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Der Dulder

I

Gesenkten Hauptes, in die müheschweren Wonnen
Des Schachspiels sorgenvoll versunken und versonnen,
Saß überm schwarz und weiß gevierten Marmortische
Der Engelgottes einsam in des Saales Nische.
Sah nicht den goldnen Abend, welcher gnadenvoll
In breiten Strömen durch die offnen Fenster quoll,
Sah nur die selbstgeschaffenen, vom Spiel geborgten
Süßen Gedankennöte, die den Sieg ersorgten.
Kein Partner gegen ihn. Wo war auch ein Verwegner,
Der, seis im Spiel, ihm trotzte? Als sein eigner Gegner
Führt er hinüber und herüber Zug um Zug,
Je, wies der Vorteil heischte, Billigkeit ertrug.
Ob sich nach dieser oder jener Seite hin
Das Schlachtglück wende, immer wartete Gewinn.
Triumph! wenn er den luftigen Gegner niederföchte!
Erhebung, wenn er groß sich selber übermöchte!

Darob entglitten leis die Stunden. Düsternis
Umwölkte mehr und mehr des Kampffelds Linienriß,
Und in den Winkeln brütete bereits die Nacht.
Er übersah es, einzig auf das Spiel bedacht.
Und als er schließlich, froh der tapfern Siegestat,
Aufatmend und zufrieden vor die Haustür trat,
Blinzte sein Auge. Denn in ungeahnter Helle
Verblendet ihm den Blick des Abendrotes Grelle.
Wohlan! Wohlauf! Zum Lohn der Arbeit und zum Preise
Der linden Luft laß glücken, komm, ein Stündlein Reise!
Und unternahm, der Außenmauerwehr entlang,
Rund um den Himmel einen lässigen Wandelgang
Mit lockerm Geist und Willen, ohne Ziel und Zweck.

Da überfiel ihn plötzlich ein Erinnrungschreck.
«Halt doch! beinah hätt ich vergessen: Ist denn nicht
Der große Tag der Bundesfeier bald in Sicht,
An dem ich mit den Menschenkindern offenkund
Und feierlich erneuern will den Freundschaftsbund?
Als Pünktlein einst erschienen – ‹bah! hat keine Eile› –
Ist er herangewachsen, denk ich, mittlerweile.»
Und wie den Blick er forschend nach der Sternenuhr
Erhob und las am Zifferblatt die Zeigerspur,
Da prunkte riesengroß, in Pracht und Herrlichkeit,
Der Bundesfeiertag herab vom Turm der Zeit.
Vor seinem Licht erloschen alle andern Zahlen,
Und über Mond und Sterne flammten seine Strahlen.
«Vernommen und willkommen! Sieh mich dein gewärtig.
Dich würdig zu empfangen ist mein Wille fertig.
Auch will ich, daß des Bundestages äußre Weihe
Dies Jahr in sonderlicher Festlichkeit gedeihe,
Auf daß mans lerne in den Höhen und den Weiten:
In dieser Wüstenei der kalten Ewigkeiten,
Im Wirbelsturm der unvernünftigen Gewalten
Steht eine Insel, wo Gesetz und Ordnung schalten,
Ein Gottesreich, darin der Geist gewinnt das Wort,
Wo Rechttun Recht erfährt und Güte einen Hort.
Mit Treu und Glauben will ichs an mein Zepter binden,
Und keine Macht der Bosheit soll es mir entwinden.»
Und all die Weile, da er in geduldiger Dauer
Den nächtlich späten Umgang um die Himmelsmauer
Vollstreckte, zögernd, stillestehend dann und wann,
Erschöpft er die Gedanken, riet und sucht und sann,
Was Neues, Großes er zur Bundesfeier füge.
Allein kein Einfall brachte seinem Wunsch Genüge.

Doch wie er endlich durch den waldigen Hügel quer
Nach seiner Heimat leitete die Wiederkehr,
Da lag vor ihm das Menschenland auf Erden nieden,
Von schwarzer Mitternacht verhüllt, im Schlummerfrieden.
Dazwischen da und dort ein Silberschimmerglänzen
Von Lichterreihen, die in krausen Sternentänzen
Bald auf, bald nieder schwankten, funkelnd um die Wette.
Jetzt gleich dem Vater, der an seines Kindes Bette
Den holden Schlaf des lieblich Schlummernden bewacht,
Den Atem zählt und jede Regung nimmt in acht
Und wird nicht satt, und um so länger, desto mehr
Schwillt seines Herzens liebedurstiges Begehr,
So lauscht er huldvoll in die Tiefe, allerwärts
Sein Auge weidend und sein königliches Herz.
«Mein Volk!» seufzt er. Und wog mit gnädigem Bedenken,
Welch eine Gunst er möchte seinem Volke schenken.
Sieh da: zur Seite in der Wälderfinsternis
Hochragend seines Hauses stolzer Schattenriß.
Ha, welch ein Glückschein, grüßend von des Daches Zinnen:
Sein Knäblein träumend in der stillen Kammer drinnen.
Jetzt, gleich wie wenn von zweien Drähten, überladen
Mit unsichtbaren, hinterlistigen Wetterschwaden,
Kaum daß ein Zufall ihre Köpfe näher schiebt,
Jählings ein Blitz herüber und hinüber stiebt:
So sprang aus zweier Zweifelsfragen Doppelkuß
Ihm leuchtend in das Herz ein jauchzender Entschluß:
«Ich will dem Menschenvolk zum engern Bundesband
Mein eigen Knäblein anvertraun als Liebespfand.»
Und froher Friede, der aus diesem Spruche floß,
Verbürgt ihm die Gewißheit, daß er recht beschloß.

 

Drei Engel sprangen auf dem weißen Straßenband
Bei Sonnenaufgang erdwärts von der Himmelswand.
Und jedesmal bei einer neuen Straßenwendung
Verwarfen sie mit hohen Armen eine Sendung
Von bunten Bänderschlingen schleudernd in die Winde,
Daß weithin segelte das schlängelnde Gewinde.
Dann unten angekommen auf dem Erdenplan,
Standen sie still und setzten die Posaunen an:
«Vom Engelgottes Gruß den Menschenkindern allen.
Vernehmt den Spruch, der seiner gnädigen Huld gefallen:
Mein Volk! Der Dank erprobter Treue heißt Vertrauen.
Der Einigkeit zum Kitt, der Freundschaft zum Erbauen
Soll künftig noch ein neues innigeres Band
Uns aneinander knüpfen. Ein hochheilig Pfand
Will an des Bundesfeiertages Morgen ich
In eure Hände übergeben feierlich,
Ein Kleinod, köstlicher als goldne Schätze sind:
Mein Herz, mein Licht, mein Auge, mein leibhaftig Kind.
In eurer Mitte auf dem Schloßberg soll es wohnen.
Ihr aber, weiß ich, werdet mein Vertrauen lohnen,
Das Kindlein sorglich hegen, schützen und behüten
Und also meinen Dank mit Gegendank vergüten.»

Und als die Menschheit nun die Bänderschleifenbogen
Gewahrte, wie sie lustig durch die Lüfte flogen,
Und den Posaunenchor, der von den Engeln kam,
Und ihrer Botschaft unverhoffte Huld vernahm,
Geschah im Erdenland ein mächtig Freudenrauschen
Mit Jubelruf, Verbrüderung und Küssetauschen.
Dem Gotteskind, daß es ein fürstlich Lager hätte,
Erstellten sie ein niegeschautes Wunderbette,
Aus goldverziertem, würzigem Edelholz geschnitzt
Mit allen Künsten, die der Menschengeist besitzt.
Des Vorhangs aber und der Decken und der Kissen
Zeigten die holden Fraun und Jungfraun sich beflissen.
Dem Menschenkönig wieder, seines Amtes wegen,
War eine wichtigere Sorge angelegen.
Er sprach: «Des heiligen Knäbleins Heim muß beides sein:
Vor Feindesaugen sicher, freundlich obendrein.
Ein unterirdisches, verborgenes Gemach,
Doch hoch, die Sonne lassend durch das Fensterdach,
Auf daß der Frohmut sich zur Einsamkeit geselle,
In farbigem Zwielicht eine schummrige Kapelle.
Als Zugang eine wuchtige Pforte, erzgegossen,
Mit Schloß und Riegel drei- und vierfach abgeschlossen.»
Und also wie gesprochen, handelt er danach.
Kein Geist blieb müßig, keine Kräfte lagen brach.
Wettstreit erwachte, wer vielleicht zum Festgerüste
Noch eine neue, schlau erfundne Anstalt wüßte.

Und wie nun nach des Erdenstundenlaufes Art
Der Bundesfeiertag geworden Gegenwart,
Sichtbar und sonnenklar dem Blicke sich enthüllend
Und Berg und Tal mit steifer Wirklichkeit erfüllend,
Und alles Volk im Allmendfeld versammelt war,
Erschien der Engelgottes hinterm Hochaltar
Des Schicksals. Seinen Anblick grüßte Stirneneigen,
Kniebeugen und erwartungsvolles, scheues Schweigen.
Mit trauerschwerer Stimme, düster und gedämpft,
Begann er das Gebet, aus tiefster Brust erkämpft:
«Schicksal, gespenstisch Unweib ohne Fleisch und Namen,
Du blasse Nachtgeburt aus wesenlosem Samen,
Du Schatten ohne Blut, darin kein Leben kreist,
Du mit den blinden Augen und dem blöden Geist,
Was schleichst du so, halt ein, schlafwandelnd durch die Enge
Der falschen, heuchlerischen Weltmaschinengänge?
Obacht! Gefahr! Verderben lauert aller Enden!
Rühr nicht mit deinen gichtischen, geschwollnen Händen
An einen Hebel! Komm mit deinem Arm etwa
Nicht einem Uhrwerk, einem tückischen Stift zu nah,
Auf daß du nicht die Brunst der feuerschwangern Dünste
Entzündest und die tausend giftigen Teufelskünste
Der hinterlistigen Elemente jach entladest,
Des Unheils unbewußt, das du auf Erden schadest.
Kehr um, zieh heim, leg dich aufs Lager! Legen, legen!
Die Atemzüge zählen und dich nicht bewegen!
Brauchst dus: mit Daumendrehen deine Unrast büße!
Nur nicht der schwanke Schleichgang deiner schwachen Füße
Und dieses fürchterliche Tasten deiner bösen
Verkrümmten Zitterfinger, die den Donner lösen!»
Also der Engelgottes. Seinem grauenvollen
Gebet antwortete Entsetzen. Seufzer quollen
Und wimmernd Greinen, angstgeborne Ächzer klagend.
Sodann verhüllten Haupts, die Stirn den Boden schlagend,
Versuchten eifrig wehrend mit gespreizten Händen
Und Zaubersprüchen sie das Unweib abzuwenden.
Ein ander, tröstlicher Gebet erließ zum zweiten
Der Engelgottes, in die hohen blauen Weiten
Des glanzerlauchten Tages seinen Blick erhebend,
Der Atem frei, die Stimme glück- und freudebebend:
«Du aber, du erhabne, gottgeborne Magd,
An die die Hoffnung nicht, die Sehnsucht kaum sich wagt,
Holdselige, deren Antlitz, ätherglanzumblaut,
Keine Auge jemals, nur der Herzenswunsch geschaut:
Pandora, Durst der Menschheit, Zier der Überwelten,
O laß in Großmut meine brünstige Bitte gelten:
Nicht dich zu schauen will sich mein Gebet vermessen.
Daß du unnahbar bist, ich bin bewußt mir dessen.
Ein minderes, ein Bettelbrot erfleh ich nur:
Vom Segen deines Daseins eine leise Spur,
Vielleicht vom Berg herab dein ferner Widerschein,
Trostspendend in die Erdenkümmernis herein;
Oder aus deinem goldgelockten Haupt ein Haar,
Im Schlehenbusch am Wege flatternd; oder gar,
O Sehnsucht, von dem Felsenband im Waldesgrunde
Ein Lied aus deinem menschenholden Freundschaftsmunde!
Welch eine Gabe immer kommt von dir gegangen,
Wir wollens knieend als ein Heiligtum empfangen.»
Auf sprang das Volk, erlöst, der Trauerlast enthoben,
Und traten Reigentanz und jubelten nach oben.
Und, ihre Gier nach der Bescherung vorzumalen,
Hielten sie Körbe bettelnd dar und Blumenschalen,
Pandoras Namen segnend mit verzückten Rufen.

