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Stefeli war besser über den Sommer gekommen, als es nach Vinzis Abreise ausgesehen hatte. Herr Delrik trat seine längeren Spaziergänge niemals an, ohne in die Stube hineinzufragen: »Kommt Stefeli mit?«
Das war der Mutter immer eine erwünschte Gelegenheit, das Kind hinauszuschicken; denn mit Vinzis Fortgehen hatte das Weideleben aufgehört, und Stefeli mußte viel daheim sitzen, was ihm manchen Seufzer auspreßte. So war es denn immer hocherfreut, wenn die Frage unter der Türe ertönte, der lange Strickstrumpf weggelegt und ins Grüne hinausgehüpft werden durfte. Dann hatte Stefeli dem Begleiter fortwährend zu erzählen von allem, was es je und je erlebt, und was Vinzi erlebt und was sich zu allen Zeiten auf der Weide ereignet hatte. Wie Vinzi Klavierstunden genommen und was sie nach sich gezogen hatten, und was der Vater und die Mutter und Vinzi gern wollten und nicht gern wollten.
So kam es, daß Herr Delrik mit allem, was sich in der Familie Lesa zugetragen hatte und weiter zutrug, genau bekannt wurde. Das Wesen der drei Bewohner des Hauses lernte er auch auf andere Weise näher kennen.
Seinen Feierabend brachte Vinzenz Lesa am liebsten auf der Bank am Hause sitzend zu, wo der nahe Nußbaum den würzigen Geruch seiner Blätter ihm zuwehte. Dann rauchte er sein Pfeifchen und sah es gern, wenn Herr Delrik sich nahte und sich zu einem Gespräch bei ihm niederließ. Vinzenz Lesa besprach sich gern mit ihm über vieles, das in der Welt vorging, das ihm nicht recht klar war; denn Herr Delrik verstand es, ihm alles recht deutlich zu machen, so wie er es wünschte. Dann wußte er auch, daß Herr Delrik einen lebhaften Anteil an allem nahm, was sich bei ihm in Feld und Wald und in seiner ganzen Landwirtschaft zutrug. Da gab es denn wieder viel zu besprechen, und war dann hier auch Lesa derjenige, der erzählte und erklärte, so gaben ihm doch Herrn Delriks Bemerkungen manchmal ganz neue Gedanken zu allerlei Änderungen und Verbesserungen des gewohnten Ganges der Arbeit.
Mit Frau Stefane hatte Herr Delrik wieder eine andere Unterhaltung, eigentlich immer dieselbe; denn wenn die beiden auch einmal von etwas anderem zu sprechen begannen, so kamen sie immer wieder auf denselben Gegenstand zurück. Dieser Gegenstand war Vinzi. Frau Stefane hatte Herrn Delrik mitgeteilt, wie Vinzis Sinnen und Denken und seine ganze Freude von klein an auf die Musik gerichtet gewesen sei und wie der Vater alles daransetze, den Buben dahin zu bringen, daß er seine Freude und Befriedigung in dem finde, was des Vaters Stolz und Freude und auch des Sohnes künftiger Beruf sei, die Bearbeitung seines Gutes. Wie dieser Zwiespalt sie mit tiefer Sorge erfülle, da sie keinen Ausweg vor sich sähe, sondern immer daran denken müsse, sie gingen alle einem großen Leid entgegen.
Herr Delrik hatte nach dieser Mitteilung eine warme Teilnahme für Vinzis Geschick und die Sorge der Mutter. Er sagte ihr zum Trost, daß es doch so oft vorkomme, daß junge Bürschchen, wie Vinzi noch sei, solche Liebhabereien an den Tag legten, die sich später wieder verlören, besonders wenn eine so freundliche Zukunft vor ihnen liege, wie es bei Vinzi der Fall sei. Doch verstand er auch wieder gut, daß die Mutter nie recht beruhigt war und daß die sorgenden Gedanken immer wieder in ihr aufstiegen, und leitete darum gern das Gespräch von neuem auf diesen Gegenstand. Er fühlte ja wohl, wie es der Mutter Herz erleichterte, sich darüber auszusprechen und ein teilnehmendes Wort zu hören.
So war Herr Delrik der besondere Freund und Vertraute von jedem Glied des Hauses geworden, und Stefeli, gerade so wie der Vater und die Mutter, sagte bei jeder Frage, auf die man nicht gleich eine Antwort wußte: »Man muß gewiß Herrn Delrik fragen, er weiß es schon«; und wo man etwas zu befürchten hatte: »Man muß es nur Herrn Delrik sagen, er weiß schon einen Rat.«
Als nun die guten Berichte vom Berg herunterkamen, wie beliebt Vinzi bei den Alten wie bei den Jungen, wie fröhlich er geworden sei, so daß er alle anderen noch viel fröhlicher mache, als sie sonst gewesen seien, da nahm auch Herr Delrik einen so regen Anteil daran, als wäre er wirklich ein Glied der Familie, der die Freudenbotschaften zukamen. Während die Mutter ziemlich still blieb, erfüllte ihn wie den erfreuten Vater die Hoffnung, nun sei dem Jungen die Freude an all dem aufgegangen, das mit seinem künftigen Beruf zusammenhing, und er selbst würde nun die Familie, mit der er so vertraut geworden war, vor seiner Abreise noch in ungetrübtem Glück versammelt sehen.
