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Auf der Weide

In den Sommermonaten war der Schulunterricht aufgehoben. Da gab es so vielerlei in Feld und Wiesen zu tun, wobei die Kinder mithelfen konnten, daß erst im Spätherbst die Pflichten der Schule wieder aufgenommen werden konnten.

Am Montagmorgen in aller Frühe, als die Sonne erst die Spitzen der Berge gerötet hatte, aber noch nicht über die waldige Höhe emporgestiegen war, stürzte Stefeli schon sauber gewaschen und angezogen in Vinzis Kammer und fand ihn noch in tiefem Schlafe liegend.

»Vinzi, schnell, wach auf«, schrie es ihn an, »der Knecht hat schon die Kühe zur Tränke geführt, und der Vater hat gesagt, sobald wir mit dem Morgenessen fertig sind, müssen wir dem Knecht nach auf die Weide hinaus, daß er zur Arbeit zurückkommen kann. Dann müssen wir den ganzen Tag die Kühe hüten, und auch zum Mittagessen dürfen wir nicht fort, weil es von der oberen Weide zu weit ist; wir essen dann draußen, das ist dann recht lustig; mach nur schnell!«

Vinzi war unterdessen erwacht und schaute nun mit seinen großen, dunkeln Augen wie halb im Traum nach seiner Schwester hin.

»Oh, es hat mir etwas so Schönes geträumt«, sagte er jetzt, »ich bin mit der Mutter in Sitten gewesen, weißt du, einmal war ich im letzten Jahr mit ihr dort. Wir waren dann in einer Kirche. Jetzt träumte mir ganz so, wie es damals war. Da oben war eine Orgel, die klang, man kann gar nicht sagen, wie schön. Weißt du, wie eine Orgel ist?«

»Mach doch schnell, Vinzi, und komm, wir können jetzt nicht von einer Orgel reden«, sagte Stefeli drängend, »der Vater sitzt schon am Tisch, und die Mutter hat den Kaffee hineingetragen, und wenn der Vater bös wird, daß wir nicht kommen, so ist es nicht mehr lustig; mach doch schnell!« Jetzt lief Stefeli davon.

Vinzi hatte die Wahrheit von Stefelis Worten erkannt und war aus dem Bett gesprungen. Rasch folgte nun eins aufs andere, was sein mußte, und in wirklich kurzer Zeit trat er zum Ausgang fertig in die Stube. Hier hatte er auch schon seinen bereitstehenden Milchkaffee hinuntergeschluckt und sein Brot in die Tasche gesteckt, bevor noch eins von den drei anderen sein Frühstück nur halb beendet hatte. Der Vater schaute auf den Buben, als dächte er bei sich: »Er kann doch noch recht flink sein, wenn er bei der Sache ist, vielleicht kommt er doch noch zurecht.« Die Mutter hatte das Mittagessen für die Kinder schön in einen kleinen Korb gepackt und hing diesen jetzt dem Vinzi um die Schultern, und Stefeli hüpfte heran, den kleinen Strohhut auf dem Kopf und das Rütlein in der Hand, das ihm der Vinzi schon zurechtgeschnitten hatte, das es aber nicht zum Schlagen der werdenden Kühe, nur zu ihrer Ermunterung gebrauchte. Nun ging's hinaus; Vater und Mutter gingen auch noch mit. Draußen in der Scheune mußte Vinzi noch seine Geißel (Peitsche) holen, eine solche hatten alle Hüterbuben, bloß um damit von Zeit zu Zeit furchtbar zu knallen, daß es von allen Bergen zurückdonnerte. Vinzi hatte keine Freude an dem Knallen, so war ihm die Geißel gleichgültig, und er wußte nie recht, wo er sie hingestellt hatte. Er ging auch jetzt unbestimmt von einer Ecke zur anderen, und schon runzelte der Vater stark die Stirne, da schoß Stefeli herbei, die Geißel in der Hand. Es hatte wohl gesehen, wo Vinzi sie das letzte Mal hingestellt hatte.

Jetzt zogen die beiden aus. »Paß auf, Vinzi, daß keine von den Kühen über den Bach kommt«, rief der Vater noch nach.

»Und gebt auch acht, daß ihr nicht selbst dem Bach zu nahe kommt, wo er reißend ist«, rief die Mutter nach.

