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Der Morgen war unter dem immer wieder nötigen Rennen und Rufen und Zurückholen der weidenden Tiere, die am Morgen immer recht munter waren, viel schneller dahingegangen, als Vinzi erwartet hatte; denn schon beim Erwachen hatte er gedacht: wenn es doch nur schon zwei Uhr wäre und nicht erst ein so langer Morgen überlebt werden müßte.
Nun war auch das Mittagessen vorüber, und die Kühe hatten sich zur Nachmittagsruhe hingelegt. Vinzi schaute wieder und wieder nach den Bergen hinüber: »Jetzt muß es zwei Uhr sein«, sagte er plötzlich, vom Boden aufspringend. »Gestern stand die Sonne dort über dem Felsenhorn, als ich zurückkam. Ich habe gleich danach geschaut, weil Alida gesagt hatte, um zwei Uhr müsse ich heute kommen, und bei ihr hatte es gerade drei geschlagen, als ich fortlief, und nun hat die Sonne gewiß noch eine Stunde, bis sie über dem Korn steht.«
»Ja, lauf nur gleich, so kommst du bald wieder und erzählst mir dann alles«, ermunterte ihn Stefeli.
Sofort rannte Vinzi davon. Als er im Hause der Frau Troll die Treppe hinaufstieg, kam ihm Alida entgegengelaufen: »Du kommst ganz recht!« rief sie ihm zu, »sie sind fort, und wir sind ganz allein, so mußt du immer kommen.«
Als Vinzi in die Stube eintrat, schaute er schnell nach der Uhr. »Nun weiß ich genau, wo die Sonne stehen muß«, sagte er befriedigt; »es ist zehn Minuten nach zwei Uhr.«
»Jetzt wollen wir gleich anfangen«, schlug Alida vor. »Ich sage dir, wie die Noten heißen und dann wie hier die Tasten heißen, auf denen man spielen muß, und dann kannst du anfangen.«
Sie nahm nun ein kleines Notenblatt zur Hand und begann zu lehren. Der Unterricht mußte ein wenig rasch vor sich gehen, Alida liebte nicht, lange bei derselben Sache zu verweilen. Aber Vinzi war so gespannt aufmerksam und begriff auch so schnell, daß seine Lehrerin recht nach Wunsch vorwärtskam.
»So, jetzt will ich dir auch die Tasten zeigen; die Noten kannst du dann immer besser kennen lernen beim Spielen«, sagte sie, nun ihr das längere Notenlesen doch gar zu langweilig vorkam.
So ging es nun an das Kennenlernen der Tasten, und um die Sache lebendiger zu gestalten, schlug Alida jedesmal den Ton an, der benannt werden mußte.
Vinzi war ganz in Staunen versunken.
»Wie kann man Noten machen?« fragte er plötzlich.
»Die sind schon gemacht und stehen im Buch, da kann man sie lesen und spielen«, erwiderte Alida.
»Aber vielleicht hat sie doch zuerst einer gemacht, und jetzt können die anderen sie spielen, meinst du nicht?« fragte Vinzi bescheiden. »Meinst du nicht, daß man Noten machen könnte aus allen Tönen, die man hört und so in sich hat, wenn man nur wüßte wie? Und dann könnte man die Weisen auf dem Klavier spielen.«
»Das ist ja gar nicht nötig, es gibt gewiß schon genug Noten«, sagte Alida mit einem Seufzer, indem sie einen Blick auf das große Buch warf, in dem die vielen Übungsstücke standen, die sie eines nach dem anderen erlernen sollte.
Auch Vinzi schaute auf das offene Notenbuch. Seine Augen folgten den schwarzen Punkten mit einer Begierde, als schauten sie in lauter Wunder hinein.
»Jetzt spiel ich dir noch das kleine Stück, das dir gefällt«, fuhr Alida fort, »dann kannst du's auch bald lernen, es ist gar nicht schwer.«
Sie spielte nun wieder, und Vinzi lauschte wieder in höchster Spannung und mit so brennenden Augen, als wollte er jeden Ton auch noch mit diesen, nicht nur mit den Ohren aufnehmen.
Eben war Alida zu Ende gekommen, als die Schwarzwälder Uhr an der Wand drei schlug.