So kam der Tag heran, da Vater Lesa unerwartet seiner Frau im Beisein von Herrn Delrik die Nachricht brachte, soeben habe er einen alten Bekannten getroffen, der mit seinem Fuhrwerk nach dem Berg fahre. Das sei nun eine so schöne Gelegenheit für Vinzi, heimzukehren, daß er gleich den Bekannten beauftragt habe, ihm seinen Buben mit heimzubringen, was dieser versprochen habe. So werde Vinzi in fünf Tagen daheim anlangen.
Der Mutter klopfte das Herz vor Freude. Stefeli konnte vor aufgeregter Erwartung gar nicht mehr stillsitzen; es schoß ganz zwecklos dahin und dorthin und meinte, fünf Tage seien gewiß kaum zu erwarten. Immerfort mußte es rechnen. Wenn ein Tag vierundzwanzig Stunden lang währt, so wären fünf Tage fünfmal soviel – oh, das machte eine furchtbare Menge von Stunden! Aber nun hatte es ja die Schlafstunden mit eingerechnet, die merkte man ja nie. Nun mußte das Rechnen von vorne anfangen. Wunderbarerweise war der fünfte Tag doch noch unerwartet schnell herangekommen.
Stefeli war eben von einem Streifzug mit Herrn Delrik zurückgekehrt, als der Vater vom Felde heimkam und zur Mutter sagte: »Jetzt kann Vinzi jeden Augenblick ankommen. Nun gehen wir zum Abendessen, so kann er sich gleich zu uns setzen.«
Herr Delrik wurde gerufen, man setzte sich zu Tisch. Stefeli konnte vor Erwartung kaum schlucken. Der Mutter ging es nicht besser.
»Er kommt!« schrie das Kind plötzlich und stürzte zur Tür hinaus.
Keines von den anderen hatte etwas gehört. Aber wirklich, wenige Augenblicke nachher trat Stefeli mit triumphierenden Blicken, den Vinzi an der Hand, wieder in die Stube ein. Die Freude der Eltern über des Sohnes Heimkehr war keine laute; aber man konnte sie ihnen wohl ansehen. Mit rechtem Stolz schaute auch Vinzenz Lesa auf seinen Buben, als er ihn jetzt Herrn Delrik zuführte.
Dieser faßte den Jungen recht in die Augen. Wie lange schon hatte er sich in sorgenden Gedanken mit ihm beschäftigt. Dann sagte sich Herr Delrik im stillen: wenn die Mutter ihr Herz an diesen Sohn gehängt hat und der Vater seinen ganzen Stolz auf ihn setzt, so ist das zu begreifen, der sieht gut aus.
Nun setzte man sich zusammen hin, und Vinzi mußte Nachricht vom Vetter und der Base und den jungen Vettern geben. Dabei wurde er immer lebhafter und konnte gar nicht genug sagen, wie gut sie alle gegen ihn gewesen seien.
Der Vater wollte wissen, wie ihm der Weideplatz droben gefallen habe, und Vinzi schilderte in wonniger Erinnerung die Bergweide, wo die Alpenveilchen dufteten und die hohen Lärchenbäume ihre breiten Zweige über die moosbedeckten Steine hin und her wiegten und da und dort zwischen den Bäumen durch die Kühe so ruhig grasten, daß ihr Glockengeläute weithin wie ein Friedenslied ertönte.
Die Mutter fragte, ob es droben auch schöne Blumen gebe. Da wurde Vinzi noch lebhafter, er erzählte von dem roten Blumenfeld, und wie im Sonnenschein die Rosen darauf schimmern, daß von unten herauf alles wie ein glühender Berg anzusehen sei. Auch seine Schlafstätte schilderte Vinzi noch, wie lieb ihm sein eigenes Häuschen war, und welch ein Duft jede Nacht über sein Lager und durch den ganzen Heuschober wehte.
Der Vater und die Mutter sahen etwas verwundert auf ihren Buben. Nie hatten sie ihn so lebhaft und so bestimmt sprechen gehört. Beide hatten ganz denselben Eindruck. Beide sagten sich: »Unser Vinzi ist nicht mehr derselbe, der uns verließ.« Der Vater setzte bei sich hinzu: »Er ist gereift dort oben, das ist gut; jetzt weiß er, was er will.« Und die Mutter dachte: »Es ist wie ein neues Leben in ihm aufgegangen, wie wird's nun kommen?«
Am Morgen nach dem vergnüglichen Abend des Wiedersehens war Stefeli schon in aller Frühe auf den Füßen; denn die Freude, daß Vinzi wieder da war, hatte es nicht mehr schlafen lassen. Es wollte ein wenig an seiner Tür klopfen, damit er sich nicht gar zu lang verschlafe; denn nun mußte doch alles wieder ins alte Geleise kommen und sie beide wohl gleich heute wieder auf die Weide ziehen, daß alles ganz so komme wie immer, wonach es ein großes Verlangen hatte.