»Ja, ja«, tönten fröhlich die Stimmen der beiden zurück, und nun ging es rasch vorwärts der Weide zu. Sobald sie da angekommen waren, erhob Stefeli ein großes Schreien und Rufen. Es hatte nicht vergessen, daß der Knecht alsbald an die Arbeit zurück mußte, sobald sie zum Hüten der Kühe da waren. Er hörte lange nichts; denn er war drüben am Bach, und der rauschte laut. Aber Stefeli gab nicht nach, bis er die schreienden Rufe hörte, und dann auch gleich verstand, was sie bedeuteten und davonlief.

»Nun müssen wir aufpassen, daß die Kühe auch schön auf der eigenen Wiese bleiben und das Schwärzeli nicht immer Sprünge macht; denn es muß auch fressen, sonst wird es mager«, sagte Stefeli. »Komm, Vinzi, wir wollen uns dort unter den Baum setzen, der Sack muß auch im Schatten liegen, sonst wird das Brot ganz dürr.«

Vinzi, der sich schon gelagert hatte, stand auf und folgte Stefeli zum Baum hinüber und sah zu, wie es sorgsam das Säckchen im Schatten der breitesten Äste verbarg. Nun setzte es sich auf den Boden, der, von Sonne und Wind schön getrocknet, jetzt im kühlen Schatten der breiten Baumäste lag. Vinzi hatte sich auch hingesetzt.

Jetzt rauschte der frische Morgenwind durch die Zweige und über die Weide hin weiter und weiter, bis er in tiefen Tönen in der Ferne verhallte. Wieder kam das Rauschen durch die Zweige, und Stefeli war eben aufgesprungen; wie ein abgeschossener Pfeil stürzte es davon. Vor ihm her mit aufgehobenem Schwanze rannte das glänzend schwarze Rind in hohen Sprüngen dem Bache zu. »Schwärzeli, Schwärzeli«, rief das Kind ein Mal ums andere, »Schwärzeli, warte doch!« Aber das übermütige Tierlein machte immer höhere Sprünge, jetzt war es dem Bach schon ganz nahe. »Wenn es hineinspränge, es könnte ja ertrinken«, dachte Stefeli mit Schrecken, dort war gerade die Stelle, vor der die Mutter gewarnt hatte. »Schwärzeli«, rief das Kind jetzt so laut und gebieterisch in seiner Aufregung, daß es weithin hallte und das Echo zurückrief: »Schwärzeli, Schwärzeli!«

Plötzlich stand der Flüchtling still und schaute sich um. Atemlos kam Stefeli dahergerannt. Das Tierlein stand jetzt ganz still und wartete ruhig die Ankunft seiner Herrin ab.

»Du böses Schwärzeli du, mich so zu erschrecken!« rief Stefeli aus, nun es mit seiner Hand fest den Strick erfaßt hatte, an dem die kleine Schelle an Schwärzelis Hals befestigt war. »Wart nur, wenn du so ungezogen sein willst, bring ich dir auch kein Salz mehr, das du so gern leckst, als ob es Zucker wäre.« Das Schwärzeli rieb jetzt seinen Kopf zärtlich an Stefelis Schulter, als wollte es sagen: »Es war nicht so bös gemeint, es war eben so lustig, so über die ganze Weide hin zu rennen, ohne abzusetzen.«

»Ja, ja«, sagte Stefeli antwortend, als habe es ganz gut verstanden, was das Schwärzeli ausdrücken wollte, »du willst nur gern, daß ich jetzt wieder gut mit dir bin. Das will ich; aber du mußt nicht wieder gegen den Bach rennen, du kannst ja auch auf die obere Seite laufen. Aber gelt, es geht eben da bergab, das ist lustiger als bergauf zu rennen, ich weiß schon. Komm jetzt.«

Nun zogen die beiden miteinander friedlich wieder dem Platze zu, der für diesmal zum Abweiden bestimmt war. Auf dem halben Weg dahin kam ihnen der Vinzi entgegen. Ganz verwundert fragte er: »Warum bist du denn auf einmal fortgegangen, Stefeli, es war ja so schön unter dem Baum. Ich habe etwas so Schönes gehört, zwei- oder dreimal, und als ich dir sagen wollte: ›Hörst du's auch?‹, da warst du auf einmal nicht mehr da. Dann erst habe ich dich gesehen von da unten mit dem Schwärzeli heraufkommen.«

Stefeli war doch sehr erstaunt, daß er von allem, was vorgegangen war, nichts gemerkt hatte, obschon es ja wußte, wie es dem Vinzi oft erging. Es erzählte ihm nun von seiner Jagd und seinem Schrecken; denn es mußte ja denken, da das Schwärzeli so unvernünftig dem Bach zu galoppierte, es müßte gleich über den Rand stürzen und dann ertrinken. Aber dann sei es auf einmal brav geworden. Nun wollte Stefeli auch noch wissen, was Vinzi unterdessen gehört hatte.

