grasboden ringsherum geschnitten, der Weg mit dem Besen gereinigt, die Bank, vom großen Nußbaum beschattet, blank gefegt worden.
»Hier sieht es gut aus«, sagte Herr Thornau, mit Wohlgefallen umherschauend, »schade, schade!«
Er hatte die letzten Worte nur so vor sich hingesagt; aber Alida hatte sie schnell aufgeschnappt und gedeutet.
»Ja, wie schade, daß wir nicht da sind, nicht wahr, Papa?« fiel sie schnell ein; »aber wir könnten ja nur schnell umziehen, das Klavier hast du ja selbst gemietet. Dann könnte Vinzi jeden Tag mit mir üben, und ich tu es dann so gern. Weißt du, Alleinüben kann man fast vor Langweile nicht aushalten, darum habe ich ihm die Stunden gegeben, daß er mit üben könne, und er kann es bald, er ist so geschickt.«
Der Vater lachte auf: »Ah so, das ist der Kern des Musikunterrichts! Ausgezeichnet! Und der Schüler, den du dir erziehen wolltest, war recht lernbegierig?«
»O ja, und so geschickt!« rief Alida aus. »Denk, Papa, wenn ich ihm etwas erklärt hatte, dann verstand er es schon besser als ich selbst und hat mir's dann manchmal wiedererklärt.«
Der Vater lachte in sich hinein, indem er nun der Haustür zuging; sie war nicht verschlossen.
Herr Thornau trat auf den Flur ein und klopfte an die erste Türe. Auf den Ruf von innen öffnete er und trat in die helle, große Stube ein, wo am Fenster Frau Lesa saß, mit einer Handarbeit emsig beschäftigt. Vor ihr saß Stefeli, die kleinen Finger um die dicken Stricknadeln drückend und zwängend, den groben Zwirn sechsfach um den Zeigefinger gewunden. Die Frau war sogleich aufgestanden und kam ihrem Besuch entgegen. Herr Thornau nannte seinen Namen und sagte, er komme mit seinen Kindern, um sein und ihr Bedauern auszudrücken, daß ihr Sohn Vinzi eine so unerfreuliche Behandlung erfahren habe, als er einer Einladung seiner neuen Freundin Alida gefolgt sei, die ihm auch Dank schuldete für ein zurückgebrachtes, von ihr verlorenes Gut. Es würde ihn und seine Kinder freuen, den Jungen selbst zu sehen und ihm sagen zu können, daß sie die Worte der Frau Troll mißbilligten und ihm auch gern eine Freundlichkeit erweisen würden. Frau Stefane wußte nichts von jenen harten Worten, Vinzi hatte nicht geklagt; sie verstand aber gleich, was vorgegangen war. Es war ja auch Frau Troll, die mit ihren Worten Vinzis Vater so gestachelt hatte, daß das Fortschicken des Jungen augenblicklich ausgeführt sein mußte. Heute früh war er ausgezogen, die Mutter hatte bis jetzt noch keinen anderen Gedanken gehabt. Sie bat den Herrn, sich niederzusetzen, und dann begann sie ihm mitzuteilen, wie es mit Vinzi stehe.
Alida war schnell zu Stefeli hinübergelaufen und fragte jetzt: »Wo ist dein Bruder?«
»Er ist fort«, antwortete Stefeli.
»Warum bist du denn nicht auf der Weide? Wenn er fort ist, mußt du ja immer auf der Weide sein, bis er wiederkommt«, sagte Allda als Kennerin der Sache, »dann mußt du auch nicht solche dicken Strümpfe stricken, wenn du draußen bist.«
»Vinzi ist nicht nur eine Stunde lang fort, sondern für viele Wochen, und darum muß man nun mit den Kühen etwas Neues machen; aber man weiß noch nicht was«, berichtete Stefeli. »Weißt du, ich könnte nicht allein hüten; wenn sie alle miteinander herumrennten, könnte ich ja nicht allen wehren. Aber die Mutter hat gesagt, alle schlimmen Dinge hätten auch eine gute Seite, ich könnte doch nun einmal daheimsein und dem Vinzi Winterstrümpfe stricken, bis er heimkommt.«
»Das gehört nun gewiß noch auf die schlimme Seite«, sagte Alida schnell, »die dicken Nadeln würgen dir ja fast die Finger ab, und von der Wolle hast du ganz dicke Einschnitte im Zeigefinger. Komm mit mir hinaus zum Hühnerhof, die Hühner gackern so lustig draußen, darfst du nicht?«
Stefeli schaute nach der Mutter hinüber; sie hatte wohl mit ihrem Gast gesprochen; aber sie hatte alles vernommen, was die Kinder verhandelt hatten. Sie nickte sogleich bejahend auf Stefelis stumme Anfrage. Die Kinder rannten davon.