Halt! Ruhig! seht doch! Drüben auf des Thrones Stufen,
Was steigt dort Liebliches? Ach schade, ärgerlich!
Wo ists? Ich suchs. Wo bleibt es denn? Scheints täuscht ich mich?
Doch nein! Jetzt zeigts sich wieder, schwankt treppauf empor.
Ich glaube fast ein Kinderköpflein, kommt mir vor.
Wahrhaftig, deutlich, ja! Und alles Volk verstand:
Das Gottesknäblein an der väterlichen Hand.
Kein Freudenschrei noch Zuruf oder Jubelschallen:
Ein tausendfältig zärtlich Stöhnen, Locken, Lallen,
Mit Handkußwerfen samt den trunknen Ungebärden
Der Liebestorheit, wenn von Wonnenotbeschwerden
Der Mensch den Aufruhr der Gefühle nicht mehr zäumt,
Die Stränge reißen und Vernunft die Stätte räumt.
Doch wie nun, von des Vaters Armen aufgehoben,
Der Liebling hoch und frei vom Thronesschemel oben
Zu Tage schien, befremdet erst und zaghaft blickend,
Hernach, beherzt, mit beiden Händlein Grüße schickend,
Verschlug der Freudeschreck den Atem. Kleine Schreie,
Vereinzelte. Dann aber aus der letzten Reihe,
In ungestümem Schnellauf wie des Fegwinds Sausen
Sich nähernd, immer mächtiger, ein tosend Brausen.
Plötzlich, als wärs auf eines Taktstocks Anbefehlen,
Ein Jauchzerdonnerschlag aus abertausend Kehlen.
Horch: Glockentaumel, lachend von den Türmen. Höre:
Vom Himmelsberg herab die frohen Engelchöre.
Zuviel! Ein Ruck, ein jäher, heftiger Massenstoß
Sturzweis nach vorn – geschehen, eh versehen bloß –
Und ein verworrner, wilder Menschenknäuelball
Prallt an den Thron. Kein Halt, kein Damm: ein Überfall.
Weinend sein Köpflein in des Vaters Busen grub
Das Gotteskind. Und Knechte steuerten dem Schub,
Bis, von des Engelgottes hochgehobnem Arm
Gemahnt, allmählich sich begütigte der Schwarm.
Und als nun wieder leidlich Ruhe war geworden
Und sich zur Ordnung stellten die entgleisten Horden
Und außer ab und zu verspätet noch ein Grollen:
«Wer wagts?» kein Laut mehr kam – sieh um: nichts mehr, verschollen –,
Eröffnete der Engelgottes feierlich
Den Mund, und alles Menschenvolk verneigte sich.
«Des Bundes», sprach er, «der uns eint, Erneuerung
Wird heut in einem sonderlichen Sinnbild jung.
Dies reine Kindesantlitz ohne Harm und Schuld
Leih ich in eure Hut als Bürgschaft meiner Huld.
Die Treu und Ehrerbietung, welche mir gehört,
Gebührt auch ihm. Wollt ihr ihm Treue pflichten? Schwört!»
Hui, wie die Hände pfeilschnell in die Höhe fuhren!
Ein Zeigefingerwald! Und alle Münder schwuren:
«Sieh dort die Berge. Schande, wie sie schmählich schwanken!
Doch unsre Liebe, unsre Treue wird nicht wanken.»
«Wollt ihr ihm Sicherheit in seinem Schlummer stützen?
Vor Feindesfaust und Hinterlist es wachsam schützen?»
Waffengeklirr und Fußgestampf: «Hie Mut! Hie Mann!»
Mit Kriegsruf, Hörnergellen, Trommelbaraban.
«In euren Sünden soll es euer Anwalt sein,
Vor meiner Rache soll es euch zum Schild gedeihn.
Doch haltet fest: Wofern sich einer unterfinge,
Daß er an meines Kindes Haupte sich verginge,
Weh ihm! Auf welchen Wert und Vorzug er sich stütze,
Nicht Rang, nicht Tugend noch Verdienste sind ihm nütze.
Der scharfen Strafen schärfste, die mein Zorn enthält,
Ist klein gleich jener, die auf solchen Frevler fällt.
Was einer Übles mir getan, kann ich verzeihn;
Doch wer an meinem Kinde sich vergriffen, nein.
Und keine Reu und Einkehr sühnt ihn. Und die Zeit
Schafft nie Verjährung. Fluch auf ihn in Ewigkeit!»

Den König Epimetheus jetzt beschied sein Wille
Mit kurzem Wink an seine Seite. Totenstille
Begrub die weite Allmend. Keines Lautes mächtig,
Sah jedes Auge nach dem Thron erwartungträchtig.
Freundlich zu seinem Knäblein sich herniederneigend,
Fragte der Engelgottes, auf den König zeigend:
«Hier steht mein Freund und Bruder, dir ein Vater nun;
In seinem Haus, im schönen Bette sollst du ruhn;
Er will dich treu behüten und dich sorglich schonen;
Magst du zu ihm? Sprich, sag mir: magst du bei ihm wohnen?»
Zwei große, klare Augen sperrte liderweit
Das Knäblein auf und schaute lange, lange Zeit
Dem unbekannten, fremden Manne ins Gesicht,
Zog keine Miene, selbst die Wimper zuckte nicht.
Dann plötzlich streckt es, mit den Händen nach ihm langend,
Sich lachend ihm entgegen, freudig und verlangend.
Gerührt den Scheitel und die Hände küßte da
Der Vater seinem Kind; den Abschied fühlt er nah.
Mit einem einzigen Wörtlein, das sein Mund gewann,
Lud ers dem Menschenkönig in die Arme dann:
«Mein Kind.» Mit Schluchzen ward es ehrfurchtstumm empfangen,
Und Tränen rollten über Epimetheus' Wangen.
Auch vom gesamten Volk, im Allmendfeld vereint,
Geschah kein Wort. Nur Schluchzen, leis vor sich geweint.

Drauf reiste man im Zug durchs Allmendfeld hinaus,
Das Gotteskind zu führen in sein neues Haus,
In einem prächtigen, blumenduftigen Sänftewagen
Von vier der Obersten des Menschenvolks getragen.
Zur sorglichen Betreuung an der Sänfte Seite
Gab Herzelieb mit ihren Frauen das Geleite.
Zum Menschenkönig aber, der mit seinen Scharen
Den Schritt zurückhielt, Abstand schicklich zu bewahren,
Wandte sich gnädig um der Engelgottes: «Nein,
Mein Freund, dein Wandel muß an meiner Seite sein.»
Ha! welch ein maßvergeßner Jubel jetzt geschah,
Als man das Völkerfürstenpaar im Gleichschritt sah.
Nun streckte sich, verdünnte sich der Zug, den Gassen
Der Stadt durch die Verschmälerung sich anzupassen,
Und durch das Stadttor ging es mit Trompetenschall.
Wild ums Gewölbe prasselte der Widerprall.
Dann jenseits in den kühlen Gang der Häuserreihen.
Auf allen Dächern Fahnen, in den Fenstern Maien.
Ein wimmelnd Tongewühl durch trunknen Farbenrausch.
Aufmerksam, fragestaunend, aus des Kissens Bausch
Starrte das Knäblein in den Taumel unverwandt.
Alles ein Rätsel, fremd und neu und unbekannt.
Dann plötzlich: «Fort, Gedanken! denks doch nie zu Ende!»
Setzte sich auf und jauchzt und klatschte in die Hände.
Gleich jungen Vöglein in den Kirschenbäumen, die
Von Menschendingen zwar verstehen nichts und nie;
Bewahre, daß sie unterscheiden Kriegsgeschrei
Von Pfingsten. Gleichviel, ist nur Licht und Lärm dabei.
«O grüner Wald!» Und geben von den höchsten Ästen
Ihr schönstes Frühlingslied als Gegengruß zum besten;
Denn alles, was da glänzt, und alles, was da läutet,
Wird von den Kindlichen als Freundschaft umgedeutet.
Also das Gottesknäblein: Leben, farbig Leben
Rundum. Genug fürs junge Herz! Was brauchts daneben?
Allein nicht lange. Satt und selig sank es wieder
Zurück ins Kissen, lispelte und schloß die Lider.
Vorsichtig aus den Bügeln und Gelenken hob
Die treue Herzelieb die Sänfteplane, schob
Mit sachtem Finger leis das luftige Seidendach
Über das Bett vor, immer weiter nach und nach.
Dann rückwärts schauend, schnellte sie die Hand empor
Und winkte stumme Abwehrzeichen heftig vor.
Flugs durch die Reihen lief ein aufgeregtes Strafen
Und Mahnen: «Still doch! Seht ihr nicht? So laßts doch schlafen!»
Absonderlich: der geisterhafte Völkerzug,
Aus dem kein Ruf, kein Ton, kein lauter Tritt mehr schlug.
Doch sieh: ein Wunder! Leuchtend überm Sänftebette
Zog, in den Lüften schwebend, eine Bilderkette –
Traumbilder aus dem Geist des Schlummernden, versteh!
Wenn es den Atem einzog, so entstanden je
Umschilderungen all der tausend Neuigkeiten
Des heutigen Tages in den fremden Erdenbreiten.
Wenn wieder es den Atem aus dem Munde stieß,
So stieg der Himmelsheimat waldiges Verlies
Ihm vor den Blick, erinnrungklar und wahr gesichtet,
Vom Herzenswunsch mit Liebesseligkeit durchdichtet.
Ob solchem Anblick pochten alle Herzen reiner,
Demütiger und andachtinniger; denn keiner,
Der nicht begriff: dies Bettlein birgt das beste Stück
Des Menschendaseins und der Erde höchstes Glück.