»Nun ist die Stunde aus, morgen kommst du wieder«, sagte Alida vom Stuhle springend.
Vinzi reichte ihr schnell die Hand und eilte fort. So ging es drei Tage lang ungestört weiter. Vinzi war ein so gelehriger Schüler, daß sich seine Lehrerin sehr über seine Fortschritte verwundern mußte. Wirklich hatte er das kleine Stück schon einmal ganz durchgespielt, ohne die Noten, die kannte er noch nicht so gut; aber er wußte alles auswendig. Nur spielte er das ganze Stück mit dem Zeigefinger, was ihm aber Alida ernstlich untersagte, da kein Mensch so spielen dürfe, sondern alle fünf Finger der Hand gebrauchen müsse. Vinzi meinte aber, er finde die Töne schneller mit dem Zeigefinger allein; doch sah er ein, daß an der linken Hand auch einer so mithüpfen mußte, um den Baß herzustellen.
Es kam dem Vinzi wohl zustatten, daß er in diesen Tagen seine ganze Zeit auf der Weide zubringen konnte und nicht, wie sonst öfters, dem Vater in Stall und Scheune allerlei zu helfen hatte; denn seine Gedanken waren jetzt so gänzlich von seinen Musikstudien erfüllt, daß er sie immer erst weit herholen mußte, wenn zu ihm geredet wurde, und darum immer einige Zeit brauchte, bis er die Worte zur Erwiderung gefaßt hatte. So kam es, daß der Vater bei den wenigen Anlässen, da er in diesen Tagen den Vinzi nötig hatte, ihn jedesmal mit Kopfschütteln entließ und ihn auch etwa einmal anfuhr: »Wo hast du den Kopf, Bub?«
Nun war die vierte Unterrichtsstunde in Aussicht. Eben rannte Vinzi dem Hause zu und war in seiner Freude, immer eine Stufe überspringend, schon halb die Treppe hinaufgerannt, als eine scharfe Stimme von unten ihm zurief: »He, was ist das, du frecher Bub, komm gleich herunter!«
»Ich will nur zur Alida hinauf«, sagte Vinzi ein wenig erschrocken.
»Was Alida! Du kennst keine Alida, und sie kennt dich nicht«, schrie sehr erbost Frau Troll hinauf; sie war es, die unten stand. »Gleich auf der Stelle kommst du herunter, oder ich hole dich, und anders, als du meinst.«
Vinzi kam gehorsam die Treppe herunter. Jetzt aber rief er mit aller Kraft hinauf: »Alida, ich darf nicht kommen, nur daß du weißt, daß ich da war.«
»Was rufst du?« fragte die Frau grimmig; »gelt, du wolltest mich gern überlisten, daß ich glauben sollte, du kenntest das Töchterchen droben, dessen Namen du aufgeschnappt hast? Da ist die Tür.«
Aber jetzt kam Alida heruntergerannt, sie hatte den Ruf vernommen.
»Warum schicken Sie den Vinzi fort, wenn er doch zu mir will?« fragte sie ein wenig herrisch.
»Ach so, so, das wäre also eine abgekartete Sache«, sagte Frau Troll, aber in einem ganz anderen Tone, als sie zu Vinzi gesprochen hatte. »Weiß es auch das Fräulein, daß er kommen sollte?«
»Nein, aber ich weiß es«, antwortete Alida trotzig.
»So wollen wir erst einmal alles dem Fräulein berichten, dann wird die Sache wohl in Ordnung kommen«, sagte Frau Troll ein wenig höhnisch; »das beste wird sein, er geht jetzt dahin, wohin er gehört.«
Das fand Vinzi auch; er gab Alida die Hand und ging traurig weg; denn er dachte: nun ist alles aus.
Aber nun stieg in Alida ein großer Zorn auf, daß die Frau ihren Freund so fortschicken durfte.
»Das will ich alles meinem Papa sagen«, rief sie heftig aus; »er wird dann auch sagen, ob man den Vinzi so behandeln darf.« Wie beflügelt von ihrem Zorn, stürzte sie die Treppe hinauf.