»Oh, es ist so schade, daß du's nicht gehört hast!« sagte er, »man kann es nicht beschreiben. Es klang wie ein großer Chor von tiefen, starken Stimmen und brauste aus dem Baum heraus und über die Weide hin, und dann kamen klare, hohe Stimmen mit hinein, und so klang es weithin in die Ferne und verklang immer leiser, weißt du, wie ein großes Wasser, das weit weg sich verliert. Es war so schön! Komm, wir wollen uns wieder dorthin setzen, Stefeli, vielleicht können wir's noch hören.«

»So geh, Schwärzeli, und tu nun recht«, sagte Stefeli und ließ den Strick los, den es bis jetzt festgehalten hatte. Nun folgte es dem Vinzi.

Kaum aber hatte es sich neben ihm niedergelassen, so sprang es wieder auf und Vinzi mit ihm. Diesmal hatten sie zu gleicher Zeit entdeckt, daß die Braune bis zu der Hecke gewandert war, die die Grenze gegen eine fremde Weide bildete, und dort an den Latten herumstieß, um hinüberzukommen. Nun liefen sie beide; die Braune mußte zurückgeholt werden. Das war bald geschehen, die Braune wanderte ganz bedächtig wieder dem erlaubten Boden zu. Stefeli hatte ein Plätzchen entdeckt, wo sich hinzusetzen besonders schön sein mußte; denn die kleinen roten Steinnelken nickten fröhlich ringsherum. »Komm, hier wollen wir bleiben, Vinzi, es klingt nun gewiß nicht mehr so wunderbar unter dem Baum.« Vinzi setzte sich hin, es war ihm auch recht. Eine friedliche Stille lag jetzt auf der ganzen Weide. In aller Ruhe zogen die Kühe grasend ihres Weges; Schwärzeli einmal voran, einmal hinterdrein, aber mit ordentlichem Gange, ohne hohe Sprünge, nur dann und wann sich ein wenig in Trab setzend, wenn die Stelle wieder gewechselt sein mußte.

Vergnügt schauten die Kinder in den sonnigen Morgen hinaus. Nach einer Weile des stillen Genusses sagte Stefeli: »Am liebsten wollte ich mein ganzes Leben lang ein Kuhhirt sein, du nicht auch, Vinzi?«

»Nein, das wollte ich nicht«, antwortete er.

»Warum denn nicht?« fragte Stefeli etwas vorwurfsvoll. »Es ist doch nirgends schöner als hier, das mußt du doch selbst sagen.«

»Ja, das ist schon wahr«, gab Vinzi zu; »aber der Beruf wäre dann, immerfort auf die Kühe achtzugeben, daß nichts geschieht und keine fortläuft, ich wollte lieber einen anderen Beruf.«

»Welchen wolltest du denn am liebsten?« wollte Stefeli wissen.

Vinzi sann ein wenig nach, dann sagte er: »Ich weiß nicht, welcher Beruf das wäre, in dem ich tun könnte, was mir am besten gefällt.«

»Was tust du denn am allerliebsten? Das habe ich noch gar nicht gesehen«, sagte Stefeli verwundert, daß es davon noch nichts wußte.

»Am liebsten mag ich zuhören, wie die Glocken klingen und wie es in den Zweigen der Bäume tönt und von den Bergen herunter und allenthalben. Hörst du, hörst du, wie es leise um uns singt, hörst du's?« Vinzis Augen wurden immer größer und glänzender, wie er hinhorchte.

Stefeli spitzte die Ohren. »Das sind ja nur die Mücken, die summen«, sagte es jetzt etwas geringschätzig.

Vinzi fuhr fort: »Und wenn es dann so schön klingt, dann möchte ich es ganz fest im Sinn behalten, und dann möchte ich es auch wieder heraussingen oder anders nachmachen, ich denke mir dann immer aus, wie ich es machen könnte.«

»Das gibt ja gar keinen Beruf«, unterbrach ihn Stefeli.