»Sollte der Knabe nicht auch Lust haben, mit hinauszugehen?« fragte Frau Stefane, auf Hugo blickend, der ein wenig verloren hinter des Vaters Stuhl stand, »die Luft wird ihm auch gut tun.«
»Natürlich, versteht sich, lauf doch mit, Hugo«, ermunterte ihn der Vater, »sieh doch, wie die zwei Dinger dort herumrennen, sie fliegen völlig, geh doch und lauf mit.«
Hugo ging still hinaus.
»Wenn ich Sie recht verstanden habe, Frau Lesa«, fuhr Herr Thornau fort, an die Mitteilungen anknüpfend, die Frau Stefane über Vinzis Verschickung gemacht hatte, »so wäre diese Entfernung des Knaben dem Umstande zuzuschreiben, daß er an der Arbeit in Ihrer schönen, gedeihlichen Landwirtschaft keine Freude hat und keinen Anteil an allem dem nimmt, was doch seinen künftigen Lebensberuf ausmachen wird. Aber eines muß ich doch sagen: ein stumpfsinniger Junge kann er nicht sein, wenn er mit solchem Eifer der Aufforderung zu dem Musikunterricht meiner Tochter gefolgt ist und, wie sie sagt, ein ganz lebhaftes Verständnis dafür gezeigt hat.«
»Nein, nein, stumpfsinnig ist er nicht«, sagte Frau Stefane lebhaft; »aber das ist ja das Schlimme, daß er seine Gedanken immer auf einer anderen Seite hat, als wo sie sein sollten. Wenn der Vater mit ihm im Feld ist und eine Glocke tönt nah oder fern, so läßt der Junge gewiß alles liegen und hört kein Wort mehr, das zu ihm gesprochen wird, bis kein Ton mehr zu hören ist. Und auch, wenn niemand sonst etwas hört, ist es immer, wie wenn er auf etwas lauschte. Das machte natürlich den Vater ungeduldig, und nun meint er, wenn Vinzi eine Zeitlang mit Buben verweile, die nichts anderes kennen und sich sonst an nichts freuen als gerade an allem, das er seinem Buben lieb machen möchte, so komme es ihm auch und er werde unter den Vettern da droben ein ganz anderer werden. Aber ich weiß nicht, wie das gehen wird«, setzte Frau Stefane kopfschüttelnd hinzu, »es sitzt tief bei Vinzi, was ihn anzieht; schon als kleines Bübchen stand er unbeweglich da, wenn er etwas klingen hörte, und gab es etwa vom Fallen ein Loch im Kopf und er schrie jämmerlich, nahm ich den Kleinen auf den Schoß und sang ihm ein Lied, gleich war er mäuschenstill und zufrieden.«
»Aber, werte Frau Lesa, aus allem dem geht doch deutlich hervor, daß Ihr Junge ein offenes Ohr für alle Musik, eine große Freude daran, wahrscheinlich ganz gute musikalische Anlagen hat«, sagte Herr Thornau eifrig, »ist Ihnen denn noch niemals der Gedanke gekommen, diese Anlagen ausbilden zu lassen? Da könnten doch Sie selbst und der Junge mit Ihnen die größten Freuden erleben.«
»Ich weiß nicht, wie der Herr das meint«, erwiderte Frau Stefane mit fragendem Blick.