Sobald Frau Troll das Fräulein mit Hugo herankommen sah, ging sie schnell hinaus und stattete den beiden über den Vorfall gründlich Bericht ab, der sich in ihrer Abwesenheit zugetragen hatte. »Das ist sicher, daß der Bub heute nicht zum ersten Male dagewesen ist«, schloß sie sehr aufgeregt ihre Mitteilungen, »es war alles abgeredet, er schoß gradaus die Treppe hinauf, als wär er hier daheim, und das Töchterchen hatte oben auf ihn gewartet.«
Entsetzt stand das Fräulein da.
»Wie durfte sich Alida so etwas herausnehmen? Bekanntschaft schließen mit einem Kuhhirtenbuben von ganz unbekannter Herkunft«, rief sie jetzt in Entrüstung aus, »das habe ich den Eltern zu berichten.«
»Es ist vielleicht der Junge, der das Tuch gefunden hat«, meinte Hugo, der bis jetzt nachdenklich zugehört hatte, »wir haben ihn am Sonntag mit seiner Schwester gesehen, der sieht ganz nett aus, mit dem kann Alida schon ein wenig Freundschaft halten.«
Fräulein Landrat hatte keine Worte mehr für ihr Mißfallen; sie wandte sich und ging die Treppe hinauf; Hugo folgte.
»Wer war bei dir, als wir fort waren?« fragte das Fräulein, die Tür aufreißend.
»Vinzi«, antwortete Alida.
»Wenn Vinzi der Name des Buben ist, der da war, so will ich wissen, was er hier zu tun hatte«, fuhr das Fräulein in großer Aufregung fort.
»Er hat eine Klavierstunde genommen«, war die Antwort.
»Meinst du, daß ich mit dir spaße, Alida?« sagte Fräulein Landrat noch aufgeregter.
»Nein, das meine ich nicht«, erwiderte Alida.
»So antworte mir vernünftig!« rief das Fräulein aus. »Wie kamst du dazu, diesen Buben hierher zu rufen, was sollte er hier?«
»Er sollte eine Klavierstunde nehmen«, entgegnete Alida, als müßte es so sein.
»Aber sag doch, Alida, wer ihm hier die Klavierstunde geben sollte«, fiel Hugo ein.
»Die mußte ich ihm geben«, antwortete Alida ganz ernsthaft.
Hugo lachte auf.
»Hat er nicht lachen müssen, als du ihm eine Klavierstunde geben wolltest?« fragte er.
»Nein, er war sehr aufmerksam«, sagte Alida.
»Es ist genug!« rief das Fräulein zornig aus. »Du sollst auch nicht weiter fragen, Hugo. Alida soll nicht meinen, daß es mich belustige, wenn sie solches Zeug erfindet. Ich werde gleich an den Papa schreiben, aber vor allem –«, damit lief sie aus dem Zimmer.
Nun fing Hugo das Verhör noch einmal an und hörte nun zu seiner Belustigung, daß die Musikstunden schon mehrmals ganz im Ernst stattgefunden hatten und daß Vinzi schon sehr viel gelernt habe. Auch daß Alida ihrem Papa sagen wollte, wie die Frau Troll den Vinzi behandelt hatte, mußte ihr Bruder noch wissen.
Unterdessen hatte Fräulein Landrat Frau Troll aufgesucht und ihr aufgetragen, wenn dieser Vinzi sich je wieder dem Hause nahen sollte, ihn fortzuschicken mit dem ernstlichen Verbot, je wieder ihre Zimmer zu betreten.
Noch an demselben Abend kam Vater Lesa beim Hause der Frau Troll über den Weg gegangen, um querfeldein zu seinem Hause zu kommen. Sie stand in ihrem Garten und erblickte ihn.
»He, Nachbar Lesa«, rief sie ihm zu, »ich hätte Euch etwas zu sagen.«
Er kam heran.
»Ich meine«, fuhr sie fort, »es wäre Eurem Buben auch besser, wenn er etwas zu tun hätte und nicht Zeit fände, in anderer Leute Häuser zu laufen und unnötiges Zeug zu treiben.«
»Wie ist das gemeint, Nachbarin?« fragte Lesa und preßte jetzt seine Lippen aufeinander, als hätte er etwas Hartes zu zerbeißen.