Mit diesem tauchte jenseits durch das Gegentor
Der Aufzug aus der Stadt ins freie Feld hervor
Und trieb rechtsab in weitem Bogenschwung den Gang
Dem Schloßberg zu, am schattigen Waldgebirg entlang.
Da spürte, als man an der Einschluft eines Tales
Vorüberkam, der Engelgottes eines Males
Am Halse hinten, auf der Höhe des Genickes,
Den spitzen Stachel eines unverschämten Blickes,
Als ob ein tückisch glotzend, boshaft Ungeziefer
Ihn heimlich stäche mit dem giftgeladnen Kiefer.
Und wie er, jach von heftigem Zorn entzündet, scharf
Den Blick nach allen Seiten blitzschnell um sich warf,
Sieh da Prometheus, der von oben auf dem Stein
Das seltne Abenteuer nahm in Augenschein,
Im Werktagskittel und im groben Arbeitshemd,
Ein Unbeteiligter, gleichgültig, kühl und fremd.
Zwar selber schien er ohne Harm und Arg, vielmehr
Ein Grambeladner, sorgenvoll und kummerschwer,
Doch über seine Schulter – «Ha, ich sehe dich!» –
Schickte die Seele, Blick für Blick ein Dornenstich,
Hochmütige Augenflammen züngelnd ihm entgegen.
Und ihre lässige Haltung trotzte: Überlegen.
Ists nicht, als ob ein Lächeln ihren Mund umspielte?
Ein spöttisch Lächeln, das sie mühsam nur verhielte?

In finstern Wetterschwaden brodelte sein Groll.
Dann, hurtig sich bezwingend, stark und hoheitvoll:
«Mich rührt ein ernstes Amt am heutigen heiligen Tag.
Was schiert, was mir ein winzig Menschlein bieten mag?»
Doch Abends auf dem Heimweg, alles schön vollzogen,
Von Dank verfolgt und heißen Liebesjubelwogen:
«Merkwürdig: alles recht bestellt und wohlgetan,
Und dennoch ein Gefühl, als klebt ein Schmutzfleck dran!»
Und griff sich an den Hals und rieb sich das Genick.
«Pfui Schimpf! Pfui Hohn! Ein Faustschlag eher als ein Blick!»
Zu Hause angekommen spät um Mitternacht:
«Jetzt aber Schluß der blöden Nachsicht! Nein! Verlacht,
Verhöhnt von einem Menschensohn! Jetzt Halt! Zuviel!
Zum Gegner mag ich stehen, nicht dem Spott zum Ziel.
Und nicht genug damit! Was seine Frechheit steigert:
Daß meinem Kind er Gruß und Huldigung verweigert.»
Setzte sich nieder, schrieb und siegelt einen Brief,
Beichte das Urteil einem Boten, den er rief:
«Hinab nach Erden! Zu Prometheus auf und fort!
Verhaft ihn ohne Fristgewähr und Widerwort.
Zum Land hinaus in die Verbannung mit dem Mann,
Über den Seufzerberg und durch die Wüste dann
Bis zu den Bergwerkgruben unterm Bruchbetrieb.
Dort diese Schrift dem Kerkermeister übergib.
Mag sein, wenn er den Schweiß der Händearbeit schmeckt,
Daß ihm das geile Fett verdampft und Demut kleckt.»
Hernach besänftigt, mit verwundner Ungeduld:
«Er hats begehrt. Wenns schmerzt, so ists nicht meine Schuld.»

II

Im ersten Morgengrau, als zwischen Schlaf und Schlummer
Prometheus träumte seinen trauten Schöpferkummer,
War ihm, als ob durchs Fenster eine Wolke schwebte,
Davor sein Atem stockte und sein Herz erbebte,
Gleich einem Vogel, welcher aus den weichen Matten
Des warmen Nestes wahrnimmt eines Raubtiers Schatten.
Und horch! Ein Riegelklirren an der Gartenpforte.
Dann von der Haustür kamen die gedämpften Worte:
«Wach auf, Unseliger! Weheruf und Klagen stammle
Und, falls du einen Gott hast, Trost und Stärkung sammle!
Denn ins Gefängnis gehts zum fernen Bergwerkbruch.
Frag nicht. Weiß nur: so wills des Engelgottes Spruch.»

Nachdem fürs erste – «Wehe, hab ich recht gehört?» –
Prometheus eine Weile dumpf und gramverstört
Den stummen Jammer trübe vor sich hin geschwiegen,
Die Geister lesend, die vor seine Augen stiegen:
«Verstanden», seufzt er endlich, «Knechtschaft tritt mich an,
Und um die edlen Schöpfersorgen ists getan.»
Behutsam tretend, mit verhaltnem Atemholen,
Stieg er die Treppe nieder ängstlich und verstohlen,
Auf daß nicht etwa einer tückischen Stufe Knarren
Der Werkstatt ihn verzeige oder Schuhescharren.
Hernach zum Führer, trübe, doch ergeben: «Hier!
Tu denn, was deines Amtes ist. Ich folge dir.»
Dann ging es fort talab durch Dunst und Dämmerung.

Am Talesausgang, nach dem letzten Hügelschwung,
Im Augenblicke, als mit einem einzigen Schlag
Das offne Menschenland vor ihren Augen lag,
Erschien am Bergpaß hoch in königlichem Gang
Die Morgensonne, sah sich um und jauchzt und sang:
«Wacht auf! Erhebt euch alle, denen Herz und Augen
Gegeben sind, mit durstigen Zügen Licht zu saugen!
Herbei! Vernehmt die frohe, stolze Neuigkeit:
Die Tür springt auf, das Spiel beginnt, 's ist Lebenszeit!
Wer lügt von ‹Gestern?› Nachtspuk, Traumschreck, Fieberwahn!
Ich sag euch: heute, heut erst fängt der Weltlauf an!
Schaut, wies von Abenteuern glänzt in meinem Schrein!
Nun greife jeder zu, 's ist frei, der Tag ist dein.»

«Freundschaft zum Gruß, du holde Farbenkönigin»,
Warf ihr Prometheus' bittre Wehmut lächelnd hin,
«Vernommen deine frohe Neuigkeit, vernommen!
Mir aber kann dein jauchzend Tageslied nicht frommen;
Denn übertägig sind der Erdenkinder Nöte,
Sie weichen keiner Farbenpracht der Morgenröte.
Ich weiß von Gram und Kummer, weiß von finstern Mächten,
Die schaufeln unterm Lichtschwall durch von Nacht zu Nächten.
Ein Rat, ein Vorschlag: jenen Teil der Gnaden, den
Für mich du gleich den andern huldvoll ausersehn
– Verschwendung! – hol ihn wieder! Geh und übertrag
Ihn, wo am Brunnquell sitzend oder Blütenhag
Du eine Mutter siehst mit gläubigen Liebesblicken
Segen und Heil in ihres Kindes Augen nicken:
Dort ist dein Platz, dort übe deinen Morgenkuß!
Frohlocken wirst du zeitigen und Dankerguß.»

Als sie am hellen Tag durchs ebne Land hierauf
Von dannen zogen mit dem Völkerstraßenlauf,
Kam Werktagvolk vorüber, das zu Markte fuhr
Mit Nahrungsmitteln jeder Gattung und Natur:
Gemüse und Getier, lebendig und zerfleischt,
Was Menschenmägen mögen und die Notdurft heischt.
Kopfschüttelnd aber zu Prometheus wandte sich
Der Führer: «Menschenkind, wie treibst dus wunderlich!
Dem Engelgottes, und was heilig ist und hoch,
Gibst dus als Feind, verstockt und steif, und spottest noch;
Kaum aber daß ein Schlächterwagen karrt vorüber,
So bückst du dich, ehrfürchtig grüßend, tief vornüber:
Und ist doch eitel blutig Fleisch von feilem Tier,
Das nicht Vernunft noch Sprache hat und Beine vier.»
Antwort erstattet ihm Prometheus: «Himmelsknecht!
Was Leib und Blut hat, ist von einerlei Geschlecht.
Zähl deine Beine! Zwei? Bist dessen du so sicher?
Drum Hut ab, schäme dich und sprich bescheidentlicher.»

Am First des Seufzerberges oben, in der Glast
Des freien luftigen Gipfels, als ein Weilchen Rast
Der milde Führer ihm empfahl, des Abschieds wegen,
Den die Verbannten hiezuort zu weinen pflegen,
Entgegnet er erschrocken: «Nichts von Rast und Weile
Auf dieser lichten, heitern Höhe! Eile! eile!
In meiner Werkstatt schläft ein arger Feind. Zwar noch
Scheint er zu schlummern. Preis dem Rettungwunder! Doch
Bereits hör ich sein Atmen. Hurtig! Aus dem Tage!
Eh er, erwachend, mich eräuge und erjage!»

Jenseits den Hang hinunter kamen sie in Bälde
Zu der verlaßnen Gräberstadt im Toten Felde,
Allwo verwitterte geborstne Leichensteine
Vermoderten im Moos verwaister Trauerhaine.
Erschauernd sprach sein Mund: «Ihr stillen, ernsten Leute,
Die einst im Lichte wandelten, wo seid ihr heute?
Könnt ihr mich sehn? Könnt ihr vernehmen überhaupt?
Denn tot sind die Verstorbnen, heißt es, wie man glaubt.»

So er. Antwort erteilt ihm einer ernsten, schönen
Beseelten Stimme fernes, doch verständlich Dröhnen:
«Wer ruft? Wer fragt? Wem gilt die Rede? Wozuland
Im weiten Weltraum ist dein Wohnort und dein Stand?
In welchen Unleib bist dermalen du gegliedert?
Trittst du den Boden? schwebst du durch die Luft gefiedert?»

«Mensch ist mein Name. Wohne auf der harten Erde,
Dem Haus des Todes und der peinlichen Beschwerde.
Wie ich beschaffen? Herz, mit Fleisch darum und Haut;
Paarweis gegliedert, auf zwei Beinen aufgebaut.
Ihr aber, stillt mein wißbegieriges Gelüste,
Ihr, die ihr angekommen an des Raumes Küste,
Ihr, die ihr hinterm Vorhang in die Werkstatt blickt,
Erteilt mir Kunde eurer Einsicht, Aufschluß schickt,
Welch einen Zweck der unablässige Kreiselschwung
Des Weltballs hat und welcherlei Entschuldigung?»

«Ach Jammer!» lautete zurück die Seufzerklage,
«O welch ein Irrtum! welche Wipp- und Schaukelfrage!
Nicht hinterm Vorhang, weder an des Raumes Küsten,
Nicht die geringste Einsicht, die wir besser wüßten,
's ist mühsam, tot zu sein. Schwer wäre zu entscheiden,
Wer zu bedauern unter uns, wer zu beneiden.»