»Wie ich das meine? So mein ich es: Ein solcher Junge wird auf eine Musikschule geschickt. Da sieht man bald, wozu er am tauglichsten ist. Darin wird er ausgebildet. Es geht in die Jahre hinein, das ist wahr. Aber er wird ein fertiger Musiker, ist froh und befriedigt und Sie mit ihm.«
»Das ist nichts für Vinzi«, sagte Frau Stefane gelassen, »das würde sein Vater nie zugeben. Er würde niemals den einzigen Sohn vom eigenen Haus fortziehen lassen, daß er sein Unterkommen bei Fremden suche und jahrelang fortbleibe, nur damit er nachher Musik machen könnte. Das ließe mein Mann nie zu, man wüßte ja auch nicht, was aus dem Buben würde.«
»Es ist doch sonderbar, wie es in der Welt zugeht«, rief Herr Thornau aus. »Jetzt sehen Sie einmal den Jungen dort draußen an! Das ist mein einziger Sohn, würde der ein einziges Mal einen Wunsch, ein Begehren ausdrücken nach irgendeinem Ding, das er besitzen, das er erlernen, das er sich aneignen möchte, ich wäre der glücklichste Mensch; alles würde ich ihm erlauben und nach allen Richtungen hin. Aber was meinen Sie? Ich sage: ›Mein Junge, willst du reiten lernen?‹ – ›Nein, lieber nicht‹, ist die Antwort. – ›Willst du das Geigenspielen erlernen? Willst du Klavier spielen? Willst du Flöte blasen?‹ – ›Nein, lieber nicht.‹ – ›Möchtest du ein Seemann werden und übers Meer fahren in fremde Länder?‹ ›O nein, lieber nicht.‹ So klingt es immer bei jeder Frage. Muß ich da nicht mit Neid nach Ihrem Sohn blicken mit seinem entschiedenen Wunsch und Streben im Herzen?«
Frau Stefane hatte den Jungen draußen schon eine Weile lang durch das offene Fenster beobachtet. Er stand still an einen Baum gelehnt und schaute teilnahmlos vor sich hin, während gleich vor ihm die beiden Mädchen einander nachrannten, sich erhaschten, laut aufschrien und dann das Spiel von neuem begannen.
»Er ist gewiß nicht recht gesund«, sagte sie teilnehmend, »er sieht so bleich und so wenig kräftig aus, der Junge müßte so recht auf der Weide leben, alle Tage, Wochen lang.«
»Ja, das wäre ihm wohl gut«, erwiderte Herr Thornau, »recht kräftig war er nie; aber jetzt geht's auch gar nicht. Seit meine Frau krank ist und er von ihr weg mußte, ist er gar wie ausgelöscht.«
»Warum lassen Sie ihn denn auch nicht bei der Mutter?« warf Frau Stefane so lebhaft hin, als handelte es sich um ihre eigene Sache und als wäre ihr Gast ein alter Bekannter von ihr.
Herr Thornau lächelte.
»Sie sind eine rechte Kindermutter, auch für die, die Ihnen nicht einmal gehören, das gefällt mir. Aber sehen Sie, Frau Lesa, ich mußte meiner Frau Ruhe verschaffen und die Kinder anderswo unterbringen; denn wenn der Junge bei der Mutter ist, dann will die Tochter auch da sein, und die ist erschreckend unruhig, sie kann einmal nicht anders. Doch wünscht die Mutter nun, daß ich ihr die Kinder zurückbringe, da es sie noch mehr beunruhigt, wenn sie fort sind. Nun aber denke ich, mein Besuch habe Ihnen wohl lang genug gedauert, Frau Lesa«, sagte Herr Thornau sich erhebend, »Sie müssen mir aber schon erlauben, einmal wieder in Ihrem Hause einzukehren, es gefällt mir gar zu gut bei Ihnen.«
Frau Lesa begleitete ihren Gast hinaus und rief die Kinder herbei. Hugo stand noch an seinen Baum gelehnt, nun kam er langsam hinter den rennenden Mädchen her. Als Stefeli hörte, wie die Mutter den Herrn einlud, doch wiederzukommen, sagte es schnell: »Komm dann auch mit, Alida, weißt du, dann bin ich vielleicht wieder auf der Weide, und du kannst mich dort besuchen, du wolltest ja so gern einmal mit auf die Weide.«
Alida versprach, auf jeden Fall mitzukommen. Nun wurde Abschied genommen, und Herr Thornau wanderte mit seinen Kindern dem Hause der Frau Troll zu. Da diese eben sich unter der Tür zeigte, machte ihr Herr Thornau gleich die Mitteilung, daß er seine Kinder in wenigen Tagen fortholen werde. Wenn er auch alles viel schneller abbreche, als er im Sinne gehabt, so werde er natürlich allen Verpflichtungen, die er eingegangen sei, durchaus nachkommen. Er hole seine Kinder ab, weil ihre Mutter es wünsche; aber er hätte sie auch ohnedies sofort weggenommen; denn er dulde nicht, daß jemand darunter leiden müsse, daß er sich dienstfertig gegen seine Kinder erzeige.