Eben als es den Finger zum Klopfen anlegte, machte Vinzi seine Tür auf und trat fix und fertig heraus.
Stefeli fuhr erschrocken zurück.
»Du bist aber furchtbar früh aufgestanden«, rief es aus, »das hast du sonst nicht getan, ich wollte dir klopfen.«
»Ja, siehst du, jetzt kann ich's auch«, sagte Vinzi lachend über den Schrecken. »Auf dem Berg war ich jeden Tag so früh auf, und wenn man am Morgen gleich etwas vor Augen hat, das man fast nicht erwarten kann, so ist der Schlaf sofort weg, und man springt mit der größten Freude aus dem Bett. Jetzt bin ich's noch gewohnt.«
»Was hast du denn dort oben vor Augen gehabt, das dich so gefreut hat?« sprach Stefeli verwundert.
»Komm, ich erzähl dir's«, sagte Vinzi, die Treppe hinuntersteigend.
Unter der offenen Haustür stand der Vater, nach dem Wetter ausschauend; er war eben erst aus seiner Kammer getreten. Er kehrte sich um.
»Was, ihr schon?« sagte er verwundert, »das ist ein gutes Zeichen. Du hast da droben etwas Gutes gelernt, Vinzi, du warst sonst nicht unter den ersten am Morgen. Komm, bis die Mutter zum Kaffee ruft, machen wir ein paar Schritte dort unter den Nußbäumen, die stehen schön, und das Gras umher auch. Bei uns ist's auch nicht übel, das siehst du doch auch, vielleicht jetzt besser als vorher. Daheim ist's auch schön, nicht?«
»O ja«, sagte Vinzi recht von Herzen, indem er zu den reichbelaubten Nußbäumen aufschaute, unter denen er immer so gern gesessen und gelegen hatte.
»Dort oben hast du's nun doch eingesehen, wie schön unser Bauernleben ist, und hast gelernt, dich daran zu freuen. Und hier bei uns ist's nicht weniger schön, und ein Gut wie das unsrige bebauen und sein eigen nennen, ist vom Schönsten. Besseres kann sich keiner wünschen, das wirst du jetzt auch sagen, nicht?«
»Ich könnte schon noch etwas Schöneres wünschen«, sagte Vinzi zögernd, dann schwieg er.
Ganz verwundert schaute der Vater auf seinen Sohn.
»Hör, Vinzi, ich höre es ja gern, daß es dir auf dem Berg so gut gefallen hat und setze ihn nicht herab; aber jetzt nimmt mich doch wunder, was du dort gefunden hast, das schöner wäre, als was du hier findest, und das du wünschen könntest. So sag, was ist's?«
»Das Schönste, das ich weiß, ist droben im Hospiz, beim Pater Silvanus, das Harmonium, und so darauf spielen zu lernen, wie er es kann, wünschte ich am meisten von allem auf der Welt«, sagte Vinzi.
Vinzenz Lesa richtete einen durchdringenden Blick auf seinen Sohn. Eine Weile blieb er stumm, dann sagte er: »Vinzi, kannst du so etwas im Ernst sagen, oder machst du nur Spaß?«
»Ich habe es gewiß ganz im Ernst gesprochen«, erwiderte Vinzi.
»So«, sagte der Vater kurz, »nun will ich dir etwas sagen, daß du weißt, wie ich es meine. Ich habe dich auf den Berg geschickt, daß du von den fröhlichen Buben droben lerntest, dich an deiner schönen Arbeit zu freuen. Ich habe geglaubt, die Augen seien dir aufgegangen, du seiest gereift und vernünftig wiedergekommen, und nun bist du genau so kindisch und unreif, wie du gegangen bist, nichts als Lumperei und Musikantenzeug im Kopf. Ich hoffe, noch Mittel und Wege zu finden, dich zur Vernunft zu bringen. Es wird ja noch möglich sein, einem Jungen die Augen über sein Glück aufzutun. Freilich, daß du dort oben solche Mücken fangen könntest, hätte ich nicht gedacht. Dort hinauf kommst du mir nie wieder; aber es gibt noch andere Hilfe.«
Vinzi hatte ruhig angehört, was der Vater sagte, bis der Schluß kam; der fiel ihm wie ein schwerer Stein, der ihn erdrücken wollte, auf die Brust. Jetzt, da der Vater dem Hause zuging und er allein war, warf er sich auf den Boden und drückte sein Gesicht ins Gras hinein, daß niemand sein Schluchzen höre. Daß der Vater von seiner Musik nichts werde wissen wollen, hatte er schon geahnt und keine hoffenden Gedanken genährt, daß es anders kommen könnte; aber seine ganze große, feste Hoffnung war, wieder und wieder auf den Berg zurückzukehren. Nun war alles aus; er hörte nur immer das eine Wort: »Dort hinauf kommst du mir nie wieder!«
»Vinzi, du sollst« – rief jetzt eine Stimme; aber sie verstummte plötzlich, Stefeli kam herangerannt. »Was hast du, Vinzi?« fragte es sehr erschrocken, da es sein Schluchzen und Stöhnen vernahm.
Er konnte nicht antworten.