Dann führte sie der Weg zu einer kleinen Brücke.
«Vorsicht!» empfahl der Führer ängstlich. «Hier haust Tücke!
Unschuldig ist an sich die kurze Brücke zwar;
Standfest gebaut, enthält sie keinerlei Gefahr.
Doch weh dem Naseweisen, den die Neugier zwickt,
Daß er durch einen Spalt der Bretterwände blickt!
Denn wessen Fürwitz in die Schlucht des Grabens schaut,
Dem stehn die Augen stille und sein Haar ergraut.
Merk auf! Folg meinem Beispiel! Einen Anlauf schwing,
Die Augen schließ und windgeschwind hinüber spring!»
Und tat, wie er gesagt. Dank seinem flinken Lauf
Taucht er am andern Ufer heil und munter auf.
Prometheus aber sprach: «Ich gehe meinen Schritt,
Der mir gewohnt und eigen ist – genug damit;
Und find ich in der Bretterwand der falschen Brücke
Ein Loch, so schau ich in den Graben durch die Lücke.
Denn was da ist, ist meinem Geistesurteil pflichtig,
Und Wahrheit, lieblich oder schlimm, ist denkenswichtig.»
Und mehr noch als beschlossen tat er. Nicht allein
Daß er nach einer Bretterfuge spähte, nein:
Gewaltsam hob er aus den Nägeln eine Latte,
Bis daß er ein geräumig Auslugfenster hatte.
Dann schickt er seinen Blick zu suchen, was er sehe.
Das sah er – hätt ers lieber nicht gesehen: wehe! –
Die Ecke sah er, woherum aus dieser Welt
Die Straße in die finstre Schlucht der Wahrheit fällt.
Zwar sah er nicht der Wahrheit auf den Grund und Boden,
Allein ein Hauch entstieg der schwarzen Schlucht, ein Broden!
Vor dem Geruch prallt er entsetzt zurück mit Schaudern,
Und konnte doch die Füße nicht vom Flecke zaudern.
Halt! Sieh: was wälzt, was krümmt sich dort? Ich rat vergebens.
O Mitleid! helft mir schrein: das heilige Tier des Lebens!
Wie groß! Wie edel! Welch ein herrlich Formgefüge!
Und «göttlich» sagt der Stempel seiner Mienenzüge.
Doch Jammer! Krank! An Schwären und an Beulen siechts
Und lahm und kraftverlustig auf dem Bauche kriechts.
Indes, was seh ich? Welch ein Greuel rätselhaft!
Es legt sich, bläht sich auf, sein Eingeweide schafft!
«Halt ein! Wehr deinem mörderischen Mutterschoß,
Der Seuche nur gebärt und Unglückskinder bloß!
Unglücklich nicht allein – ach wärs damit getan!
Tollheit und Tobsucht packt sie an und Bosheitwahn,
Daß, während sie gen Himmel um Erlösung kreischen,
Sie eins das andre überfallen und zerfleischen.»

Die Hände vor die Augen breitete vor Scham
Die Göttliche. Aufstöhnend dann gestand ihr Gram:
«Im Schlaf geschahs. Weiß nicht, von welchen Unholds Kuß.
Doch ists geschehn. Genötigt üb ich, was ich muß.»
So stöhnte sie. Hierauf begann sie mit Gebären
Das uferlose Daseinschmerzenmeer zu mehren.
Gewaltsam riß er seine Blicke in die Höhe,
Daß er der fluchbeladnen Wahrheitgruft entflöhe.

Jetzt aber, wie er also in das lichtumblaute,
Von Sonnenglanz verklärte Feld des Himmels schaute,
Erschien ihm aus dem blauen Feld ein leuchtend Bild:
Ein göttlich Antlitz, jung und schön und gnadenmild.
Doch wehe – Mitleid weint mein trauerndes Gemüte –
Er, der Verschollne: der entthronte Gott der Güte!
Das Schmerzenshaupt, aus welchem blutige Tränen flossen,
Gefangen, rings von finstern Mauern eingeschlossen;
Indessen aus der Wiese unterm Kerkerturm
Von flehenden Geschöpfen ein Verzweiflungsturm,
Kopfüber sich verknäuelnd, gipfelnd an der Wand,
Erkletterte des Kerkerfensters Simsenband.
Die schmalen Hände durch des Fenstergitters Enge
Schob peinlich der Gefangne, ob ihm wohl gelänge,
Mit seinen Fingern eine Stirne zu erreichen,
Ein Kosen über einen Scheitel sanft zu streichen.
Und mit den Hilfeschreien des Geschöpfs vereinten
Sich seine Seufzer, die ohnmächtigen Segen weinten.

Demütig vor dem Marterbilde neigte sich
Prometheus, tief sich bückend wiederholentlich.
Dann betet er aus seinem tiefsten Herzensgrunde
In sich hinein, stillschweigend, eine kleine Stunde.
Mit wenigen entschlossnen schleunigen Schritten dann
Befreit er sich aus der verwunschnen Brücke Bann.
Zum Führer, welcher zeternd seinen Namen rief,
Dann, ihn erblickend, angstvoll ihm entgegenlief,
Von Fürwitz und von sträflichem Vermessen sagend
Und seinen starren Blick, sein graues Haar beklagend:
«Zeig, wo beginnst du?» sprach er, «und wo endest du?»
Und da der andre geistlos gaffte, setzt er zu:
«Schätz die Erlaubnis, daß ein Körper uns umschränkt,
Wo vom gesamten Weltleid bloß ein Teil uns kränkt.
Zu groß! Zu weit! Kein Mitleid kann es allumfassen.
Des walte, wers verbrochen oder zugelassen.»

Darauf erklommen sie die wilde Felsenwüste,
Wo weder Wald noch Feld und Flur das Auge grüßte.
Kahles Gebirg: kein Gräslein such, kein Bächlein hoff!
Verdrossen kroch der Pfad durch Klippen rauh und schroff.
In Bälde schlug der Durst, die Drangsal seiner Glieder
Alle Gedanken, jeden Zuck des Geistes nieder,
So daß vom Kopf zu Fuß er nichts mehr von sich wußte,
Als daß ein mühsam Erdgeschöpf er war, das mußte.
Bis von dem ewigen Takt der leidigen Wandermühle
Sogar des Körpers Ungeduld und Peingefühle
Vertaubten. Nunmehr gings im Gleichmaß unablässig
Stunde für Stunde vorwärts, dumpf, gewohnheitsmäßig.

«Genug!» erließ des Führers Ruf. «Schon dämmert Nacht.
Jedwedem Tage seine eigne Mühetracht.
Sieh dort dies gute Wetterhüttlein Schützemich,
Frei offen, eine Bank darin: geh, lagre dich!
Gedeihts, so gönnt ein milder Schlummer dir Vergessen.
Ich halte vor der Hütte Wandelwacht indessen.»

«Ha, ruhen!» stöhnte, während er sich auf die Bank
Hinwarf, sein müder Leichnam. «Endlich! Lob und Dank!»
Und dehnte sich und streckte sich, in welcher Lage
Das harte Lager er am leidlichsten ertrage.
Und als erträglich er gebettet war zuletzt:
Jetzt Erd und Himmel, Leid und Schicksal Unrat jetzt!
Und alle seine Plagen dankt er in das Grab
Des Unbewußtseins mit erlöstem Seufzer ab.

So meint er. Aber Falschheit wohnt im dunklen Reich
Des Unbewußtseins. Mit dem Seufzer stieg zugleich
Ein steinern Standbild hellen Aufscheins ungefragt
Ihm vor die Augen. «Wehe mir! Entdeckt! Erjagt!»
Das Bildnis sprach: «Prometheus, sieh mich an und prüfe!
War ich der Mühe unwert, daß dein Geist mich schüfe?»
Und schaute todestraurig auf den Schöpfer nieder.
Als einzige Antwort kam ein Schmerzensschrei ihm wieder.
Da rief das Herz: «Ists allzuviel, dann ists zuviel!
Zur Körperdrangsal noch Gedankentrauerspiel?
Von allen Seiten Druck und Überschwergewicht!
Obschon im Dulden gut geschult, das kann ich nicht!»
«Das jetzt ist unser Fall», beteuerten die Tränen
Und fingen an zu schwellen und sich auszudehnen.
«Zurück!» verbot Prometheus barsch, «es gilt die Würde!
Zu allen andern Plagen noch der Schande Bürde?
Das will mit meinem Mannesstolz ich kräftig hindern.
Mißhandeln, meinetwegen, aber nicht verkindern!»
Höhnisch entgegneten die Tränen: «Laßt mich lachen!
Stolz! Manneswürde! Solche Mätzchen will er machen!
Meinst du im Ernst, daß solche nichtige Wörtleinlügen
Bei uns, die dich von Kind auf kennen, noch verschlügen?
Was ‹Stolz›? was ‹Mann›? Ein ausgewachsen zittrig Ei,
Mit Blut und Schleim gefüllt. Der Bart tut nichts dabei!
Doch da du gar so wichtig dich als Mensch willst meinen:
Weißt, was des Menschen Vorrecht ist? Statt schreien weinen.
Auf, Schwestern, kommt! Wir wollen uns ein wenig lüften!»
Und stürzten unaufhaltsam aus den Augenschlüften.

«Pfui Schande!» stöhnt er. «Leider ja, sie sagen wahr!
Ein arm Geschöpf, mit Schmerz gefüllt, des Trostes bar.»
Und in sich selbst verkriechend, ohne Widerstand,
Ergab er sich, beschämt, das Antlitz nach der Wand.

 

Ha, welch ein holder Schatten beugt sich über mich!»
Als wie von Mutterarmen fühlt er schmiegend sich
Umschlossen. Zarte Worte, Koselaute drangen
An sein Gehör, die liebreich seinen Namen sangen.
«Wer bist du», stammelte sein Dankesseufzer, «der
Zu dem Verbannten kommt mit gütigem Gruß daher?
Und weiß doch keinen Menschen auf der weiten Welt,
Der es vermag und mir ein Denklein aufbehält.»

«Wer sollt ich», kam zurück, «wer sollt ich anders sein
Als deine eheliche Braut, die Seele dein?
Der du mit brünstigem Gelöbnis dich vermählt
In jener Nacht, von der die Ewigkeit erzählt,
Am Tag der Ungerechtigkeit im Bergwald oben,
Als du zu deiner Göttin gläubig mich erhoben.
Wie wär ich würdig, daß dein Mund mich Freundin hieße,
Wenn ich in deiner schwachen Stunde dich verließe?»

«O Überschwall! O leiht mir Worte! Ach, verzeihe,
Daß ich mit Kniefall nicht den Ehrfurchtzoll dir weihe.
Ich zwing es nicht. Mir ist so schwer, mir ist so trübe.
Die Spannkraft fehlt, womit ich mich vom Lager hübe.
Doch ists auch Wahrheit? Ach, verspürt ich deine Hand,
Auf daß ich hielte deiner Gegenwart ein Pfand!»
Die Hand ihm reichend: «Ruhe!» mahnte sie. «Dem Kranken
Tut andres Not als sich entschuldigen und danken.
Öffne der Freundin deine Klage! Gib, gestehe!»

Er ächzte: «Wunder! Welche Heilkraft deiner Nähe!
Aus deinem Atem, deinem Fingerflüstern quillt
Ein Friede, der des Denkens Plag und Unrast stillt,
Als ob es alles taut und schmölz und alles Böse
Gleich einem Mantel sich von meinen Schultern löse.
Bleibt nichts mehr übrig, was nicht Dank und Demut ist.
O wohl mir, daß du nahe! wohl mir, daß du bist!»

Sie aber, da sie spürte, wie dem Schlummerkranken
Aus ihrer Hand die Finger mehr und mehr entsanken,
Und seinen Atem hörte, wie er ebner floß,
Und sah sein müdes Auge, das sich nickend schloß,
Da zog ein Spieglein heimlich sie aus dem Gewand
Und dreht es ihm vor Augen mit gescheiter Hand,
Daß von des Spiegleins Blendgefecht und Funkelspiel
In goldnem Schein ein Traum den Schlafenden befiel.
Und ihrer Freundesstimme leiser Schlummersang
Begleitete des Traumes sachten Schwebegang.