»Wie war doch Herr Thornau auf einmal verändert«, dachte Frau Troll, als er sich abgewandt hatte, »sonst so freundlich und leutselig, und jetzt so kurz und abweisend. Und so bald wollte er die Kinder wegholen, und sowieso hätte er sie nun weggenommen und würde sie gewiß nie mehr zu ihr bringen, und das alles um des lumpigen Buben willen dort drüben; das war denn doch zum Lachen«, meinte Frau Troll. Aber sie mußte gar nicht lachen. Sie hätte gern genug die bösen Worte, die sie dem Vinzi gegeben, unausgesprochen gemacht; aber jetzt war's zu spät. Der Wagen, den sich Herr Thornau zur Rückkehr bestellt hatte, fuhr eben vor. Alida führte ihren Vater herbei. Er mußte dreimal versprechen, daß er bald, recht bald kommen werde, sie abzuholen, bevor sie ihn losließ. Hugo schaute gespannt zu ihm auf, ob er auch recht verspreche. Nun fuhr der Wagen ab. Herr Thornau fuhr, in Gedanken versunken, den Berg hinan. Er hatte einen ganz besonders angenehmen Eindruck von Frau Lesa und ihrer Häuslichkeit erhalten. Ja, hätte er diese Frau gekannt, bevor er seine Kinder untergebracht hatte! Eigentlich hätte sie ihm und seinen Kindern zürnen müssen, daß durch sie das Maß bei dem Vater voll wurde und der Junge fort mußte. Aber davon war ja keine Spur. Die ganze Fahrt mit der angenehmen und der unangenehmen Seite war neuerdings durch die Abneigung seiner Tochter gegen ihre Klavierübungen hervorgerufen worden. Diesen Klavierstudien wollte er ein Ende machen; denn hätte seine Tochter musikalische Anlagen, so würden sie sich wohl in anderer Weise äußern. In diesem Augenblick wurde Herr Thornau von einem Wanderer gegrüßt, der denselben Weg mit ihm machte. Er hatte, in seine Gedanken vertieft, niemand bemerkt, nun erkannte er in dem Grüßenden seinen Tischnachbar vom Badehotel.
»Ah, Herr Delrik! Herr Eremit! Immer allein!« rief er sogleich dem Wandernden zu und ließ seinen Wagen anhalten. »Nun steigen Sie ein, das dürfen Sie mir nicht abschlagen, oder ich denke, meine Gesellschaft ist Ihnen nicht gut genug.«
Herr Delrik dankte für die Freundlichkeit, sagte aber, es sei die Zeit seines täglichen Spazierganges, den möchte er nicht unterbrechen, auch nicht um noch so guter Gesellschaft willen.
»Gut, so komm ich mit Ihnen«, sagte Herr Thornau und sprang vom Wagen, »ich habe Ihnen eine Mitteilung zu machen, wenn je eine, so muß Ihnen diese willkommen sein.«
Herr Delrik lächelte. Nun wanderten sie nebeneinander weiter.