»Du mußt gewiß kommen«, sagte Stefeli ängstlich, »wenn du nur aufhören wolltest, so zu weinen. Du mußt zum Kaffee kommen, der Vater sitzt schon am Tisch, und die Mutter hat gesagt, ich soll dich schnell holen.«
Jetzt sprang Vinzi auf und lief zum Brunnen. Da wusch er wieder und wieder seine Augen und dann noch einmal; es sollte niemand sehen, daß er geweint hatte.
»Es ist ja gleich, komm nur jetzt«, mahnte Stefeli; »der Herr Delrik kommt nie herunter zum Morgenessen, und der Vater gibt nicht acht, und die Mutter sagt nichts, komm nur!«
Als die beiden in die Stube eingetreten waren und Vinzi mit gesenktem Kopf sich an seinen Platz gesetzt hatte, warf der Vater einen scharfen Blick auf ihn hin. Dann stieß er die halb geleerte Tasse von sich, stand auf und ging zur Tür hinaus.
Vinzenz Lesa konnte keine Tränen sehen, am wenigsten an seinem Buben, der ihm doch noch lieber war als sein schönes Besitztum. Die Mutter schaute ihm verwundert nach.
»Was hat wohl der Vater? Er hat ja nicht einmal die Tasse geleert«, sagte sie, auf Vinzi blickend, der jetzt seine Augen erhob. »Ums Himmels willen, was ist denn mit dir, Vinzi?« rief sie noch viel bekümmerter aus, »du hast ja geschwollene, ganz rotgeweinte Augen, was ist denn vorgegangen?«
Vinzi wollte etwas sagen; aber es kam nichts heraus. Er legte seine Arme auf den Tisch, drückte den Kopf darauf und schluchzte laut auf.
Die Mutter machte ein so sorgenvolles Gesicht wie noch nie. Stefeli schluckte seine Milch hinunter und lief zur Tür hinaus.
»Wenn nur Herr Delrik käme!« seufzte es draußen; denn Stefeli hatte wohl gemerkt, wie in jeder Verlegenheit der Vater und die Mutter Herrn Delrik zu Rat und Hilfe aufsuchten und dann bald alles in Ordnung kam. Nun es drinnen so traurig zuging, mußte es schnell nach dem aussehen, der gewiß helfen konnte.
Eben trat er oben aus seinem Zimmer und kam die Treppe herunter. »Nun, schon zum Auszug bereit?« sagte er freundlich, als Stefeli auf ihn zuschoß und ihm die Hand reichte. »Kommst du mit zu einem Gang in den Morgen hinaus?«
Diese Frage war gerade, was Stefeli erhofft hatte, und bereitwillig machte es sich auf den Weg und teilte dem erwünschten Begleiter auch sofort alles mit, was ihm schwer auf dem Herzen lag. Wie Vinzi sich die Augen ganz rotgeweint, wie der Vater seinen Kaffee gar nicht fertiggetrunken, sondern die Tasse weggestoßen habe und fortgelaufen sei, und wie nun die Mutter ein so furchtbar trauriges Gesicht mache, wie noch gar nie.
»Aber Sie machen schon, daß alles wieder in Ordnung kommt«, schloß Stefeli ganz vertrauensvoll seine Mitteilungen.
»Soviel ich tun kann, werde ich gewiß tun«, versprach Herr Delrik lächelnd.
Die Worte des Kindes hatten ihn aber recht nachdenklich gemacht; er mußte sich fragen, ob nun wirklich die Besorgnisse der Mutter in Erfüllung gehen sollten. Der Gedanke bemühte ihn um so mehr, als seine Abreise nun auf einen der nächsten Tage bestimmt festgesetzt war, da ein Freund ihn an den italienischen Seen zu treffen wünschte.
Als die beiden von ihrem Gang nach Hause kamen, sah es da noch nicht viel besser aus.
Vinzi hatte endlich der Mutter die Worte des Vaters mitgeteilt, die ihn so zerschmettert hatten, daß er dachte, für ihn sei alles aus. Die Mutter hatte ihn wohl damit trösten wollen, daß der Vater das Wort nicht so unumstößlich gesagt habe. Vinzi solle nur seine Gedanken recht zusammennehmen und auf seine Arbeit richten, auf die Dinge, die um ihn her seien und des Vaters Freude ausmachten, und diesem zeigen, daß ihm auch etwas daran gelegen sei: dann komme gewiß die Zeit, wo der Vater ihn wieder auf den Berg zurückkehren lasse.
Aber Vinzi schüttelte den Kopf und sagte: »Der Vater läßt mich nie mehr hinauf. Er denkt, ich würde doch droben an etwas anderem Freude haben, als er will, und es ist auch wahr. Ich habe jetzt wohl verstanden, wie er es meint, vorher hab ich's nicht so gewußt.«
Die Mutter konnte nichts mehr sagen, es kam ihr selbst vor, es sei so, wie Vinzi sagte. Und was nun? Das wußte sie ja freilich nicht. Sollte ihr Junge wohl noch einmal fortgeschickt werden und wohin denn? Ihr Mann hatte wohl noch einen nahen Verwandten, einen älteren Bruder, mit dem zusammen er das väterliche Gut im Freiburgischen bewirtschaftet hatte, bis der alte Vetter in Leuk starb. Dann hatte ihr Mann dieses übernommen, da es den beiden als Erbe zufiel und das schöne Gut so vernachlässigt worden war, daß Vinzenz Lesa sich sagte, für eine Reihe von Jahren müsse er es selbst bewirtschaften, wenn es wieder in die Höhe kommen sollte.