»Ja, ich glaub es auch«, sagte Vinzi ziemlich verzagt; »aber ich muß doch immer daran denken. Ich habe auch viele Pfeifen geschnitten und habe versucht, was ich darauf nachmachen könnte. Fünf hatte ich schon beisammen. Aus der einen konnte ich ganz tiefe Töne blasen und aus der anderen ganz hohe, und die übrigen klangen dann so mitten durch, und da habe ich alles ausgedacht, wie es nun anzustellen wäre, daß ich zwei oder drei zusammen blasen könnte, daß es zusammenklang, weißt du, wie die Glocken.«

»Du kannst gewiß ein Pfeifer werden«, fiel Stefeli rasch ein, sehr erfreut über die Eingebung, »das wäre doch ein guter Beruf, nicht?«

»Ich weiß nicht«, entgegnete Vinzi ein wenig unsicher; »aber wenn ich es auch könnte, so ließe mich der Vater doch nicht. Er hat in der Scheune die Pfeifen gefunden und hat sie alle fortgeworfen und hat gesagt, ich solle lieber an etwas Nützlicheres denken und nicht solche Haufen von Pfeifen sammeln und solchem Zeug nachsinnen, das sei gar nichts.« Vinzi sah sehr niedergeschlagen aus, wie er so berichtete. Das konnte Stefeli nicht aushalten.

»Du mußt darum nicht so traurig sein, Vinzi«, sagte es in tröstendem Ton, »der Vater meinte gewiß nur, daheim im Stall und in der Scheune müßtest du solche Pfeifen nicht haben und denen nachsinnen; aber hier auf der Weide darfst du sie wohl haben. Ich will dich dann schon rufen, wenn es etwas mit den Kühen gibt. So kannst du gut neue Pfeifen schneiden, die legen wir dann in ein Loch unter den Baum und nehmen sie nur immer heraus, wenn wir hier sind. Und dann helf ich dir auch beim Blasen, weißt du, ich blase dann die hohe Pfeife und du die tiefe, daß sie dann so zusammenklingen wie die Glocken.«

Vinzi schien den Trost noch nicht zu erfassen; er schaute traurig vor sich hin auf den Boden und sagte nichts mehr.

.

»Nun wollen wir von etwas anderem reden«, sagte die Schwester jetzt entschlossen; denn der Eindruck, den das Gespräch auf Vinzi zurückgelassen hatte, war nicht nach ihrem Geschmack. Doch bevor noch eine neue Unterhaltung angebahnt war, sprang Stefeli vom Boden auf, und »Vinzi, Vinzi!« schreiend, stürzte es davon. Vinzi schaute empor; jetzt rannte auch er aus allen Kräften derselben Stelle zu. Am Ende der Weide führte ein hölzerner Steg über den Bach. Eben hatte eine Gesellschaft– von Fremden sich genaht, um ihn zu überschreiten. Mit wütendem Gebell hatte ein kleiner Hund sich von den Wandernden losgemacht und sich auf die Weide mitten unter die Kühe gestürzt, die er, immer ärger kläffend, nach allen Seiten hin verfolgte. Die geängsteten Tiere flohen in ihrem Schrecken eins dahin, das andere dorthin. Das Schwärzeli galoppierte mit seinem hocherhobenen Schwanz kreuz und quer, was den Kläffer zu immer wütenderen Angriffen reizte. Stefeli lief den Kühen nach, um sie zu beruhigen; Vinzi aber stürzte sogleich dem Hund entgegen und hieb mit seiner Peitsche so wirksam auf ihn los, daß er plötzlich kehrt machte und mit Geheul der verschwindenden Gesellschaft nachrannte. Das war ein so erhitzendes Stück Arbeit gewesen, daß beide Kinder, nun die beruhigten Kühe in Frieden weiter grasten, ohne Abrede dem großen Baum zuliefen und sich hier in dem wohltuenden Schatten auf den Boden warfen. Erst mußten sie beide wieder recht zu Atem kommen und die große Erhitzung durch das kühlende Fächeln der Zweige verwehen lassen.