»Lächeln Sie nur nicht so ungläubig«, fuhr Herr Thornau fort, »sondern sagen Sie mir jetzt, ob Sie noch die Absicht haben, der ganzen Gesellschaft, die Sie festhalten möchte, den Rücken zu kehren und eine Einsiedelei aufzusuchen, wo Sie sich allem menschlichen Verkehr entziehen könnten.«
»Ganz so schlimm steht es nicht«, sagte Herr Delrik lächelnd. »Das aber ist richtig: wenn ich ein Haus fände, wo ich bei einfachen, ordentlichen Leuten wohnen und in der Stille diese schöne Natur genießen könnte, so würde ich herzlich gern das Hotel verlassen und dahin ziehen.«
»Das Haus ist gefunden«, sagte Herr Thornau im Triumph, »das ist meine Mitteilung.«
Nun erzählte er von seinen heutigen Erlebnissen und seiner Bekanntschaft mit Frau Lesa und schilderte mit Begeisterung die Frau, bei der gewiß jedermann gern wohnen möchte, dann die ganze Umgebung, die große Stille um das Haus herum und weithin, die ungewöhnliche Ordnung und Sauberkeit in Haus und Garten, in Stall und Scheune bis in den Hühnerhof hinein. »Genug, Herr Delrik«, schloß er, »das ist Ihr Haus, da ist gar kein Zweifel. Zu meinem eigenen Nachteil mache ich Ihnen diese ganze Schilderung; denn wir werden Sie verlieren, sobald Sie mein Haus kennen; aber so ist es mit Ihnen, man muß tun, was Ihnen lieb ist. Sie tun es den Menschen an.«
»Mein lieber Herr Thornau«, sagte sein Begleiter, ihm auf die Schulter klopfend, »Sie sind ein menschenfreundlicher Mann, das treibt Sie, einem Einsiedler, wie ich bin, ein wenig beizustehen, daß er seinen Weg finde. Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Schilderung, die wirklich die Lust weckt, das Haus aufzusuchen.«
Die Herren waren jetzt bei einem Fußpfad angelangt, der den Weg zum Badeort zwar eher verlängerte als abkürzte, aber an besonderen Aussichtspunkten vorüberfuhrte. Herr Delrik schlug seinem Begleiter vor, hier seinen Wagen wieder zu besteigen, da er selbst gedachte, diesen Umweg einzuschlagen, was vielleicht Herrn Thornau nicht passen könne. So trennten sich die Herren bis auf späteres Wiederzusammentreffen.
Als am folgenden Tage Vinzenz Lesa eben aus seinem Hause trat, um seinen Geschäften nachzugehen, sah er einen Fremden herankommen, der sich wie suchend umschaute. Nun hatte er den Heraustretenden entdeckt und kam auf ihn zu.
»Sollte dieses Haus einem Herrn Lesa gehören?« fragte der Fremde mit höflichem Gruß.
»Jawohl, Herr«, war die Antwort.
»Habe ich vielleicht den Besitzer des Hauses selbst vor mir?« fragte der Fremde weiter.
»Jawohl, Herr.«
»Das trifft sich gut, Herr Lesa, so kann ich meine Angelegenheit Ihnen gleich selbst vortragen. Mein Name ist Delrik aus Dresden. Ich bin in den Bädern von Leuk abgestiegen; aber da sind für mein Bedürfnis zuviel Menschen beisammen; doch möchte ich gern in der Gegend bleiben. Ich suche ein stilles Haus, wo ich für einige Wochen verweilen könnte. Herr Thornau aus Hamburg hat mich auf das Ihrige aufmerksam gemacht, und nun ich es selbst sehe, ist mein Wunsch groß, bei Ihnen Wohnung zu nehmen, wenn Sie einverstanden wären.«
»Das Haus bewohne ich mit Frau und Kind, und Fremde nehme ich nicht in die Wohnung auf«, sagte Vinzenz Lesa kurz.
»Da haben Sie recht«, entgegnete freundlich Herr Delrik, »gerade so würde ich es auch machen, wäre ich an Ihrer Stelle.«
Ein wenig erstaunt schaute Lesa den Herrn an, dann sagte er: »So wären wir denn einig und unser Geschäft abgetan.«
»Ich fürchte, es wird so sein«, erwiderte Herr Delrik, »es wäre denn, Sie hätten noch die Freundlichkeit, mir ein anderes Haus zu nennen, wo ich anklopfen könnte, eines, das dem Ihrigen so ähnlich als möglich wäre, so still und herrlich gelegen, von solchen mächtigen Bäumen umgeben. Sie haben ein erlesen schönes Besitztum, Herr Lesa. Freilich, daß es anderswo alles auch noch so geordnet und gepflegt aussehen soll wie hier, das werde ich nicht auch noch verlangen können.«
Es gefiel dem Vinzenz Lesa, daß der Herr offene Augen dafür hatte, daß es auf seinem Hof anders aussah als auf manchem anderen. Freilich an der Ordnung und Pflege der kleinsten Dinge in Hof und Garten hatte seine Frau das Hauptverdienst. Nun fiel ihm ein, daß sie eben jetzt drinnen sitze und nachgrübeln werde, was nun mit ihrem Buben vorgehe. Es war die Zeit, da er beim Vetter auf dem Berg ankommen mußte. Den ganzen Tag hatte sie fast nichts geredet. Das war ihm nicht recht. Vielleicht würde es ihr die Lücke ein wenig ausfüllen, wenn sie den Herrn im Hause hätte und für ihn sorgen müßte. Sie hatte ja schon einmal den Gedanken gehabt, ein Zimmer für Fremde herzurichten, und der Herr hatte so etwas an sich, das ihm selbst den Eindruck machte, es möchte nicht unangenehm sein, dann und wann nach dem Feierabend ein Stündchen mit solchem Herrn zusammenzusitzen.