Ihm träumt, als ob er irgendwo am Erdenende
Vor einer hohen, jähen, starren Bergwand stände.
Unten am Fuß des Berges klafft ein eisern Tor,
Sperrweit geöffnet, und ein Wärter hielt davor.
Jetzt, ächzend unter einer wuchtigen Last Beschwerde,
Kam langen Zuges aus dem Niederland der Erde
Ein müder Menschenhaufe mutlos und gebückt
Die Straße nach dem Felsentor herangerückt.
Und sämtliche auf ihrer schweren Pilgerreise
Sangen desselben Wanderliedes dunkle Weise:
«Ich weiß von einer argen mißgeschaffnen Welt,
Die allem Lebenden Unsegen vorbehält.
Nicht Leben – ein Versuch bloß, der nach Leben ringt,
Ein kläglicher Versuch, der allemal mißlingt.
Mit Not und Drangsal eine knappe Daseinsfrist,
Hernach der Tod, der aller Müh Ergebnis ist.
Ruf nicht: ‹Hie Wert!› Nicht Geist, nicht Gottheit findet Gnade,
Dem stumpfen Weltall ists für nichts und niemand schade.
Und wenn des letzten Menschen letzter Seufzer lischt,
So wechselt Tag und Nacht, und Wind und Regen zischt.
Wir aber wollen nicht umsonst gelitten haben!
Den faulen Leichnam – Spott ihm! – mochtet ihr begraben,
Jedoch die Geistesfrüchte, die mit Angst und Sorgen,
Der Not zum Trotz, in zäher Arbeit wir geborgen,
Hand weg davon! 's ist unsre Habe, unser Schatz.
Kein Königreich des Himmels leistet uns Ersatz.
Mut, Brüder! Festgehalten! Nicht ermatten! Klammert!
's ist unser gutes Eigentum, erlebt, erjammert.»

So sangen sie. Doch vor des Felsentores Pforte
Erscholl des Wärters Lied in mildem Gegenworte:
«Wohin, ihr Leute? Durch wie viele Weltensteppen
Wollt ihr den irdischen Hausrat auf dem Rücken schleppen?
Unselige! Das tauft ihr ‹Schatz› und ‹Habe›? Heißt
Es besser Marter, nennts ein Folterwerkzeug dreist!
Hofft ihr mit Redezier die Wahrheit zu verschönen,
Daß euch die Bürde plagt? So hört doch euer Stöhnen,
Das widerwillig, wie ihr leidet, eingesteht.
Betrachtet eure qualverzerrten Mienen! Seht
Von euren Händen, eurem Rücken, wundgescheuert,
Vom unbarmherzigen Drucke immerfort erneuert
Das Blut in Streifen über eure Kleider rinnen.
Das Blut nicht einzig: Tränentropfen seh ich drinnen.
Befreiung! Glaubet meinem Rate: Ladet ab!
Gebt her! Der Lebensernte Speicher ist das Grab!»

Ob diesen Worten lief ein wild Entrüstungschreien
Und heftig Klagejammern durch die Pilgerreihen.
Dann von dem Rücken auf die Arme lud entweder
Oder vor seine Füße auf den Boden jeder
Seinen geliebten aufgesparten Erdenkram.
Mit schonungsvollen Pflegerhänden aber nahm
Der Wärter eines jeden Ware in Empfang
Und trug sie sorgsam in des Berges Höhlengang.
Kaum aber daß er hinterher das Tor geschlossen,
Lief ein Erlösungsächzen durch die Leidgenossen.
Frei richteten sich auf die Schultern. Staunend sahn
Sie um sich, schauten sich einander fragend an.
Mit leichten Schritten und erhobner Stirn hierauf
Nahmen die Ledigen den Wandel wieder auf.
Doch eh sie sich verzogen um des Berges Rank,
Grüßten sie, rückwärts blickend, mit den Augen Dank.

«Und du?» beschloß der Wärter, vor ihn tretend, «du?
Was schaust du Schwerbeladner unbeteiligt zu?
Gib! Tapfer! Komm, wir wollens zu dem andern legen!
Ein mühsam Handwerk, ungeborne Tote pflegen!»
Und ehe der sich Sträubende den Spruch gebilligt,
Hatt er ihm unversehens, unvoreingewilligt
Den teuren Schatz mit schmeichelnder Gewalt entwunden.
«Diebstahl! Halt ein!» Da war er mit dem Raub verschwunden.
Nicht er allein – das Felsentor, der Berg zugleich,
Das Tal, die Straße, das gesamte Märchenreich.
Blieb nichts mehr übrig als der leere schwarze Raum,
Den Vorhang ziehend über den geschauten Traum.

Im Schlaf aufseufzend, lallt er: «O wie schön, wie leicht,
Wie frei mir wird! Ein Traumspiel hat mir Trost gereicht.
Nicht Trost, der in des Übels Grund und Wurzel trifft:
Doch meine Trauer schreibt jetzt eine größre Schrift.
O Schade! Sehnsucht! Könnt ich einzig einmal noch
Den friedenswunderhaltigen Berg erblicken doch!»

Mit diesem Wort verstummt er. Bis zum andern Mal
Der Schlaf ihm feinen Fingers das Bewußtsein stahl.
Nun setzte wiederum das Spieglein sie in Schwang,
Ihm durch die Augen dichtend Trost im Traumgesang.

Ihm träumt, er stand am selben Berge wie zuvor,
Doch weder Tür und Pförtner mehr, noch Pilgerchor.
Ungastlich war der Berg zu schaun und streng diesmal
Mit seinen fensterlosen Mauern, jäh und kahl.
Doch halt! ists nicht, als ob am First ein Garten grünte?
Ha, wenn mans könnte! Wer zum Aufstieg sich erkühnte!
Ob nicht ein Pfad, ein Stufenzugang sichtbar wird?
Nachdem er lange Zeit umsonst umhergeirrt,
O Wunder, wie von Geisterflügelschwung gehoben,
Sah er mit einem Mal sich auf dem Bergdach oben.
Ha, Überraschung! Gruß dir! Seinem Blick zur Schau
Lag eine unbegrenzte, selige Blumenau,
In deren Mitte einsam ein großmächtiger Baum
Gen Himmel ragte, überschneit mit Blütenschaum.
Unter dem Baum geborgen, in der Zweige Schatten,
Weidet ein Füllen, stämpflings watend in den Matten,
Indes in seiner Nähe, tief im Gras sich bückend,
Ein Knäblein kroch, mit emsigen Fäustchen Blumen pflückend.
Bienen und Schmetterlinge schwärmten allenthalben.
Hoch oben, in den Wolken kreuzend, schwirrten Schwalben.
Ein Bächlein, unversehns aus einem Weidenstrauch
Zum Vorschein strudelnd, stürzt im Sprung herbei: «Ich auch!»
Drob jubelte der Himmel: «Frühling ist vergönnt!
Hei Saft! hei Jugend! Heißa! Lebt, so stark ihr könnt!»

Da trat von unten aus dem Erdental herauf
Zu hinterst überm Wiesenrand ein Wandrer auf,
Greis und gebrechlich, weiß von Haar und Bartgelock.
Die Blumenau betrachtend, pocht er mit dem Stock
Verächtlich lachend auf den Boden: «Freilich wohl:
's ist grün, 's ist lustig. Aber drunter: hört, wie hohl!»
Dann näher schreitend, stupft er mit dem Stock ins Gras:
«Heda, ihr Blumen, sagt doch, fehlt euch nicht etwas?»
Die Blumen schickten ihm zum spöttischen Widerspruch
Um Mund und Nase eine Wolke Wohlgeruch.
Hernach das Rößlein fragt er, ob es nichts entbehre.
Das wieherte, schlug mit dem Hinterhufgewehre
Den Wirbel; dann Galopp, marsch, marsch, sein Schweif ein Besen,
Den Rasen fegend, auf und fort. Fahr wohl! Gewesen.
Das Knäblein folgends fragt er, ob ihm nichts gebreche.
Das gafft erstaunt ihn an, unschlüssig, was es spreche.
Schließlich nach öfterm schwierigen Gedankenschwunge
Genas es und bewies ihm lachend seine Zunge.
«Verschwendung!» schloß er mürrisch, «deine Fragen spare!»
Und mit den Schultern zuckend: «Kleinzeug! Faselware!»
Mit Stirnerunzeln finsteren Gesichts hernach
Stieß er den Baumstamm unsanft mit dem Stock und sprach:
«Doch du, du aber, du, von größerem Geschlecht,
Der tiefer spürt mit seinem Wurzelschlinggeflecht,
Und kannst nicht wegen einer dünnen Ackernarbe,
Notdürftig übertüncht mit einem Anflug Farbe,
Nebst all den andern sonnigen Oberflächenlügen,
Die Wahrheit dir verhehlen und dich selbst betrügen,
Daß du auf Leichenboden fußest, – der du weißt,
Daß deinen Atem Fäulnis und Verwesung speist,
Daß du aus Moder und aus Asche ziehst die Kraft
Und aus verstummtem Jammer saugst den Lebenssaft:
Wie darfst dus, wie erträgst dus, daß du stolz und steil
Den Scheitel in der Sonne schaukelst hoffartgeil,
Mit deinem grünen Rock und Blumenhütlein geckst
Und selbstgefällig alle Glieder von dir streckst?
Besäßest du, geschweige Herz, ein Quentchen Scham,
So würdest du in ernstem, weihevollem Gram
Mit einem Flor von schwarzen Schleiern dich umhenken,
Den Wipfel trauerandachtschwer zu Boden senken
Zum schuldigen Gedächtnisgruß und Liebeszeichen
Denen, die unter dir im Totenbette bleichen.»

Ob dieser Rede schneit ein Blumenblätterregen
Ihm auf den Scheitel aus des Baumes Blütensegen,
Und aus des Wipfels undurchsichtigem Kronenkranz
Jauchzt eines Vogels Lied hellauf im Tönetanz:
«O weh der Torheit! Trauern und Verlust beherzen!
Das Weltleid ist zu groß, du kannst es nicht verschmerzen.
Ich weiß von solchen Wunden, welche nie verschwären,
Von Jammerschreien, welche ewig nicht verjähren!
Hoffst dus hinwegzuklügeln? Wend und dreh es immer:
Es bleibt, und jede Prüfung zeigt das Übel schlimmer.
Willst dus mit Tröstlein salben? Schande dem Vermessen!
Der einzig wahre Weltenheiland heißt: Vergessen.
Laß klagen, laß sie ächzen, die Vergangenheit!
Tagtäglich läutet Gegenwart vom Turm der Zeit.
Und jede Gegenwart hält Raum zu flüchtigem Glücke.
Blick auf: entdeckst im Himmelsblau du eine Lücke?
Blick um dich: siehst du einen Fuß breit, einen Zoll
Der nicht von Leben quölle voll und übervoll?
Halt mit, verjüng dich, wenn die Kraft reicht! kämpf und wirb!
Und kannst dus nicht mehr, überlaß es andern, stirb!»