»So ist es gemeint, daß der Bub schon manchen Nachmittag hier gewesen ist, um dem fremden Kinde droben Unterhaltung zu bringen mit Musikmachen und solchem Zeug«, berichtete Frau Troll. »Die Erzieherin will aber davon nichts mehr wissen, der Bub soll bleiben, wo er hingehört.«
»Er wird dort bleiben, lebt wohl!« sagte Lesa und ging seines Weges.
Es war gerade die Zeit des Abendessens, als er in sein Haus eintrat. Die Kinder saßen schon beim Tisch, wie die Mutter sie geheißen hatte, damit alles bereit sei, wenn der Vater komme. Sie brachte sogleich das Essen auf den Tisch und setzte sich auch hin. Der Vater sprach kein Wort. Die Mutter schaute dann und wann fragend zu ihm hinüber, versuchte auch, ihm einiges mitzuteilen, das er sonst gern wissen wollte; er schien aber kaum darauf zu achten. Sie fühlte, daß etwas nicht in Ordnung war und daß ihr Mann vielleicht gern allein sein wollte. Sobald darum die Kinder mit ihrem Abendbrot zu Ende waren, machte die Mutter, daß so schnell als möglich abgetan wurde, was noch sein sollte, damit die Kinder sich zurückziehen konnten. Sobald das geschehen und Vinzenz Lesa mit seiner Frau allein war, sagte er: »Setze dich nieder, ich habe mit dir zu reden.«
Sie tat, was er verlangte.
»Jetzt ist's genug mit dem Buben«, fuhr er grimmig fort, »nicht nur, daß er nichts tut und nichts versteht und daß nichts aus ihm wird, nun muß er uns auch noch Schimpf und Schande zuziehen, das ist mehr als genug. Nun ist's aus, er muß fort.«
Die Frau war vor Schrecken ganz bleich geworden.
»Ums Himmels willen, hat der Vinzi etwas angestellt?« fragte sie voller Angst, »er ist doch sonst nicht so, was hat er denn getan? Vinzenz, sag doch, hat er wirklich etwas Böses angestellt?«
»Frag ihn nur selber, was er alles gemacht hat; mir ist's gerade genug, daß mir die Nachbarin sagen darf, es wäre besser, wenn mein Bub etwas zu tun hätte, daß er nicht in anderer Leute Häuser laufen könnte, um Lumpereien zu treiben. So etwas muß ich mir sagen lassen! Ich habe es schon lange genug geduldet, jetzt ist's genug, nun muß er fort, fort muß er!«
Vinzenz Lesa war vor Aufregung vom Stuhl aufgestanden; er mußte einmal durch die Stube gehen, dann setzte er sich wieder.
»Ich kann gar nicht begreifen, was da vorgegangen ist«, sagte die Frau, nun er wieder neben ihr saß und sie nach dem ersten Schrecken ein wenig hatte nachdenken können, »Vinzi ist ja gar nicht so, daß er den Leuten ohne Auftrag in die Häuser geht; es muß da etwas dazwischenlaufen. Wir wollen doch erst mit dem Buben reden, daß er uns sagen kann, warum er das getan hat; man kann ihn doch nicht nur so verurteilen; er sagt uns sicher die Wahrheit. Aber denk doch nach, Vinzenz, was das wäre, einen zwölfjährigen Buben fortzuschicken, er ist ja viel zu jung.«
»Ich wehre dir ja nicht, mit ihm zu reden«, erwiderte der Mann; »aber das sag ich dir, fort muß er, das hab ich schon lange bei mir herumgetragen, und jetzt ist es reif. Es ist der einzige Weg, auf dem ihm noch geholfen werden kann. Er muß an einen Ort hin, wo es gar keine Gelegenheit gibt, solchen Unfug zu treiben, wo nur wenig Menschen sind, aber rechte, die ihre Freude an der Arbeit und an ihrem schönen Vieh von allen Arten haben und die für sich bleiben und nicht mit Fremden zusammensitzen, die kein Mensch kennt.«
»Aber das erste wäre doch, daß man die Leute kennen müßte«, fiel hier die Frau lebhaft ein, »du wirst doch nicht sagen wollen, daß du unseren Vinzi einem übergeben könntest, er sei wie er wolle, wenn er nur Freude an seiner Arbeit und an seinem Vieh hat.«