Jetzt richtete Vinzi sich ein wenig auf und sagte: »Mich reut nur, daß ich den Hund erst nach der anderen Seite verfolgen mußte, als er schon nahe am Fußweg war, wo dieser der Weide entlang geht. Dort hat eine feuerrote Blume so prächtig geleuchtet, und so groß sah sie von weitem aus, wie ich noch keine gesehen habe. Wenn es nicht so weit unten wäre, ich liefe gleich noch einmal hin, sie zu holen, aber jetzt wird's heiß.«

»Die will ich schon finden«, sagte Stefeli entschlossen, »wenn sie so prächtig ist, dann ist es mir nicht zu weit.«

Nun wollte Vinzi sich doch noch anbieten, die Blume zu holen, wenn Stefeli sie doch so gerne sehen wollte; aber es war unterdessen schon so weit weggerannt, daß er kaum noch nachgekommen wäre. So blieb er sitzen und, nun die Mittagsglocke vom Dorf herauf erklang, vergaß er auch alles andere darüber und lauschte dem Klang.

»Da hast du die Blume«, ertönte es plötzlich neben ihm, und Stefeli legte ein hochrotes Tuch vor den Bruder hin. Er war so in seine Gedanken vertieft gewesen, daß er gar nicht gemerkt hatte, wieviel Zeit vergangen war, und sich nun sehr über Stefelis schnelle Rückkehr verwundern mußte. Die vermeintliche Blume schaute er nachdenklich an. Ja, es war dasselbe Rot, das seine Blume hatte, es mußte sie wohl sein. Aber noch etwas beschäftigte ihn: dieses Tuch hatte er schon einmal gesehen, wo war das denn? »Oh, nun weiß ich's!« rief er plötzlich aus, »an dem Sessel, auf dem das fremde Kind saß, beim Haus der Frau Troll hing das Tuch, dem Kinde muß es gehören.«

Nun erinnerte sich auch Stefeli daran, dort etwas Rotes gesehen zu haben, und dazu fiel ihm ein, daß es in der Gesellschaft der Herren, die über den Steg gegangen, auch Kinder gesehen hatte; so waren es wohl die beiden von gestern. Nun fing Vinzi an zu beratschlagen, was mit dem Tuch zu tun sei. Er meinte, was man gefunden habe, müsse man sogleich zurückerstatten. Am besten sei darum, er laufe gleich nach dem Hause der Frau Troll und bringe den Fund hin. Davon wollte aber Stefeli nichts wissen. Es behauptete, nun sei die Zeit des Mittagessens da für jedermann, nachher sei es dann noch lange bis zum Abend, und vor allem müsse nun das Mittagsmahl zubereitet werden. Wie nun diese notwendige Tätigkeit dem Vinzi so bestimmt vor die Augen trat, empfand er plötzlich einen großen Hunger, der ihm bewies, daß Stefeli recht hatte. So ging er denn gleich ans Werk, sammelte rasch alle dünnen Reiser unter dem Baum und ringsumher zusammen, schichtete sie ordentlich aufeinander und zündete sie an. Die Flamme schlug gleich hoch empor, so trocken war das Holz. Stefeli hatte unterdessen den Grasboden zu einer ganz appetitlichen Tafel umgewandelt: da lagen ausgebreitet zwei große Brotschnitten, schön mit gelber Butter bestrichen, zwei schneeweiße Eier, die hatte die Mutter daheim gekocht, so daß man sie nur zu schälen brauchte. Nun brachte Stefeli den Sack nahe zum Feuer heran, um den rechten Augenblick abzuwarten. Als dann das Holz niedergebrannt war und nur noch kleine Flämmchen aufzuckten, holte Stefeli die sauber gewaschenen runden Kartoffeln aus dem Sack hervor und legte eine nach der anderen auf die glühenden Kohlen. Bald schmorten und dampften die dann so einladend, daß die Kinder erwartungsvoll sich hinsetzten und dem erwünschten Augenblick entgegensahen. Nun war er gekommen. Aus der verglühenden Asche wurden die Kartoffeln mit den Weidenrütchen herausgeholt, und, sobald die größte Hitze ein wenig nachgelassen hatte, wurde hineingebissen, weiter und weiter, und die festgebackene Kruste war das Beste daran. Aber was noch übrigblieb, war auch nicht zu verachten. Vinzi biß mit seinen weißen Zähnen tüchtig in sein Butterbrot ein, und Stefeli ließ sich das frische Eilein recht wohl schmecken. Die Kühe hatten bis jetzt so fleißig fortgeweidet, daß sie ein wenig ausruhen mußten. Eine nach der anderen legte sich an einer schönen, sonnigen Stelle auf den Boden nieder, sogar das Schwärzeli hatte sich geruhlich niedergelassen, doch fuhr der kleine schwarze Kopf von Zeit zu Zeit so lebhaft in die Höhe und von einer Seite auf die andere, daß der Ruhe noch nicht völlig zu trauen war.