Geradeso wie der alte Vetter, der hier gelebt hatte, war der Bruder ihres Mannes, so schweigsam und menschenscheu, und so verwildert sah er auch aus.
Vinzenz Lesa hatte einen alten Knecht bei ihm auf dem Hof gelassen, der alles regieren mußte. Der Bruder wollte am liebsten, daß nichts Neues gemacht würde, bis Vinzenz wieder selbst käme, was er jeden Tag erhoffte; denn der Knecht unternahm doch immer wieder etwas, was nicht gerade sein sollte.
Frau Stefane wußte, daß in der Familie Lesa da oder dort immer ein solcher Sonderling gelebt hatte, und plötzlich stieg eine neue Angst in ihr auf. Wenn der Vater nun wirklich für gut fände, den Vinzi auf das väterliche Gut zu schicken, damit er dort, wo ihn freilich nichts anderes unterhalten würde, Freude an seiner Arbeit und am Regieren eines Hofes fände. Könnte dann nicht seine eigene Art, die ja immer anders gewesen war als die anderer Kinder, noch sonderbarer werden in der ausschließlichen Gesellschaft des Vetters, und er selbst zu einem solchen Sonderling werden? Man sagte, der alte Vetter von Leuk habe meistens drüben vor seiner Scheune gesessen und viele Stunden lang vor sich hingestarrt, so hätten ihm die Leute den Namen gegeben: der Starri von Leuk. Geradeso mache es jetzt der Vetter im Freiburgischen, und wie dann solche Namen herumgetragen werden, und man ja auch wußte, woher die Lesa stammten, so hieß auch der schon bei allen Leuten: der Starri von Leuk.
Wie Frau Stefane in ihren Gedanken so weit gekommen war, wurde es ihr noch schrecklicher zumute. Das war ja gerade die Klage des Vaters gegen seinen Buben, daß er immer ins Weite staune und starre und nicht bei dem sei, was man ihm sage und was er vor Augen habe. Wenn es nun so kommen würde, daß ihr frischer, lebensvoller Vinzi wirklich der dritte Starri von Leuk werden könnte!
Aus ihren schweren Gedanken wurde Frau Stefane plötzlich durch Stefelis raschen Eintritt aufgeschreckt. Es kam, der Mutter zu berichten, daß Herr Delrik schon von seinem Morgenspaziergang zurückgekommen sei und nun bei Vinzi in der Stube sitze. Frau Stefane beeilte sich, ihrem Gast das Frühstück zu bereiten. Er war viel früher von seinem Gang zurückgekehrt als sonst, so war sie noch gar nicht bereit.
Herr Delrik wußte ja wohl von der Freude, die Vinzi von jeher an aller Musik gehabt hatte, und auch, was des Vaters Wunsch und Wille war und warum er seinen Sohn auf den Berg geschickt hatte. Was aber nach der freudebringenden Heimkehr schon so schnell des Vaters Mißstimmung und Vinzis Tränen hervorgerufen hatte, war Herr Delrik aus Stefelis Worten nicht klar geworden. Er nahm aber so herzlichen Anteil am Wohl und Wehe der Familie Lesa, daß er wissen mußte, ob er mit Rat oder Tat noch etwas zum Besten derselben beitragen konnte. Seine Zeit in dem Hause war aber nur noch von kurzer Dauer. So war er schnell von seinem Morgengang zurückgekommen, hatte sich zu dem düster brütenden Vinzi hingesetzt und ihm erzählt, daß er nun im Sinne habe, nach den italienischen Seen zu gehen. In zwei Tagen werde er über den Simplon reisen, und wenn Vinzi dahin etwas zu berichten habe, so werde er es gern bestellen; denn er gedenke, die Nacht dazubleiben.
In Vinzis Gesicht leuchtete es bei dieser Mitteilung einen Augenblick, als ob ein Sonnenstrahl darüber ginge.
»Gehen Sie auch zum Pater Silvanus und zum Großvater?« fragte er mit brennendem Verlangen in seinem Blick.
»Ich weiß nicht, wer das ist«, antwortete Herr Delrik; »aber du erzählst mir nun von ihnen und von allem, was du dort oben erlebt und wen du kennen gelernt hast; dann sagst du mir zum Schluß, was du deinen Freunden sagen lassen möchtest.«
Nun ging Vinzi das Herz auf. Er konnte von dem sprechen, was alle seine Gedanken unausgesetzt erfüllte, und er tat es in vollem Zuge; denn Herr Delrik zeigte ein solches Verständnis und eine solche Teilnahme für seine Freunde und für sein Harmoniumspiel beim Pater Silvanus, daß er alles erzählen konnte, was ihn auf dem Berg so glücklich gemacht hatte. Und nun wollte er ja wohl daheim wieder alles tun, was sein mußte, sagte Vinzi zum Schluß, und auch gar keine Musik mehr machen und keine mehr hören, wenn er nur die Hoffnung haben könnte, daß er nächsten Sommer wieder auf den Berg kommen und jeden Morgen wieder zum Pater Silvanus gehen dürfte; aber der Vater habe ihm heute gesagt, daß es nimmermehr geschehen solle.