»Nur ruhig, nur ruhig, ich komme schon«, fuhr der Mann im gleichen Tone fort. »Du weißt, daß ich im vergangenen Herbst oben auf dem Berg war, auf dem Simplon, wo ein Vetter von mir wohnt, der Lorenz Lesa. Er hat ein Gut oben mit ein paar schönen Kühen; es ist nicht gar groß, aber alles in bester Ordnung. Mir hat's droben gefallen, und dort hinauf muß der Bub, da kann er vielleicht noch zurechtkommen, wenn er sieht, wie andere Buben geartet sind und so froh und zufrieden dabei.«
»Ist es denn nur möglich, daß du deinen Buben so weit wegschicken willst!« rief jetzt die Frau jammernd aus, »und auf den hohen Berg hinauf? Es muß ja furchtbar einsam dort oben sein. Ich kann mir gar nicht denken, wie es um ihn her aussehen wird. Den Vetter kenn ich nicht und seine Frau auch nicht. Wie werden die zwei einen Buben aufnehmen, den man ihnen so wie einen jungen Taugenichts zuschickt, mit dem man daheim nichts mehr anzufangen weiß. Es ist geradezu so, als sei unser Vinzi ein Verbrecher geworden, den man in die Verbannung schicken muß.«
»Du brauchst dich nicht so zu erhitzen, Frau«, begann der Mann wieder, »ich will ja diese Veränderung nicht als Strafe für ihn, sondern als ein Mittel, das den Buben noch zurechtbringen kann. Der Vetter Lorenz ist ein guter und billig denkender Mann; er wird den Buben nicht übel behandeln, und die Base Josepha ist eine überaus brave Frau, die drei Buben aufzieht, die einem Freude machen, sie nur anzusehen. Ich habe sie mitten in der Kuhherde gesehen, da war nichts als Jodeln und Peitschenknallen und eine Lustbarkeit, als hätten sie lauter Sonntage. Was meinst du, kann es da unserem Buben nicht auch noch kommen, daß er einsieht, wie gut er's auf der Welt hat, und daß ihm noch Freude und Gedanken für seine Arbeit aufgehen? Fort muß er, und Besseres könnte es gar nicht geben für ihn.«
Die Frau sagte nichts mehr, sie war nicht so überzeugt wie ihr Mann, daß ihr Vinzi mitten unter den anders gearteten Buben sich wohl befinden würde, sie wußte auch gar nicht, wie der Vetter und die Base den eigenartigen Vinzi ansehen würden, und noch viele andere ängstliche Fragen stiegen in ihr auf; aber sie wußte, sie konnte nichts mehr machen. Es war ja beschlossen, daß Vinzi fort mußte, und sie wußte keinen anderen Ort, wo sie ihn hätte hinbringen können. Sie fragte nur noch, ob das denn bald sein müsse, man werde doch erst von den Verwandten wissen müssen, ob sie den Buben auch übernehmen wollten. Da hörte sie dann von ihrem Manne, daß er schon im vergangenen Herbst bei seinem Besuch beim Vetter sein Wohlgefallen an dessen Buben geäußert und dabei ausgesprochen hatte, wenn doch der seinige auch so wäre und so fröhlich jodelte, anstatt still und verstört umherzustaunen, wie er es mache. Da hatte der Vetter ihm selbst gesagt, er sollte nur den Buben einen Sommer lang zu ihm hinausschicken, bei seinen und all den anderen Hirtenbuben würde er bald aufwachen und ihre Fröhlichkeit teilen. Er würde auch selbst noch dazu helfen; denn frohmütige Buben seien ihm auch lieber als verstockte.
So hatten sie dann miteinander ausgemacht, wenn es einmal so kommen sollte, daß er es für seinen Vinzi für nötig fände, daß er fortkomme, so solle er den Buben dem Vetter zuschicken. Dieser würde dagegen einen anderen Sommer einen von seinen dreien nach Leuk hinunterschicken, etwas Neues in der Arbeit und in den Gewächsen des Landes zu sehen, tue jedem gut. Er glaube, schloß Lesa, daß dieser Tage einer von dort unten aus dem Dorf mit Vieh über den Berg fahre, dem könne man dann den Vinzi gleich mitgeben.