Am Boden saß der Alte, weinend innerlich,
Den hässigen Stock ins Gras verwerfend, weit von sich.
Und aufwärts mit zurückgebogenem Genick
Im Blätterwalde suchend mit dem blöden Blick:
«Sing weiter», schluchzt er, «laß sie leuchten, laß sie strahlen,
Die seligen Töne, die so süße Strafe zahlen!
Doch zeig, wo bist du? O komm näher, steig hernieder,
Weis deiner Silberschwingen glänzendes Gefieder!»
Und als dann, aus der Wiese steigend, eine Schar
Von Buben kam herbeigetummelt, die am Haar,
Am Bart ihn, an den Ohren übermütig zupften,
Ihn an den Beinen zerrten, hin- und herwärts schupften,
Nickt er zufrieden schmunzelnd Beifall: «Also mehr!
Nur tapfer! Brav! Willkommen! Alle, alle her!»
Und wie im Bad sich dehnend: «Wohl! O wüßtet ihr,
Wie euer Mutwill, euer Neck Erquickung mir!»
Drauf hob er sich vom Boden, und vom Bubenheer
Verfolgt, das ihn verhöhnte, dreister immer mehr,
Wankt er getrost von dannen durch die Frühlingsgassen,
Das Feld den Neuen, Törichten zu überlassen.

Dann nichts mehr. Finsternis und nasse Wangen bloß.
«O meine Seele!» stammelte sein Seufzerstoß,
«Welch eine überirdische Stimme hat im Traum
Mir Trost getönt aus einem Wunderblütenbaum!
Als ob aus einem Sternentor, das sich erschlösse,
Ein Strom von Wohllaut unaufhörlich sich ergösse;
Oder wie wenn mit weltumfassender Gebärde
Ein Gott umarmte das gesamte Leid der Erde.»
Dann plötzlich packt er ihren Arm, gewaltsam, heftig:
«Betrug! Gesteh: in meinem Traum warst du geschäftig!
Die Stimme, die so köstlich mir gesungen – keine
Verstellung nützt, kein Leugnen hilft – das war die deine!
Jetzt aber heisch ich sie. Schenk ehrlich jetzt und frank
– Ich wills, mich dürstet – deines Sanges Labetrank!»

Dem stürmischen Gebet willfahrte gnadenvoll
Die großgemute Freundin. Ihrem Mund entquoll
In langgezognen Tönen ruhesam und leise
Ein tröstend Lied, dem Dürstenden zur Friedensspeise:

«Ein Rätsel sagt von einem Kinde namens Heilig,
Wohnhaft im Überall, doch nirgends heimatweilig.
Ob fremd von Herkunft und von Eltern unbekannt,
Ists allem, was im Leben atmet, stammverwandt.
Wer immer ihm ins Antlitz schaut, der grüßt es ‹du›,
Und Wiedersehen schreit ihm Liebesschluchzer zu.

O weh, du armes Kind, was hast du nur verschuldet,
Dafür dein armes Herz solch grausam Schicksal duldet?
Welch falscher Vogel hat dein gläubig Ohr umgirrt,
Daß du in diesen bösen Weltraum dich verirrt?
War denn in jener Stunde niemand, weder Vater
Noch Mutter, weder Freund noch sorglicher Berater,
Der mit entsetztem Warnruf dich nach hinten rief,
Als dein unkundiger Schritt die Erdenstraße lief?
Zu spät. Nun ists in schnödem Fleisch und Bein gefangen,
Erfährt des Todes Graus, des Lebens Angst und Bangen,
Gefahrumlauert und von Schmerzenspein gequält.
Und wehe! kein Entrinnen, denn der Rückweg fehlt.

Vernimm ein köstlich Wunder: Ob von tausend Toden
Gemordet, blüht von neuem stets sein heiliger Oden;
In jeglicher Verkleidung, jedem andern Ort
Als wo du es vermutest, ist es plötzlich dort.
Und immer ganz, und immer neu und jung und frisch,
Glückmutbeherzt, tatkräftig, geisterfinderisch.
Und ob sies haustief unterm höchsten Berg vergraben,
Sie zwingens nicht. Jawahr, sie werden es nicht haben!
Und weißt du, wenn es, aus des Todes Mörderhaus
Entsprungen, schaudernd flüchtet in die Luft hinaus,
Was es zum ersten tut? Du rätst es nicht: Es lacht.
Das ist es, was mich heilt und was mich fröhlich macht.

Wenn du dem edlen Kind begegnest, fang es, zieh
Das Zappelnde fein säuberlich auf deine Knie!
Streich mit der Hand ihm über seine Stirn und sprich:
‹Sei ernsthaft einen Augenblick! Besinne dich!
Hast du nicht irgendwo in den Gedächtnisfalten
Zuhinterst in dem Winkel eine Spur behalten,
Von wo du hergekommen bist? Denk weit zurück!
Nichts? gar nichts von daheim? Vielleicht vom Weg ein Stück?
Ein Wald etwa? Ein Meilenstein? Ein Namenslaut?›
Gewinn, falls dir gelingt, daß ihm Erinnrung taut;
Gelingt dirs nicht, kannst du kein ernsthaft Wörtlein kaufen,
Jenun, so küß es auf die Stirn und laß es laufen!»

So sang zu ihm die Göttin Seele, sang es leise
Und stetig leiser nach des Schlummersängers Weise.
Bis daß im Lauschen still versonnen und versunken,
Von ihrem Lied begütigt und vom Wohllaut trunken,
Der von dem Mund der Schweigenden im Nachhall tönte,
Ein Lächeln das Gesicht des Schlafenden verschönte.
Zum letzten Male jetzt die hehre Freundin hielt
Das Spieglein ihm vor Augen, hin und her gespielt.

Ihm war im Traum: verschluckt von jenes Berges Bauch
Befänd er sich in einem düstern Kellerschlauch.
Von oben aus dem Erdenlande drang Gemunkel
Durchs Dachgewölb zu ihm hernieder in das Dunkel.
Das Knäblein, meint er, hör er schrein, das Rößlein stampfen,
Des Baumes Wurzeln sah er schaffen, saugen, mampfen.
Sieh dort: aus einer lichtdurchblitzten Deckenritze
Lugt eines wundergierigen Gräsleins Nasenspitze.
Dieweil er, einen Ausgang suchend, längs den Wänden
Im Finstern vorwärts tappte, tastend mit den Händen,
Fühlt er auf eine Treppe plötzlich sich versetzt,
Die, kaum mit einer Zeh darauf getreten, jetzt
Mit ihm in schneller sanfter Geisterschlittenfahrt,
Kopf oben immer und das Gleichgewicht gewahrt,
In schwindelhaften Ränken in die Tiefen rollte,
Endlos, als obs ins Erdenkernhaus gehen sollte.

Und tiefer, tiefer sank er in geschwindem Falle.
Zum Schlusse landet er in einer Wartehalle.
Ringsum an allen Wänden Bänke. Auf den Bänken
Mutlose Völker, die enttäuscht die Köpfe henken;
Aus ihrem trüben Blick des Wahnsinns Schweigen, nur
Betont vom Ticken einer unsichtbaren Uhr.
«Seht, wer ist dieser?» Augen stierten gegen ihn.
Und plötzlich sah er sich umringt, umstürmt, umschrien,
Von bettelnden Bedrängern hin und her geschoben:
«Der du ein Mensch bist, der du kommst von Erden oben,
Sag an: Gilt immer noch die fürchterliche Macht
Des Weltweibs? Dauert noch der Elemente Schlacht?
Der Aufruhrsturm von Gas und Gift? Der wüste Wahn
Der Sterne, blindlings tollend ihre krumme Bahn?
Das blutige Tod- und Lebentrauerspiel auf Erden?
Dämmert kein Zeichen? Will noch nicht Erlösung werden?»
So kams von tausend gierigen Fragen in der Runde,
Und alles hing erwartungbang an seinem Munde.
Da bebten, zitterten die Wände. Rädersaus
Und Eisenstiefelstampf durchdonnerte das Haus.
Still schlichen sie zu ihren Sitzen. Tiefer nickten
Sie mit den Köpfen, und des Uhrwerks Pendel tickten.

Dann schwand der Boden unter ihm zum zweiten Mal
Und stellt ihn ab in einem weiten Leichensaal,
Allwo von Särgen endlos lange Zeilenlängen
Sich reihenweis erstreckten, Ränge hinter Rängen.
Doch seltsam! sind das Särge? Welche Särge hätten
Denn diese sonnigen Farben? welche Totenbetten
Solch einen rosigen Vorhang um des Kissens Pfuhl?
Vor jedem Bette saß auf einem Schemelstuhl
Ein Weib, das feuchten Blicks, das Antlitz glückumsponnen,
Das Lager hütete vergessen und versonnen.
Nein, also fröhlich werden Tote nicht gepflegt!
Was Heimliches sich wohl in diesen Schreinen regt?
Wie er zur nächsten Lagerstätte schritt fürbaß,
Legte das Weib, das auf dem Schemelstuhle saß,
Den Finger an den Mund; dann, auf den Boden knieend,
Den Vorhang teilend und ihn sacht zur Seite ziehend,
Hauchte sie flüsternd, deutend in das Bett hinein,
Ein selig Lächeln um die Lippen: «Das ist mein.»
Als er, dem Zeichen folgend, nach dem Inhalt sah,
Ward er von Staunen überrascht, enttäuscht beinah.
Leer schien zuerst das Bett, gefüllt mit Luft allein.
Höchstens ein Widerglanz als wie von Sonnenschein,
Gewürzt mit Waldesodem und mit Feldgeruch.
Ha! unten auf dem Boden, sieh: ein Bilderbuch!
Nicht Buch: ein Quell, ein Qualm, ein Wanderzug von Bildern.
Nicht Bilder: Lebenskraft verwirklicht, was sie schildern.
Und alles kenn ich ja: die traute Erdenwelt,
Verkleinert zwar, doch pünktlich, wie sie sich verhält:
Die Himmelskuppel, Berg und Tal, die Länderstraße,
Und Tag und Nacht abwechselnd, in verkürztem Maße,
Und jedes gegenständlich wahr in fester Währung.
«Siehst du», traf an sein Ohr die freudige Erklärung,
«Das schlichte Häuslein dort, im Apfelhain verloren,
Das war die Heimat, wo ich ward als Mensch geboren.
Hörst du die Lerche jubeln? Diese hat gesungen,
Wie ich als Kind im Garten bin umhergesprungen.»
Und also weiter, glückgesprächig und beredt.
Und Ähnliches gewahrt er in dem zweiten Bett.
Ein Menschenleben lag darin. So auch im dritten
Und vierten und wohin er immer ging geschritten.

Mit einem Mal geschah ein Wiegenschaukelschwang
Der tausend Särge reihenweis den Saal entlang.
Und zu des Schaukelganges ebenmäßigem Tritt
Erscholl gedämpfter Liederchor im Takt damit:
«Der Glaube hat erzählt, die Hoffnung hats vernommen:
Dereinst am Schluß des Weltlaufs wird die Stunde kommen,
Da wird in einem bessern, edlern Stoff, befreit
Von Schmerz und Qual und roher Körperwirklichkeit,
Das sämtliche vergangne Erdenweltgeschehn
Geläutert und verschönert wieder auferstehn.
Das Fernste stellt sich mit dem Nächsten zu Bereich,
Das Wann umarmt das Wo, das Einst ist Jetzt zugleich.
Die Summe der Jahrtausende wird nachgezählt:
Nichts mangelt, nichts ist klein geschätzt, kein Stäubchen fehlt.
Jedwede Welle, die vom Berg herab in stolzen
Mutvollen Sprüngen jemals in den See geschmolzen,
Der dünnste Schatten, welcher je, wie flüchtig nur,
Im Tanz der Wolken spielte durch die Ackerflur,
Das Weltgedächtnis wird es treulich auferheben.
Wir dürfens schaun und werdens lächelnd rückerleben.»