»Ein Haus, wie es der Herr meint, wüßte ich nun gerade keines«, sagte er nach längerer Überlegung; »aber da drinnen sitzt meine Frau, wenn der Herr hineingehen und mit ihr sprechen will. Wird sie mit dem Herrn einig, daß er in unserem Hause bleiben soll, so wird es mir dann auch recht sein. Jetzt wird der Herr mir erlauben, daß ich meinen Geschäften nachgehe.«
Damit hielt er Herrn Delrik seine Hand zum Abschied hin.
Erfreut und verwundert über die unerwartete Wendung, ergriff Herr Delrik die dargebotene Hand und hielt den Mann, der sich entfernen wollte, noch einen Augenblick fest mit der Frage: »Versteh ich Sie auch recht, Herr Lesa, meinen Sie es so: was Ihre Frau entscheidet, das werden Sie ohne Widerwillen annehmen?«
»Ja, ohne Widerwillen«, entgegnete der Mann fest, dann ging er.
Als Herr Delrik auf den Ruf von drinnen in die Stube eintrat, fand er nur das Kind vor, das, mit seinem dicken Strumpf beschäftigt, am Fenster saß. Er trat zu Stefeli heran und fragte, ob er die Mutter sprechen könnte, ob die Kleine sie rufen wollte.
»Oh, sie kommt schon bald wieder, sie ist nur schnell in die Kammer hineingelaufen, als es klopfte, weil sie ein wenig weinen mußte«, berichtete Stefeli.
»Oh, das tut mir leid, ist ihr denn etwas Trauriges begegnet, daß sie weinen muß?« fragte der Herr.
»Ja, es ist, weil Vinzi fort mußte und den ganzen Sommer fortbleiben muß, und die Mutter kennt die Leute nicht, wo er ist«, erzählte Stefeli weiter.
»Vinzi ist wohl dein Bruder?« fuhr der Herr mit Teilnahme zu fragen fort. »Warum mußte er denn fort?«
»Man weiß es nicht recht«, meinte Stefeli, »vielleicht weil er Klavierstunden von Alida bekommen hat.«
»So, das ist ein eigener Fall«, bemerkte Herr Delrik lächelnd. »Du bist wohl immer mit deinem Bruder zusammengewesen, und nun bist du allein, da wird er dir recht fehlen?«
»Ja, freilich, und der Mutter auch, und auf der Weide fehlt er auch. Wir waren den ganzen Tag auf der Weide. Nun hat der Vater einen Hütebuben angestellt, und die Mutter hat gesagt: jetzt lasse sie mich nicht mehr auf die Weide mitgehen, und der Vater hat beim Mittagessen gesagt: die Kühe wollen gar nicht fressen und laufen wie verloren herum, und das Schwärzeli wolle über alle Hecken, und wenn der Hütebub ihm nachlaufe, stürze es noch viel wilder und ganz erschreckt davon. Ja, das glaub ich wohl, wenn man einander so gut gekannt hat wie wir, und so lange, und dann kommt auf einmal ein fremder Bub und will es regieren. Es kennt ja seine Stimme nicht und meint gewiß, es sei gar nicht mehr recht daheim, das arme Schwärzeli!«
Als Stefeli so weit mit der Schilderung der Zustände drinnen und draußen gekommen war, öffnete sich die Tür, und die Mutter trat ein. Herr Delrik ging ihr sogleich entgegen und sagte ihr, er komme mit Erlaubnis ihres Mannes, den er eben gesprochen habe, ihr eine Frage vorzulegen. Es sei ihm aber nicht recht, sie jetzt mit seiner Sache zu belästigen, da sie, wie er von ihrem Töchterchen gehört, eben einen Kummer durchzumachen habe.
»Es ist ja manchmal gut, wenn man sich zusammennehmen muß und keine Zeit hat, seinem Leid nachzuhängen«, sagte Frau Stefane jetzt ganz ruhig.