Jetzt sah Herr Delrik schon klarer in der Sache.
»Sag mir nun, Vinzi«, sagte er nach einer Weile, »hat Pater Silvanus dich auch aufgefordert, Gelegenheit zu suchen, daheim in der Musik weiterzukommen, oder meinte er nur, so mit dir fortzuspielen, wenn du wieder auf den Berg kämest?«
Vinzi berichtete, was der Pater ihm anempfohlen hatte, daß er aber geantwortet habe, das sei gar nicht möglich; denn er wußte, daß sein Vater so etwas nicht haben wollte.
»Du möchtest wohl so ein Instrument erlernen, um dir zur Freude etwas vorspielen zu können, nicht wahr, Vinzi?« sagte Herr Delrik, »du hast doch nie daran gedacht, daß du die Musik zu deinem ganzen und alleinigen Lebensberuf machen möchtest? Du könntest dir das wohl selbst nicht recht vorstellen?«
Vinzis Augen flammten auf.
»Ja, das könnte ich wohl, und ich habe auch immerfort daran gedacht, wie ich auf dem Berge war, und jeden Tag mehr, und ich kann mir gut vorstellen, wie es wäre«, versicherte Vinzi. »Ich möchte auch nicht nur ein Instrument spielen, ich möchte die ganze Musik kennen, wie der Pater Silvanus. Er weiß alles und kann einem erklären, wie alle Töne zusammengesetzt werden, daß es harmonische Musik gibt, und wie man sie alle hinsetzen kann, wie man die Töne in sich hört, daß man sie nachher vom Blatte ablesen kann. Er hatte schon angefangen, mir alles zu erklären und mich zu lehren, und das ist alles so schön und wunderbar! Oh, ich wollte gern den ganzen Tag Schnee schaufeln und alle harte Arbeit tun, die sie im Winter droben tun müssen, wenn ich nur jeden Abend bei Pater Silvanus sein dürfte; denn er würde fortfahren mich zu lehren, er hat es gesagt. Aber nun darf ich nie mehr auf den Berg, gar nie mehr.«
Vinzi hatte Mühe, das neu aufsteigende Leid niederzukämpfen.
»Siehst du, Vinzi, dein Vater will nur dein Wohlergehen«, sagte Herr Delrik freundlich, »du weißt es wohl selbst, und ich kann es dir bestimmt sagen, ich weiß es auch. Weil er denken muß, zur Zeit könnte dein Leben auf dem Berge diesem im Wege stehen, darum hat er diesen Ausspruch getan. Aber mit der Zeit kann sich vieles ändern, dann wird er auch sein Wort nicht aufrechterhalten. Ganz verkehrt ist, wenn du nun dir immer dieses Wort wiederholst, daß dir hierüber alle Freudigkeit verloren geht. Ist dir nicht eben viel Glück und Freude zuteil geworden, wo du nur Angst und Leid vor dir sahst? Das bringe dir in Erinnerung, Vinzi, es muß dich ermutigen.«
Die Mutter war zwischendurch hereingekommen und hatte das Frühstück auf den Tisch gestellt; dann hatte sie sich gleich wieder entfernt. Es war ihr eine große Beruhigung zu hören, wie Herr Delrik zu ihrem Vinzi sprach, und wie aufmerksam dieser zuhörte.
»So, Vinzi, nun raffe dich auf und freue dich, daß du wieder daheim bist«, sagte Herr Delrik aufstehend, »zeige dem Vater ein fröhliches Gesicht, wenn er heimkommt, und sei willig zur Arbeit, die er von dir will, so kann alles gut werden. Denk auch ein wenig über meine Worte nach, willst du?«
Vinzi versprach es und schaute schon mit etwas helleren Augen der Mutter entgegen, als diese eintrat, nachdem Herr Delrik das Zimmer verlassen hatte.
Der Tag ging so still dahin, daß jeder fühlte, es lag auf allen etwas, das sie drückte; die frohe Stimmung von gestern abend war verschwunden. Als der Feierabend da war und Vinzenz Lesa wie gewöhnlich sich auf seiner Bank niederließ, hatte er die Stirne in tiefe Falten gezogen. Er saß da und starrte vor sich auf den Boden, er ließ sogar seine Pfeife ausgehen.
Jetzt trat Herr Delrik zu ihm heran.
»Herr Lesa«, sagte er, indem er Feuer machte und es seinem Wirte bot, »Sie sind nicht in der rechten Stimmung, sonst ließen Sie Ihre Pfeife nicht ausgehen; da, es muß wieder brennen.«
»Stimmung, jawohl Stimmung«, wiederholte Lesa grimmig. »Wenn einem das ganze Feld verhagelt ist, so bleibt ihm doch die Hoffnung, übers Jahr trägt's neue Frucht; aber wenn einer einen einzigen Buben hat und der rennt ihm vom Schlimmen ins Ärgere, wo bleibt da eine Hoffnung? Vom Ärgeren kann er nur noch ins Ärgste rennen, dann freilich geht's nicht mehr weiter.«
»Soviel ich es beurteilen kann, haben Sie einen sehr wohlerzogenen und recht braven Sohn, Herr Lesa«, bemerkte Herr Delrik gelassen.