Also der Chor. Und eine Stimme setzte zu:
«Die Umwelt nicht allein. Dein innig Ich und Du,
Dein ganzes Trachten, deine Hoffnungen und Sorgen,
Die schüchternsten Gedanken, noch so keusch verborgen,
Alle Gefühle, die dein zuckend Herz durchzogen,
Die Traumgesichte, spurlos einst im Raum verflogen,
Gestaltet tritts vor deine Augen, gegenständlich,
Erinnrungglanzverklärt, unsterblich und unendlich.»

Alsdann der Chor: «Und was in seinen Erdentagen
Jeder erlebt, das wollen wir zusammentragen.
Und wird geschehn ein allgemeines Wandelwallen
Der Völker durch die seligen Gedächtnishallen.»
So murmelte zum Schaukelschwang und Wiegentreten
Des Tausendstimmenchores hoffnungsgläubig Beten.

Fürwahr, ein hohes Lied! Auch ich wills freudig singen,
Mitwiegen, meine Erbschaft zu der euren bringen!
Allein wo ist sie, meine Wiege? Nicht zu finden.
Und tappte irr umher im Finstern und im Blinden.
Bis daß er von dem blinden Tappen wirr und wank
Hintaumelnd in des Schlafes tiefsten Grund versank.

Das Spieglein bergend, legte sie zur Segenspende
Ihm auf den Scheitel jetzt die sanften Pflegerhände.
Drob losch ihm das Bewußtsein, Wunsch und Weh enteilten.
Nichts als die Wohltat zweier Hände, die ihn heilten.

 

Und als nun beim Erwachen nüchternasser Tag
Mürrisch und grämlich auf der alten Erde lag
Und ihm zur Seite, an der Stelle, wo zuvor
Die Trösterin gehalten, Einsamkeit ihn fror,
Kein Laut, der seinem Morgengruß Erwidrung gab,
Als seines Wächters Schritt in ewigem Auf und Ab,
Beschattet er sein Auge und verschloß die Sinne,
Auf daß er Rückschau und Erinnerung gewinne.
Dann, nach vollbrachter Andacht, als er, um sich blickend,
Ein Spinnlein wahrnahm, unverwandt am Netze strickend,
Neigt er die Stirn und sprach demütig zu der Spinne:
«Bewundernd bin ich, staunend deines Vorbilds inne.
Du, die von keinem Freund getröstet, ungeliebt
Den winzigen Leichnam einsam durch das Weltall schiebt,
Und klagst doch nicht und leidest mutig, was du mußt,
Dirs nachzutun bin ich mir schamvoll zielbewußt.»
Die beiden Pfosten an der Tür des Hüttleins dann
Faßt er mit feierlicher Handgebärde an:
«Weil du in meiner schwarzen Stunde mich als Gast
Freundlich beherbergt unter deinem Dach und hast
Die Offenbarungwunder meiner heiligen Braut,
Der Göttin Seele, ehrfurchtstumm mit angeschaut,
Zu meinem Hochzeitgotteshaus ernenn ich dich.
Wie schlicht schon und gering von Ansehn äußerlich,
Mag sein, dein schüchtern ewig Lichtlein dauert treuer
Als goldner Tempelleuchter Prunk und künstlich Feuer.»

Dann, aus der Hütte tretend: «Freund, ich bin bereit,
Zu frischer Drangsal freudig, willig und geweiht.»
«Wer bist du?» rief der Führer staunend, ehrfurchtscheu
Und schaut ihn prüfend an, als säh er heut ihn neu:
«O Wunder der Verwandlung! Jünger, schöner scheinst
Du heute mir und größer von Gestalt als einst.
Ach, wie mich schämt vor dir mein garstig Schergenamt,
Zu dem des Engelgottes Urteil mich verdammt!
Den Unheilsboten zeichnet man mit Horn und Huf –
Auf ewige Zeiten bleibt mein Antlitz in Verruf!»
«Nicht Scherge!» hielt Prometheus huldreich ihm entgegen,
«Zwei Wanderbrüder, die dieselbe Straße wegen.
's ist eine Siegesstraße; letzter End blüht Heil.
An ihren Wundern, ihren Gnaden hast du teil.
Und wenn dereinst ich stehe auf des Ruhmes Gipfel,
Dann will ich meines Ehrenmantels einen Zipfel
Dir um die Schulter werfen, dir den Dank zu zahlen.
Du aber wirst mit deinem Führeramte prahlen.»

III

Und als nach langer Wanderschaft und Mühen viel
Sie endlich in den Felsenbruch gelangt ans Ziel,
Da lag sie drohend nun zu seinen Füßen da,
Die unheilvolle Steinbruchstadt, soweit er sah,
In ein Geklüft von schroffen Bergen eingestaucht,
Von Lärm durchtobt, von Dunst und Staubgewölk umraucht.
Und allenthalben von den Stollen zu den Staufen
Ein wimmelndes Getrieb von Arbeitvölkerhaufen,
Gewohnheitmäßig, heut wie gestern, ewig wieder,
Geistlosen Fleißes schleppend die verdroßnen Glieder.
«Mein Beispiel», seufzt er, «schau ich und mein Warnbild hier:
Wie diesen widerfahren, also droht auch mir.
O Furcht! O Zagen! Werd ich knechtisch unterliegen
Gleich ihnen? Werd ichs zäh erdauern und ersiegen?
Ich werds erdauern!» schwur er sich. Dann ernst und schlicht
Zog er durchs Tor mit willensstarker Zuversicht.

Worauf er ohne Murren jedem Dienst genügte,
Den über ihn des Engelgottes Brief verfügte,
Bald in den unterirdischen Höhlenfinsternissen,
Bald an den lichten Steinbruchhalden werkbeflissen.
Wohin jedoch ihn das Gebot der Stunde stieß,
Ein mutig Denkbild stärkt ihn, das ihn nie verließ:
Das Vorglück jenes Tags, an dessen Morgenröte
Der Herrin Ankunft ihm den Siegesgruß entböte.
«O Überschwang! So hoch kann keine Hoffnung reichen!
Einstweilen blick auf meine frommen Demutzeichen:
Wie ärmlich schon und töricht, Liebe bringt sie dar.»
Das Tischlein an der Wand ernannt er zum Altar,
Den er mit buschigem Efeukranzgewind umschlang
Und was sonst Immergrünes wuchs in Hag und Hang.
Des Blumenflors ermangelnd, legt er Tannenzweige,
Harzduftige, vor die Haustürschwelle auf die Steige:
Die redeten durch Kohlendunst und Nässeschimmel
Von Waldesgluthauch unterm blauen Heimathimmel.
«Nun, Gnadenreiche, harr ich deiner Kunft getrost.
Gegrüßt, zu welcher Stunde sie mir sei gelost!»
Am höchsten Horizonte, wo das Zackenband
Der Berge kräuselte den runden Himmelsrand,
Klafft eine glattumgrenzte Lücke, gleich als wäre
Sie künstlich ausgeschnitten mit der scharfen Schere.
«Dort muß es sein. Mir sagts das rätselhafte Licht,
Das an den Felsen sich in Seelenfarben bricht:
Dort, wo die Ahnung dichtet und Gesichte fluten,
Von dorther wird mir Hahnenschrei und Hochzeit guten.»

Statt eines Wächters, schleunig ihn zu wecken, wollte
Der Zufall, daß ihr Kommen nachts geschehen sollte,
Erklügelte ein Weckerwerk sein Kunstverstand.
Und dieses war das Weckerwerk, das er erfand:
Ein Uhrgehäus mit einem Zünglein in der Schwebe,
Leichter als Federkiel, von dünnstem Gasgewebe.
So leicht es ist, vermag es keine Kraft der Welt
– Versuchs! – daß es sich rührt und aus dem Lote fällt.
Kaum aber, daß das Zünglein Geisterodem wittert,
So schwankt es stürmisch hin und her, sein Pendel zittert,
Unsinnig drehen sich verkappte Rädlein viel,
Und plötzlich klingt, hallo! hellauf ein Glockenspiel.

Und jede Nacht beseligt ihn ein trunkner Traum,
Immer das nämliche Gesicht, verändert kaum:
Die Tür flog auf. Ein Schwall von Licht und Feuertanz
Durchleuchtete den Raum in goldnem Glück und Glanz.
Und aus dem Strahlenjubelchor, der ihn umschrie,
Erstand ein herrlich Weib in Helm und Panzer: Sie!
Die Hand erhebend: «Auf, mein Freund, die Zeit ist da!»
Und alsobald – Enthebungwunder, das geschah! –
Fühlt er emporgezückt in freier wonniger Weite
Sich schweben überm Menschenland an ihrer Seite.
Vor ihrem Hochflug schämten sich und duckten sich
Die protzigen Berge, und der Täler Flucht entwich
Angstvoll in alle Winkel, während in den Lüften
Von unsichtbaren Zungen, aus den Wolkenklüften,
Wohin sich immer wendete die stolze Reise,
Ein jubelnd Hochzeitlied erscholl zu ihrem Preise.
Ha, welch ein finstrer Wettersturm braust mir entgegen!
Kein Wettersturm: vom Heimattal ein Adlerregen.
Umringt, gezerrt, gestoßen spürt er sich im Nu.
«Du bist erwartet!» jauchzten sie ihm kreischend zu.

So Nacht für Nacht. Und ob des Traumes Flügelschwung
Ward jeden Morgen er zur Arbeit frisch und jung.

Und wie nun seines harten Handwerks Ungemach
Von Tag zu Tag ihn minder drückte, nach und nach,
Und sein getreuer Fleiß, der Arbeit mehr gewohnt,
Mit Müdigkeit und Schlaf und Hunger ward belohnt:
«Ei, sind denn», meint er, «Aug und Ohren überflüssig?
Und sieh das muntre Denkzeug, flink und urteilschlüssig!
Frischauf!» Und unbeschadet seiner Hände Werke
Entließ er seines Geistes Spürwitz auf die Merke.

Demalso, wenn ihm zukam, in den obern Schichten
Der Steinbruchhalde seine Arbeit zu verrichten,
Sah er sich um und blinzelte gescheit und viel
Und glättet ein Geleise mit dem Pickelstiel.
Locksamen alsdann streut er über das Geleise,
So daß, wenn abends spät nach hergebrachter Weise
Die Himmelsboten erdenmüd und sagenschwer
Vom Menschenlande wegten durch die Luft daher,
Sie, angelockt vom Heugeruch der Fenchelsamen,
Durchs Leiterlein herab an ihm vorüberkamen,
Wobei sie aus der Überbürde dies und das
Verloren, was er diebsgeschwind vom Boden las;
So daß von allem, was im Menschenlande ging,
Er durch die Botenzeitung Wissenschaft empfing.