»Und noch besser ist's, man nimmt sein Leid an, als sei es gar nicht als Leid gemeint, so wird es noch viel leichter zu tragen sein. Was meinen Sie dazu, Frau Lesa?« fragte Herr Delrik so vertraulich wie ein alter Freund.
Verwundert blickte ihn Frau Stefane an.
»Ich meine, ich verstehe, was mir der Herr sagen will; aber ich weiß nicht recht zu antworten«, erwiderte sie nach einigem Nachdenken.
»Das hat gar keine Eile«, sagte Herr Delrik freundlich, »wenn Si« nichts dawider haben, daß ich für einige Monate bei Ihnen einziehe, so werden wir noch manche Stunde finden, unser Gespräch fortzusetzen.«
Noch verwunderter schaute jetzt Frau Stefane auf den fremden Gast. Eine freudige Überraschung war aber bei seinen Worten sogleich über ihr Gesicht gegangen, wenn sie auch jetzt wieder verschwunden war. »Es kommt ja nicht auf mich allein an, Herr«, sagte sie in ihrer ruhigen Weise; »ich weiß aber, daß mein Mann keine Fremden im Haus haben will, so wäre die Sache schon entschieden.«
»Mit Herrn Lesa habe ich mich schon ganz verständigt«, sagte Herr Delrik, »er selbst hat mir gesagt, wie seine Frau die Sache entscheide, würde sie ihm recht sein.«
Frau Stefane wußte nicht, was sie denken sollte. Noch vor kurzer Zeit hatte ihr Mann ja bestimmt erklärt, er nehme keine Fremden ins Haus. Sie meinte, vor allem sollte der Herr sich die zwei Zimmer ansehen, die er bewohnen würde, er müßte doch wissen, ob sie ihm auch recht wären. Dann würde sie doch gerne noch mit ihrem Manne sprechen und dem Herrn dann den bestimmten Bescheid nach seinem Gasthof senden. So war es Herrn Delrik ganz recht. Er wolle Frau Lesa durchaus zu keinem Entschluß drängen, sagte er, und folgte ihr nun die Treppe hinauf, um nach den Zimmern zu sehen. Die hellen Stuben mit den glitzernden Fenstern, die einen gegen die Morgensonne schauend, die anderen von der Mittagssonne durchleuchtet, alle von den Zweigen der alten mächtigen Nußbäume umweht, gefielen Herrn Delrik über alle Erwartung wohl, so daß er am liebsten die Räume nicht mehr verlassen hätte, was Frau Stefane wohl bemerkte.
»Nun muß ich mich noch von ihrem Töchterchen verabschieden«, sagte er, der Tür zugehend, »wir haben gute Bekanntschaft geschlossen, und ich hoffe, sie fortzusetzen.«
Augenblicklich schoß Stefeli hinter der Mutter hervor, wo es in aller Stille verweilt hatte. Es hatte aus dem Gespräch sehr gut verstanden, um was es sich handelte, und war leise hinter der Mutter hergeschlichen. Es mußte wissen, ob dem Herrn die Zimmer gefallen und er da wohnen wolle, was es recht erhoffte; so war doch wieder jemand da, dem es alles erzählen konnte. Er hatte ja ganz aufmerksam zugehört, als es ihm erzählte, wie es jetzt auf der Weide zugehe.
Herr Delrik schüttelte Stefeli die Hand und sagte, es müsse ihn unbedingt einmal auf die Weide führen. Frau Stefane versprach, ihm sobald als möglich die bestimmte Antwort zu senden, nach der er sehr verlangte, wie er ihr zum Abschied nochmals wiederholte.
Als Vinzenz Lesa am Abend nach Hause kam, war das erste, daß er seine Frau fragte: »Nun, was hast du mit dem Herrn ausgemacht?«
Sie erzählte, was vorgegangen war, daß sie aber doch keine bestimmte Antwort habe geben können, ohne von ihm noch recht zu wissen, wie er über die Sache denke.
»Aber das glaub ich, Vinzenz«, schloß sie ihre Mitteilungen, »wenn dieser Herr bei uns einzieht, so zieht ein Segen unter unserem Dache ein.«
»Das wäre recht, den kann man immer brauchen«, entgegnete der Mann, »du mußt ihm bald zusagen, damit er einziehen kann.«
Frau Stefane folgte der Aufforderung mit Freuden. Wenige Tage darauf zog Herr Delrik bei Vinzenz Lesa als Hausbewohner ein.