Die Mutter ging heute mit einem schweren Herzen zu Bett. Da sollte nun ihr Vinzi zu fremden Leuten in eine Umgebung fortgeschickt werden, die sie gar nicht kannte, und so weit weg, daß sie nicht daran denken konnte, auch nur ein einziges Mal nach ihm zu sehen. Und warum mußte das geschehen? Eine neue Sorge befiel sie: Vinzi mußte etwas getan haben, das die Unzufriedenheit des Vaters zum Überlaufen gebracht hatte. Sie schlief kaum in dieser Nacht. Sobald es am anderen Morgen hell geworden war, ging sie leise nach Vinzis Kammer, noch bevor jemand anders im Haus erwacht war. Sie wollte eine ruhige Stunde mit dem Buben haben, um ihn anzuhören und dann vorzubereiten auf das, was ihm bevorstand; denn sie sah voraus, daß es bald kommen würde. Vinzi schlug seine großen Augen auf und schaute erstaunt die Mutter an, die auf seinem Bette saß und seine Hand in der ihrigen festhielt.
»Sag mir, Vinzi«, sagte sie gleich, »da wir so still allein zusammen sind, womit hast du den Vater gestern erzürnt? Hast du etwas angestellt? Sag mir alles.«
Vinzi mußte sich ein wenig besinnen, dann fiel ihm ein, wie zornig die Nachbarin ihn fortgeschickt hatte; vielleicht hatte der Vater etwas davon vernommen. Er erzählte nun den ganzen Hergang mit dem Musikunterricht und wie die Nachbarin darüber böse geworden sei, wennschon Alida den Unterricht fortsetzen wollte.
Jetzt fiel eine große Last vom Herzen der Mutter. Etwas Böses hatte doch ihr Vinzi nicht verübt. Sie begriff aber wohl, daß die Worte der Nachbarin den Vater so gereizt hatten, da Vinzi ihm schon seit langer Zeit heimlich viel Sorge und Verdruß machte. Sie mußte nun aber dem Buben auch vorstellen, wie unrecht er getan hatte, ihr nichts von der Sache zu sagen, ob es ihm denn auch gar nicht in den Sinn gekommen sei, daß er so etwas nicht beginnen durfte, ohne daheim etwas davon zu berichten, fragte sie. Da sagte Vinzi aufrichtig, er habe gedacht, vielleicht würde der Vater es nicht erlauben, und er habe so große Lust gehabt, so etwas zu erlernen, und Stefeli und er hätten gedacht, es sei eine so gute Zeit, von der Weide wegzugehen, und wenn mit den Kühen nichts geschehe, so sage der Vater ja nichts. Aber die Mutter sagte ihm, daß sein Schweigen nicht recht gewesen sei und daß es nun noch eine Folge habe, die sie in der Hoffnung auf sich nehmen wollten, sie bringe etwas Gutes mit sich. Nun sagte sie ihm, was der Vater mit ihm im Sinne habe, und daß er hoffe, Vinzi werde droben auf dem Berge mit den Buben des Vetters zu einer rechten Freude an allem kommen, was sie da zu tun hätten, und was die drei Buben so fröhlich stimme. Da komme ihm dann wohl auch die Lust mitzumachen, und er kehre frisch und froh wieder zurück, so daß der Vater nachher seine Freude an ihm haben könne. So schonend die Mutter den Beschluß vorgebracht hatte, so hörte doch Vinzi von allem nur den Befehl, daß er fortmüsse, und sah sehr erschrocken aus. Er sagte aber kein Wort, und die Mutter war froh, daß er nicht klagte; schon der Schrecken auf seinem Gesicht hatte ihr die Tränen in die Augen getrieben.
Nachher ging alles seinen Gang wie sonst. Die Kinder gingen nach der Weide hinaus; da machten die Kühe wieder ihre Sprünge und hatten wieder ihre Ruhezeit. Stefeli war es gewohnt, daß Vinzi oft eine lange Weile schweigend hinlauschen konnte, wenn es schon nicht wußte worauf; aber heute wurde es ihm zuviel.