»Das ist er, das ist nichts zu klagen«, entgegnete Lesa; »aber ein anderes ist's, wenn man seinem Sohne alles eingerichtet hat, daß er sich nur hineinsetzen und sich seines Glückes freuen kann, und er sieht nichts davon und kennt nichts, und von allem, was Wert hat, will er nichts wissen, nur einfältiges Kinderzeug gefällt ihm, darauf geht sein Sinnen und Trachten. Aber ich gebe nicht nach, bis er zur Vernunft kommt, und müßte ich ihn übers Weltmeer schicken. Aber es gibt noch einen näheren Ort, wo er wenigstens für seine Kindereien keine Unterstützung findet, das ist sicher.«
»Darunter verstehen Sie wohl Ihres Sohnes große Neigung zur Musik und sein Streben, sich damit zu beschäftigen? Das könnte aber doch etwas anderes als Kinderei, da könnte wohl etwas Ernstes dabei sein«, sagte Ken Delrik.
»Ernstes dabei sein«, wiederholte der erregte Vater, »ein Spiel ist's, wie ein anderes, und ich habe ja nichts dagegen, wenn zum Feierabend die jungen Bursche sich erlustigen und fröhliche Lieder singen. Aber so ist's nicht mit meinem Buben, der sinnt und starrt vor sich hin und sieht nichts und hört nichts und denkt die ganze Zeit seinen Pfeifereien nach. Einen ganzen Haufen von geschnitzten Pfeifen hab ich einmal in der Scheune aufbewahrt gefunden. Und das wären nicht Kindereien, auf die er alle seine Gedanken verwendet?«
»Das zeigt doch gerade, daß etwas Ernstes in seinen Musikbestrebungen liegt«, erwiderte Herr Delrik. »Wäre das bei ihm ein Spiel wie ein anderes, hätte er es doch nach Art aller Knaben längst einmal mit einem anderen vertauscht, und sein ganzes Sinnen und Denken ginge nicht immer auf dasselbe hin. Auch die Ausdauer, mit der er sein Instrument immer neu erstellte, wohl damit es seinen Anforderungen immer besser genüge, zeigt deutlich, wie groß sein Eifer für die Sache ist. Daß diese bei ihm kein Spiel, sondern eine innere Arbeit geworden ist, glaube ich ganz bestimmt.«
»Eine Arbeit, so etwas eine Arbeit nennen!«
Um seine Entrüstung zu unterdrücken, blies Vinzenz Lesa ungewöhnlich dicke Rauchwolken aus seiner Pfeife.
»Gewiß kann auch Musik Arbeit sein, und wo die Gabe da ist, kann sie zum schönen Beruf werden«, fuhr Herr Delrik fort. »Ich meine, das sollten Sie Ihrem Sohne erlauben, Herr Lesa, daß er ein Instrument spielen lernt, sein Verlangen danach ist so groß, daß er jede andere Arbeit mit mehr Freudigkeit tun wird, wenn ihm dieser Wunsch in Erfüllung geht.«
Jetzt legte Vinzenz Lesa seine Pfeife weg, das war bei ihm das Zeichen der höchsten Erregung.
»Herr!« sagte er mit verhaltenem Grimm, »der einzige Sohn von Vinzenz Lesa wird kein Musikant. Er hat einen Hof, auf dem er leben kann wie ein Herr. Wenn er später einmal will, dann kann er auch Trompetenblasen, soviel er will, das Gut erträgt's. Aber ein anderes ist es, einen Buben, der noch keine Vernunft hat, von der gesunden und richtigen Arbeit wegzulenken und ihn ans Instrumentespielen und Musikmachen zu gewöhnen, bis er mir sagt, was Sie soeben sagten, daß das Musikmachen auch zum schönen Beruf werden kann, und daß er diesen Beruf ergreifen will. Nein, Herr, ein herumfahrender Musikant wird der Sohn von Vinzenz Lesa nicht.«
»Es ist doch auch nicht notwendig, daß alle Musiker herumfahrende Menschen seien«, meinte Herr Delrik, »da gibt es doch viele Musiker, herrlich begabte Menschen, die üben ihren Beruf in ganz anderer Weise aus.«
»Da kommen sie einem vor die Tür«, fuhr der erregte Vater fort, »wie viele Hunderte von ihnen, der Mann mit einer zerbrochenen Geige, die Frau mit einer kreischenden Stimme, Fetzen am Leib, und machen ihre Musik. So enden sie alle. Herr, wenn Sie einen einzigen Sohn hätten, würden Sie ihn zu einem solchen Musikanten machen wollen?«
»Zu einem solchen lieber nicht«, erwiderte Kerr Delrik; »aber wenn es so wäre, daß ich einen Sohn besäße und er hätte das Talent zu einem großen Musiker mitgebracht, so wüßte ich nichts, was mich hindern sollte, seinen Wunsch zu erfüllen, sollte er den haben.«
»Das wird mein Bub wohl nicht mitgebracht haben«, sagte der widerstrebende Vater; »so besondere Sachen kommen nicht so leicht vor. Glauben Sie, Herr, wenn Vinzi zur Vernunft gekommen ist, so wird er selber froh und dankbar sein, daß er als Meister auf einem schönen Bauernhof sitzt und nicht als Musikant in der Welt herumzufahren hat.«
Herr Delrik mußte sich sagen, daß er selbst nicht wußte, was eigentlich an Vinzis musikalischem Talent war. Er kannte ja nur das große Verlangen des Jungen. Auch fühlte er, daß mit Worten die Ansicht, die Vinzenz Lesa vom Leben eines Musikers hatte, nun einmal nicht zu ändern war. Es war aber ein Gedanke in ihm aufgestiegen, wie er Sicherheit darüber erlangen konnte, ob mit Recht gegen des Vaters Abneigung gekämpft werden könnte, oder ob es das rechte wäre, seiner Ansicht beizutreten und ihm zu helfen, seinen Sohn auf den richtigen Weg zu bringen.