Die Kinder hatten ihren Platz unter dem Baum wieder schön gesäubert; denn Papier und Eierschalen gehörten nicht dahin, das war ja ihre Wohnstube, und die durfte nur einen schönen, sauberen Grasboden haben. Nun saßen sie still und vergnüglich die Weide überblickend, die jetzt so friedlich aussah.

»Nun könnte ich am besten das gefundene Tuch zurückbringen«, sagte Vinzi nach einer Weile; »sie bleiben jetzt gewiß alle ruhig liegen, bis ich wiederkomme, meinst du nicht auch?«

»Das kannst du gut tun«, erwiderte Stefeli, »die Großen bleiben schon liegen, und wenn das Schwärzeli Sprünge machen und gegen den Bach rennen will, so kann ich es locken. Ich habe ihm alles Salz zurückbehalten, das uns die Mutter zu den Eiern gegeben hat. Du hast ja keins verlangt, und ich wollte auch keins, und das Schwärzeli leckt es furchtbar gern.«

Vinzi ergriff nun das rote Tuch, das Stefeli schön zusammengefaltet hatte, und lief davon. Eine gute Viertelstunde brauchte er trotz seines Rennens, bis er vor dem Hause der Frau Troll stand. Die Haustür stand offen. Drinnen war alles still. Im Garten hörte er jetzt hacken. Er dachte wohl, dort würde Frau Troll zu finden sein; aber er hörte noch etwas, das zog ihn so mächtig an, daß er den Tönen nachging. Er stieg die Treppe hinauf; jetzt hörte er ganz nah und deutlich eine lustige Melodie erklingen. Dort kam sie heraus, wo wohl die Türe nicht ganz geschlossen war. Er trat ganz nahe heran und drückte sein Ohr an die Tür, um recht zu hören. Da diese aber wirklich nicht fest geschlossen war, sprang sie plötzlich auf; denn Vinzi hatte in seiner Begierde zu hören, den Kopf sehr stark darauf gedrückt. Augenblicklich kehrte die kleine Musikantin, die da drinnen auf einem hohen Stühlchen am tönenden Instrumente saß, sich um, und wie sie nun den Vinzi erblickte, der ganz erschrocken dastand, sprang sie vom Stuhl herunter und kam rasch auf ihn zu. »Oh, hast du mein Tuch gefunden und bringst mir's schon zurück?« rief sie befriedigt aus, als sie das rote Tuch in Vinzis Hand erblickte, »das ist so gut für mich. Fräulein Landrat hat mich schon so ausgezankt und hat gesagt, zur Strafe, daß ich nicht aufgepaßt hätte, müßte ich den ganzen Weg noch einmal machen, den ich heute mit meinem Papa und den anderen Herren gemacht habe, und mein Tuch suchen, und es ist so weit, und sie wollte nicht mitkommen, und jetzt brauche ich das nicht zu tun. Nun will ich dir auch einen Finderlohn geben, was möchtest du am liebsten haben?«

Vinzi stand immer noch vor der Tür und schaute noch ganz überrascht das wunderbare Kind an, das solche Musik hervorbringen konnte und nun so freundlich zu ihm sprach, als hätten sie sich schon lange gekannt. Er zögerte mit seiner Antwort; endlich sagte er ein wenig zaghaft: »Kann ich wünschen, was ich will?«

»Ja, das kannst du«, entgegnete die neue Bekannte sehr bestimmt. »Aber weißt du«, fuhr sie gleich fort, »nur etwas, was ich dir geben kann, nicht etwa ein Schiff oder ein lebendiges Pferd.«

»Nein, nein, das meine ich nicht«, sagte Vinzi abwehrend, »ich wollte nur gern noch einmal die Musik hören.«

»Die Musik? Meinst du das, was ich gespielt habe, wie du kamst? Das ist eigentlich kein Geschenk. Wie heißest du denn?« unterbrach die Sprechende plötzlich ihren Gedankengang.

Vinzi nannte seinen Namen.

»So, und ich heiße Alida Thornau«, fuhr sie fort, »ich habe üben müssen, und weil das schrecklich langweilig ist, so spiele ich dann zwischendurch eins von den kleinen Stücken. Mußt du auch üben?«

»Was ist üben?« fragte Vinzi.