»Sag doch einmal etwas, Vinzi, es ist gerade, wie wenn du nicht da wärst«, warf es jetzt dem Bruder ein wenig ärgerlich zu.
»Ja, es wird auch nicht mehr lange dauern, so kann ich nie mehr mit dir auf der Weide sein, und du bist dann auch allein, daran muß ich jetzt immer denken«, sagte Vinzi niedergeschlagen und erzählte dann Stefeli, daß er fort müsse, auf einen Berg, den er nie gesehen habe, und zu Leuten, die er gar nicht kenne.
Das kam Stefeli unglaublich vor; alles ging doch seinen gewöhnlichen Gang, wie sollte denn plötzlich etwas so Unerhörtes geschehen?
»Wann müßtest du denn gehen?« fragte es doch etwas beklemmt dem Unbegreiflichen gegenüber.
Das wußte Vinzi nicht; die Mutter hatte davon nichts gesagt.
»Oh, das ist gut«, rief es schon wieder ganz erleichtert aus, »dann kann es noch lange währen, und dann kommt es vielleicht gar nicht mehr. So kannst du ganz gut wieder fröhlich sein.«
Stefeli erkannte immer bald die tröstliche Seite der Dinge und hatte so schon oft den Vinzi wieder froh gestimmt, wenn er um eines vergangenen oder eines erwarteten Übels willen trübselig dreinschaute. Auch heute konnte er sich ein wenig an Stefelis Trost halten, und der sonnige Nachmittag ging zu Stefelis Befriedigung viel fröhlicher zu Ende, als er begonnen hatte.
Am Abend, als die Kinder sich zurückgezogen hatten und die Eltern wieder allein zusammensaßen, teilte Lesa seiner Frau mit, daß er heute unten im Dorf gewesen sei, um mit seinem Bekannten zu sprechen. Der sei nun freilich heute schon mit seinem Vieh über den Berg gefahren; das sei aber nun kein Verlust, im Gegenteil. Bei dem Anlaß habe er in Erfahrung gebracht, daß ein junger Arbeiter von Gondo am Montag in sein Dorf zurückkehre, und da er den Weg von Brieg aus zu Fuß mache, werde er unterwegs übernachten, was ja für den Vinzi auch gut sei, so müsse er keinen zu langen Marsch machen. Über Nacht würden sie in Berisal bleiben, was auch gut passe; denn dort kenne er einen Wirt, bei dem die beiden gutes Unterkommen finden würden.
Bis jetzt hatte die Frau schweigend zugehört. Jetzt sagte sie abwehrend: »Du wirst doch nicht unseren Buben einem übergeben, von dem man nichts weiß, als daß er über den Berg geht.«
»Ich habe ihn gleich aufgesucht, um alles mit ihm abzureden«, entgegnete der Mann; »er ist ganz recht, und wo ich mich nach ihm erkundigt habe, hat man mir gesagt, er sei ein braver Mensch. Es ist ja nur, daß der Vinzi einen Begleiter hat, sonst weiß er sich ja schon zu helfen, mit zwölf Jahren ist einer doch kein kleines Kind mehr.«
»Jung genug, um allein fortzugehen«, meinte die Mutter mit einem Seufzer. »Muß es denn am Montag schon sein? Morgen haben wir ja schon Sonntag.«
»Es ist gerade das Rechte so«, sagte der Mann bestimmt, »wenn ein Ding sein muß, so kann man es nie zu früh in Angriff nehmen. So schlimm ist es auch nicht; im Winter ist er wieder da, nach Australien geht er nicht.«
»Es ist gut, daß wir noch einen Vater im Himmel haben, dem wir ein Kind übergeben können, das wir so ziehen lassen müssen, ohne zu wissen, in was für Hände es kommen kann, das ist mein Trost«, sagte Frau Stefane.
»Das ist auch wahr«, erwiderte der Mann, befriedigt, daß seine Frau einen Trost wußte, der ihr etwas galt. »So, nun wäre denn alles in Ordnung«, sagte er nach einer Weile, indem er sein Pfeifchen von einem Mundwinkel in den anderen schob, als habe er noch etwas zurechtzubringen, das doch noch nicht ganz in Ordnung war, »nun wird man noch mit dem Buben reden müssen, daß er weiß, was sein muß.«
»Was sein muß, weiß er, heute früh habe ich es ihm gesagt, du mußt ihm nur noch sagen, wann es sein muß«, sagte die Frau.