»Herr Lesa«, sagte er jetzt, indem er aufstand und dem Angeredeten die Hand»reichte, »wir wollen hier unser Gespräch abbrechen, wir kommen heute zu keinem Verständnis. Aber ich gedenke es doch noch einmal aufzunehmen und hoffe dann auf ein völliges Übereinstimmen. Wir haben uns ja sonst immer so gut verstanden.«
»Das haben wir«, entgegnete Vinzenz Lesa, die dargereichte Hand schüttelnd, »und wo wir nicht zusammenkommen, da weiß ich doch immer, daß Sie es gut und redlich meinen.«
Nun ging Herr Delrik.
Am folgenden Tag, dem letzten vor seiner Abreise, ging es so still und traurig im Hause zu, als ob ein Unglück in Aussicht stände. Jedes hatte seine eigenen schweren Gedanken auf dem Herzen, und nun noch das allgemeine Leid, daß derjenige sie verlassen würde, bei dem jedes seinen Trost suchte.
Stefeli hatte gemeint, wenn nur Vinzi wieder daheim sei, so sei nichts als Freude mehr im Haus, nun war gerade das Gegenteil eingetreten, und nun ging noch der einzige fort, der helfen konnte.
Der Mutter hatte Herr Delrik am Abend vorher noch sein Gespräch mit ihrem Manne mitgeteilt und ihr wohl gesagt, er gebe dennoch seine Hoffnung nicht auf, für Vinzi noch einen Weg zu finden. Aber sie konnte keine Hoffnung fassen, sie sah nur Unheil vor sich; denn auch, wenn ihr Mann noch dem Zureden des Herrn Delrik auf irgendeine Weise nachgeben würde, er würde sich nie mit der Sache versöhnen, es bliebe ein Zwiespalt zwischen den beiden. Nur einer konnte dem wehren, und der ging nun fort.
Vinzi dachte bei sich, wenn er nur immer wieder mit Herrn Delrik über alles sprechen könnte, dann käme ihm wohl Freude und Zuversicht wieder ins Herz; aber der ging ja nun fort.
Der Vater Lesa stand unter dem Eindruck, Frau und Sohn verstünden nicht, was zu Vinzis Wohl nun einmal nötig wäre, und auch der einzige, der doch jedenfalls zur Einsicht kommen würde und auch die anderen dazu bringen konnte, verließ sie nun. Herr Delrik sagte immer wieder ein freundliches Wort zu einem und dann zum anderen; aber die drückende Stimmung konnte er nicht heben.
Am Abend, als er sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte, klopfte es an seine Tür, und Vinzi trat herein. Er trug zwei kleine Bücher und ein Paketchen in seinen Händen und fragte schüchtern, ob wohl Herr Delrik die Sachen seinen Vettern bringen würde. Das Paketchen sei für den Rußli, das habe er dem Kleinen ganz bestimmt versprochen. Die Büchlein seien für Jos und Faz; denn der Jos habe ihm erzählt, an ihren langen, langen Winterabenden läsen sie so gern etwas, und da sie nur wenige Bücher hätten, müßten sie immer wieder die gleichen lesen.
Dann wollte Vinzi auch gerne noch alle seine Grüße an alle im Hause des Vetters mitgeben, auch an den Großvater und den Pater Silvanus, und allen danken und ihnen sagen lassen, wie gern er bei ihnen gewesen sei und wie gern er –; aber hier konnte Vinzi nicht mehr weiter. Er sagte schnell gute Nacht und ging.
Herr Delrik hatte im Sinne, von den italienischen Seen aus auf einem anderen Wege nach Deutschland zurückzukehren.
Im nächsten Sommer hoffte er wiederzukommen, was die Familie Lesa mit großer Freude aufnahm; nur Stefeli meinte, es sei ja furchtbar lange bis dahin.
Früh am anderen Morgen fuhr Herr Delrik dem Simplonberge zu.