»Oh, weißt du das nicht? Dann hast du's gut!« rief Alida aus. »Siehst du, üben ist ganz still sitzen auf einem runden Stuhl und immerfort mit den Händen auf einem Klavier erst hinaufspielen und dann wieder hinunter, das ist die Tonleiter, und dann nachher dreißigmal die gleichen Töne vorwärts und dann rückwärts spielen, das ist die Fingerübung.«

»Warum mußt du üben?« fragte Vinzi erstaunt über diese Tätigkeit.

»Weil man folgen muß«, antwortete Alida, »und Fräulein Landrat befiehlt mir alle Tage von zwei bis drei Uhr zu üben, darum muß ich es tun. Hier habe ich keine Stunden wie daheim in Hamburg. Aber jedesmal, wenn der Papa herunterkommt, dann muß ich wieder versprechen, daß ich Fräulein Landrat folgen will. Weißt du, mein Papa ist mit der Mama da oben in den Bädern, weil sie krank ist.«

»Aber wie hast du denn gelernt, das schöne Stück zu spielen?« fragte Vinzi, der mit großer Spannung den Mitteilungen folgte.

»Das kann man dann bald, wenn man soviel üben muß und die Noten kennt, dann braucht man nur die Noten zu spielen, die da stehen«, sagte Alida erklärend.

»Oh, dann hast du's ja gut, daß du soviel üben darfst.« Vinzi schaute bei diesen Worten so verlangend nach dem Klavier hin, daß Alida plötzlich der gewünschte Finderlohn wieder einfiel.

»So will ich dir nun das Stück spielen«, sagte sie, »mach nur die Türe zu, und komm hierher, so kannst du's recht hören.«

Vinzi gehorchte und stellte sich erwartungsvoll hinter das Klavierstühlchen.

Mit einem Eifer wie kaum je zuvor begann jetzt Alida ihr Frühlingslied zu spielen und fuhr ohne Stocken und Wiederholen bis zum Ende fort, was noch nie geschehen war. Daß jemand ihr so gespannt zuhörte, spornte sie zu einer ungewöhnlichen Leistung an.

Vinzi starrte auf die spielenden Finger wie auf ein Wunder. Im Spiegel, der über dem Klavier hing, konnte Alida sehen, mit welcher regungslosen Spannung er ihrem Spiel folgte. Das gefiel ihr, und als sie mit ihrem Spiel zu Ende war, fing sie gleich noch einmal von vorn an. Aber mitten drin mußte ihr ein neuer Gedanke aufgestiegen sein. Sie hielt plötzlich inne, drehte sich auf ihrem Stuhl herum und fragte: »Wolltest du etwa auch gern Klavier spielen lernen?«

Vinzis Augen flammten hell auf; aber nur einen Augenblick, im nächsten schaute er auf den Boden und sagte traurig: »Das kann ich ja nie.«

»Doch, das kannst du ganz gut«, erwiderte Alida mit Überzeugung, »ich kann es dich lehren, du kannst bald, was ich kann, und dann kannst du mit mir üben; das ist dann viel lustiger, als wenn ich so allein sitzen und üben muß. Und dann kannst du auch die kleinen Stücke spielen, wie dieses ist, das dir so gut gefällt, das währt gar nicht lange, willst du?«

Vor Staunen und Verlangen waren Vinzis Augen immer größer geworden. Dieses unbegreifliche Glück, selbst solche Musik machen zu können, lag plötzlich vor ihm. Er brauchte nur ja zu sagen, und alles ging so leicht, ganz von selbst. Er konnte es nicht fassen. Er sollte nur ja sagen, und das unerhörte Glück war in seinen Händen, es konnte ja nicht sein.

Vinzi brachte vor innerer Spannung keinen Ton über seine Lippen.

»Sag doch bald ›ja‹, du wirst doch wollen, wenn es dir so gut gefällt«, sagte Alida ein wenig ungeduldig. »Dann kommst du jeden Tag um zwei Uhr, wie heute, zu mir. Dann ist Fräulein Landrat mit Hugo auf dem Spaziergang, und ich muß üben bis um drei Uhr oder noch länger manchmal, bis sie zurückkommen. So sind wir immer ganz allein, und ich lehre dich alles, und dann spielen wir miteinander, oder einmal du und einmal ich.«

Wie Vinzi die Sache so klar geordnet vor sich sah, kam es ihm auf einmal vor, sie könnte wirklich möglich sein, und mit ganz erregier Stimme sagte er: »Ich möchte ja gar nichts lieber tun, wenn es nur sein könnte.«