Das war dem Manne sehr willkommen. Also wußte Vinzi heute schon den ganzen Tag, was ihm bevorstand, und war doch ganz ruhig geblieben, so war denn kein Jammern und Weinen zu befürchten. Davor hatte der Vater Lesa wirklich eine geheime Scheu gehabt.
Am folgenden Tage, als die Nachmittagssonne freundlich auf die Bank am Hause schien, setzte sich Lesa, wie er am Sonntag zu tun pflegte, dahin und rief den Vinzi herbei.
»Du weißt, daß du zum Vetter auf den Berg kommst«, begann er, als nun der Junge neben ihm saß, »da ist es schön, du wirst bald gern da sein. Es ist zu deinem Besten, daß man dich dahin schickt, du wirst dich ja recht halten und deinen Eltern keine Schande machen wollen. Dein Begleiter kennt das Haus, wo du hin mußt. Du wirst erwartet, wenn auch nicht gerade auf den Tag. Du sagst, wer du bist, und daß ich dich schicke, wie mit dem Vetter verabredet war. Morgen früh reist ihr, ein Begleiter mit dir, der den Weg und alles weiß, wie ihr euren Marsch machen sollt.«
Vinzi blieb ganz still, was dem Vater am liebsten war. Um den Buben noch ein wenig zu ermuntern, führte er ihm noch recht das glückliche Leben und Treiben der jungen Vettern inmitten ihrer Schar lustiger Bergkühe vor Augen.
Unterdessen packte die Mutter drinnen das Ränzlein, das Vinzi auf den Rücken nehmen sollte.
Stefeli hatte von der Mutter gehört, was morgen sein mußte; aber es merkte, daß sie nicht weiter reden wollte, und stellte seine Fragen ein. Draußen, wo der Vater zu Vinzi redete, war auch kein geeigneter Boden, Fragen zu tun. So lief Stefeli ein wenig verloren hinter der Mutter her, die Zeit abwartend, da sie wieder reden würde.
Das Ränzlein war gepackt, dann war das Abendessen gefolgt. Es war dabei ganz stille zugegangen, die Mutter sagte fast gar nichts; es war, als könne sie die Worte fast nicht herausbringen.
Sie wollte dem Buben nicht zeigen, wie schwer es ihr zumute war, um ihm den Abschied nicht auch schwer zu machen. Ein paar Worte mußte sie ihm aber doch noch sagen. Sie ging ihm in seine Kammer nach. Es war dunkel, er lag schon in seinem Bett. Sie setzte sich noch einmal darauf.
»Ich bin froh, daß du noch kommst, Mutter«, sagte er gleich, »es ist mir ein wenig angst. Glaubst du, daß der Vetter sehr bös wird, wenn ich etwa die Kühe vergesse? Stefeli hat mich eben immer gerufen, wenn sie Unfug treiben wollten und ich nicht aufpaßte.«
»Ich weiß das gar nicht, ich kenne weder den Vetter noch die Base«, erwiderte die Mutter; »aber gerade wollte ich dir noch sagen, tu doch, was du kannst, Vinzi, daß du es ihnen recht machst, daß es keine Klagen gibt und daß sie dich nicht etwa heimschicken, das könnte der Vater nicht gut ertragen. Tu nur nie etwas, bei dem du nicht fröhlich zu deinem Vater im Himmel aufschauen darfst; dann darfst du auch zu ihm aufschauen, wenn es dir angst ist und du niemand hast, es ihm zu sagen; er ist immer über dir und sieht auf dich und hört dich. Das ist der beste Trost, Vinzi, vergiß das nicht.«
Vinzi versprach der Mutter, er wolle nicht vergessen, was sie ihm gesagt hatte. Nun verließ sie ihn.
In der ersten Frühe des anderen Morgens begleitete der Vater den Vinzi zur Station hinunter, wo sie den Begleiter zu treffen hofften. Für die Talstrecke bis Brieg sollten die beiden die Eisenbahn benutzen, dann sollte die Wanderung auf der Bergstraße angetreten werden.