»Nun ist alles ganz bestimmt ausgemacht«, sagte Alida befriedigt, »morgen kommst du, oder willst du etwa heute schon anfangen?«

So gern Vinzi auch gewollt hätte, das durfte er doch nicht tun; er war ja schon so lange fortgeblieben und hatte Stefeli allein gelassen. Aber morgen zu kommen, das wollte er ja so gern versprechen, wenn es nur sein könnte, so ganz konnte er sein Glück immer noch nicht glauben. Aber Alida war ihrer Sache so sicher, daß das Gefühl auch ein wenig auf ihn überging und er nun in ungewohnter Erregung davonrannte. Was wohl Stefeli zu seinem Vorhaben sagen würde? Das war nun sein Hauptgedanke, wie er dahinlief. Vielleicht mochte es nicht alle Tage so lange allein sein, vielleicht dachte es auch, der Vater würde böse sein, wenn er es wüßte; vielleicht könnte es doch nicht sein.

Jetzt war er auf der Weide angelangt. Alles war in bester Ordnung. Ruhig lagen die Kühe auf denselben Stellen wie vorher, das Schwärzeli wanderte hin und her, aber ohne Aufregung; dort unter dem Baum saß Stefeli und sang ein Lied. Er lief hin.

»Du bist aber lange geblieben«, sagte Stefeli, das sein Singen eingestellt hatte, »was hat sie gesagt?«

Vinzi setzte sich neben Stefeli auf den Boden und fing an zu erzählen, was sich alles zugetragen und welch ein Glück Alida ihm in Aussicht gestellt hatte, daß er lernen sollte, so schöne Musik zu machen, wie sie es selbst konnte, wenn er nur jeden Tag eine Stunde zum Üben komme. Er habe aber nicht bestimmt zugesagt; er müsse ja erst wissen, was Stefeli dazu sage, weil es dann täglich eine Stunde allein sein müßte.

Stefeli besann sich keinen Augenblick. »Das kannst du ganz gut tun, Vinzi«, sagte es lebhaft, »das macht dir dann gewiß eine so große Freude, wie sonst nichts, das weiß ich ganz genau.«

»O ja, ich auch, das weiß ich wohl«, sagte Vinzi mit leuchtenden Augen. »Und gelt, um die Zeit muß man nicht fürchten, daß es mit den Kühen etwas gibt, sie sind ja jetzt noch ganz ruhig?«

»Da gibt es nichts«, versicherte Stefeli; »solange du fort warst, haben sie gar nichts getan, als still gelegen und in die Luft hinaus geguckt, und das Schwärzeli ist spazieren gegangen, und so ist es alle Tage am Nachmittag.«

Vinzi wußte das eigentlich wohl; aber er war doch froh, daß Stefeli ihm die Sache noch so recht sicher vor die Augen brachte. Nun hatten die Kinder noch manches zu besprechen; denn in der Aussicht auf das bevorstehende große Ereignis fiel ihnen noch so vieles ein, das dann daraus hervorgehen könnte, daß sie mit ihrem Gespräch gar nicht zu Ende kamen. Sie konnten auch ganz ungestört sitzen bleiben; denn nun weideten die Kühe längst wieder in aller Ordnung und Ruhe, wie es sein mußte. Jetzt ertönte da und dort der Ruf eines Hornes, überall derselbe Ton. Es war für die jungen Hirten ringsherum das Zeichen, daß die Zeit zum Melken gekommen und das Vieh heimzutreiben sei.

Vinzi schoß in großer Überraschung vom Boden auf; so schnell war es noch gar nie Abend geworden, meinte er. Stefeli nahm den Sack auf den Arm und das Hütchen zur Hand und holte das spazierende Schwärzeli zur Stelle. Vinzi rief und pfiff seine Kühe zusammen, und nun wanderten die Kinder wohlgemut hinter ihrer kleinen Herde dem Stalle zu, wo der Vater stand und sie erwartete. An dem Tage, da die Kinder Vieh zu hüten hatten, war ihr Tagewerk zu Ende, wenn sie von der Weide heimkamen. Sobald der Vater aus dem Stalle kam, wurde das Abendessen eingenommen, und bald nachher, wenn die Mutter ihre Küchengeschäfte beendigt hatte, setzte sie sich zu den Kindern hin, um ihr Lied mit ihnen zu singen; dann hatten sie ihre Betten aufzusuchen. Das taten sie denn auch ganz gern; denn am Morgen ging es ja in aller Frühe wieder hinaus.

 


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