Schickt ihn hinwieder die Verordnung in die Nächte
Der unterirdischen Höhlengäng und Grubenschächte,
Ließ er ein Wünschelrütlein spielen, das ihm zeigte,
Je, wie es sich verkrümmt und seine Spitze neigte,
Wo unterm Gang des Bodens Urgrundwasserfluten
Sich in der Nähe ließen im Gestein vermuten.
Die Stelle merkt er sich, und zu gelegner Zeit,
Wenn ab und zu des Aufsichtwärters Wachsamkeit
Erlahmte, bohrt er in den harten Felsenstein
Mit unermüdlicher Geduld ein Fensterlein.
Bis schließlich er ein tosendes Geräusch vernahm,
Das aus des Bohrlochs Brunnen ihm zu Ohren kam.
Jetzt, niederknieend, beide Fäuste aufgestemmt,
Lauscht er, die Augen vor, die Lippen zugeklemmt,
Dem ewigen Lied des finstern Urstroms, wie in trägen,
Langatmigen, gewaltigen Wellenschaukelschlägen
Er auf und ab in ruheloser Flut und Ebbe
Bewegte seine schwere, schwarze Wogenschleppe.
Und lernte seine Stimme deuten nach und nach.
Und mehr verschlug ihm, was das Untergrundmeer sprach,
Als hoch am Steinbruchhang die täglichen Berichte
Der Himmelsboten aus der Menschen Weltgeschichte.

 

Einmal, als er mit Karrenschub und Schaufelhub
Zuhinterst in dem Dunkel eines Quergangs grub:
«Halt! Still! Mir war, als ob ein Pochen ich vernähme,
Das jenseits durch den Mauerstein herüber käme.»
Und einer jungen Frauenstimme Schluchzen zagte
Und zögerte, bis weinend sie die Worte wagte:
«Fremdling, geheimnisvoller, der, ob unbekannt
Und ungesehen, mich in seine Nähe bannt,
Den, ob die eifersüchtige Scheidewand uns trennt,
Doch meine Ehrfurcht spürt und mein Verlangen kennt,
Du, dessen Atemhauch von Lieb und Güte singt,
Du, dessen Herzenswärme Erz und Stein durchdringt,
Wirst du ein kindlich gläubig Zutraun, das dir schüchtern
Und bebend naht, mit zürnendem Verweis ernüchtern
Und meinen spröden, niemand noch erschloßnen Klagen
Ein gastlich Ohr und freundlich Mitgefühl versagen?»

«Gesteh mir ohne Rückhalt», sprach er, «edle Maid,
Was heimlich dich bedrückt: denn jedem Gram und Leid
Dient mein Erbarmen zum Altar und heiligen Horte,
Und jedem Kummer öffn ich meine Herzenspforte.»

Beruhigter jetzt tönte ihre Klage: «Wisse:
Im untersten Bereich der tiefsten Finsternisse,
Wo in die trübe, uferlose, ewige Nacht
Niemals ein Lichtstrahl, nie des Tages Auge lacht,
Kein kleinster Vorfall, keines Lebens mutiger Wille
Die kalte, schreckliche, gespenstische Grabesstille
Durchbricht, die mich mit Schlangenschlingen feucht umschleicht,
Kein Ton, kein Laut mein gierig spähend Ohr erreicht
Als von jenseitgen Eisgebirgen, nie geschaut,
Wohin sich meine Ahnung zitternd kaum getraut,
Ein dumpfer Nachhall, wie von stürzenden Lawinen,
Dazwischen ab und zu, aufleuchtend und verschienen,
Ein jäher Wetterblitz aus roten Feuerbäumen,
Von Stürmen redend in durchtobten Weltenräumen –
Dort, nenns Gefängnis, nenns Verließ, nenns Seufzerhaus,
Verzehr ich meinen ewigen Gram jahrein, jahraus,
Einsam die ausgestorbenen hohen Trauerhallen
Durchirrend, bald vom Dach, bald aus den Fenstern allen
Nach meinem Vater, weilend in der Ferne weit,
Mit Tränen rufend – ach, vergebens alle Zeit!
Es sei denn, daß ein unbezwingliches Gelüste,
Des ich mich schäme, dem ich nicht Erklärung wüßte,
Seis Sehnsuchtmunkeln, sei es, daß mich Fürwitz weibt,
Mich auf die Wandrung nach der Erdenhöhe treibt:
Ob durch die Felsendecke aus dem Menschenreiche
Ich ein unachtsam, vorlaut Stimmgeräusch erschleiche
Oder durch eines Zufalls gnädiges Geschick
Vom Himmelsantlitz einen flüchtigen Widerblick.
O glücklicher, beneidenswerter Menschensohn!
Wie mühbeladen euer Erdenwallen schon
Verlaufen mag, wie rauh und unwegsam, wie kurz
Die Strecke zwischen Auferstehn und Todessturz,
Ihr trinkt doch Sonnenschein und atmet Luft und Licht,
Schöpft Liebestrost aus eures Nächsten Angesicht,
Könnt körperlich einander fühlen und berühren
Und, was dein Herz bewegt, im Nebenherzen spüren.
Und euren geisterhaften, stolzen Leidensgang
Beschwingt des Freundschaftpsalms hochhebender Gesang.
Und alles das in Völkerzahl vertausendfältigt!
Das Wort versagt, die Denkkraft beugt sich überwältigt.
Ach, einmal nur am Himmel hoch den Wolkenflug
Gewahren dürfen und der blauen Lüfte Zug!
Ein einzig Mal von Mensch zu Mensch das Du und Ich
Aus zweien Augen lesen – glücklich schätzt ich mich!»

«Wunder geschehen!» fiel der Dulder staunend ein,
«Gemüt und Seele blühen aus dem starren Stein.
Und einer keuschen Trauerquelle Atem flutet
Aus fernen Welteninseln, nie zuvor vermutet.
Allein – getrost! Die Hoffnung sagt mir, daß dereinst
Der Vater, der verlorne, den du jetzt beweinst,
Am guten Tag aus fernem Land den Rückweg finde
Zur jauchzenden Erlösung seinem treuen Kinde.
Dein Erdenheimweh aber und dein Sehnsuchtschrei
Nach Leibgestalt seufzt an der Wirklichkeit vorbei.
So schön sichs ansieht, Sonnenschein und Tageslicht
Reicht nicht zum Glück und stillt die Daseinsnöte nicht.
Und wohl ists köstlich: Ich und Du und Eins in beiden,
's ist unser einzger Trost. Hingegen – uns beneiden!
Ach weh! Im Leibe wandeln, glaube mir, ist schwer.
Und anders als du jubelst, gehts auf Erden her.
Ob hier, ob dort im Weltraum: Leiden überall.
Uns ist Vernichtung, Nacht und Einsamkeit dein Fall.
Ists heilbar, oder ewig unabänderlich?
Einstweilen lastet jedem seine Tracht für sich.
Und nun empfang zum Abschied, eh ich meinen Fuß
Gezwungen weiter setze, ein Gelübd zum Gruß:
Sooft mit blutendem, ohnmächtigem Erbarmen
Meine Gedanken alles Lebende umarmen,
Will meine Wehmut ein besonder Angedenken
Der fremden Freundin aus dem finstern Lande schenken.»
«Halt ein! Nicht also!» schrie die Jungfrau überlaut,
«Sprich nicht von Abschied, holder Freund und Tröster traut!
Laß deiner Rede Balsam wiederholt mir frommen!
Laß öfters, laß uns Tag für Tag zusammenkommen!»
Und drängt und fleht und bettelte und ließ nicht nach,
Bis daß er schließlich, gern gezwungen, ihr entsprach.
«Schmach meiner Torheit!» rief er. «Weiß ich doch gewiß,
Je enger der Verwuchs, des schmerzlicher der Riß.»

Doch blieb dabei. Sooft die Möglichkeit ihm sonnte,
Daß er den Dienst an diese Stelle lenken konnte,
So grüßt er einen Ruf und pochte an die Mauer,
Wo schon die Freundin drüben harrte auf der Lauer.
Hierauf genossen Eintracht und Zusammenhang
In traulichem Gespräch sie Seligkeiten lang:
Er, Abenteuer aus dem Erdenland berichtend,
Und sie, die Mär der Liebe aus dem Herzen dichtend.
Dann später hatten sie der Rede nicht mehr Not –
Genug, daß eins dem andern Gegenwart entbot –
Auch keines Pochens mehr und Rufs von Mund zu Munde:
Die Atemwärme meldete die Ankunftstunde.
So schwiegen sie sich Trost und Glück zu durch die Wand,
Gleich einem Brautpaar, das sich anschweigt Hand in Hand.

Bis eines bösen Tags, bei seiner Wiederkehr,
Sein Gruß, sein Fingermahnen blieben antwortleer.
Und also fort in alle Zukunft, immer wieder.
Die Stirne neigt er, schlug die trüben Blicke nieder:
«Ich wußt es ja, kein Glück auf Erden findet Dauer.
Und aller Lieb und Freundschaft letztes Wort heißt: Trauer.
Dahin! Und mir? Was bleibt? Ein Riß und eine Lücke,
Aus dem Erinnrungskelch die durstigen bittern Schlücke.
Kein Nachsehn holt mirs wieder, keine Seufzer nützen.
Auf denn! Und Mut! Die eigne Mühelast zu stützen.»

 

Doch wie nun nach der Erdenzeitenläufte Brauch
Der Stunden leiser Reisezug, wie langsam auch,
Beharrlich, ohne Rast und Anhalt, ewig gleich
Vorüberwallte aus der Gegenwart Bereich:
«Wie lange?» meint er eines Abends so für sich
Ohn Anlaß und Verdacht, «wie lange eigentlich,
Was glaubst du, mags seit damals her sein ungefähr,
Daß ich in diese finstern Gründe kam hieher?»
Und schaute nach den Bergen hinter sich, nach oben,
Die abgelaufne Zeitenlänge zu erproben.
Pfui, Überraschung, die ihm da ins Antlitz schlug:
Ein unabsehbar langer, schwarzer Trauerzug
Von abgelebten Stunden, die mit müden Schritten
Von Berg zu Berg jenseits in die Versenkung glitten;
Mit vorwurfsvollen Blicken schauten sie zurück,
Und jede trug von ihm davon ein schmerzlich Stück.
Den Zug als Herrscher führt ein Dutzend greiser Jahre,
Zeigend auf eine florverhängte Leichenbahre.
Sein Atem stockte, geistlos staunend stand er da
Mit galligem Mut, gleich einem, dem Betrug geschah.
«Ich meinte», murmelt er verstört nach einer Weile,
«Ich meinte, meine Herrin hätte größre Eile.»
Und stierte trüb und traurig blindlings vor sich hin.
«Was ist des jahrelangen Säumens Zweck und Sinn?»
Und plötzlich überfiel ihn Wahnsinn und Entsetzen.
Nach Hause jagt ihn seiner Pulse fiebrisch Hetzen.
Und Rettung suchend, heiß umschlingend den Altar,
Bracht er der Herrin gläubig seinen Kummer dar:
«Zu Hilfe! Leih mir Beistand! Unheil will geschehen!
Nicht meine Wohlfahrt gilts, mißdeute nicht mein Flehen:
Magst und begehrst du, daß ich tatenlos ersticke,
Ich hadre nicht. Befiehl! Ein Wort, ein Zeichen schicke!
Doch da dein trotziger Spruch, in heiligem Zorn geboren,
Mich hat zur Tat für deines Namens Ruhm erkoren,
Bedenke, daß ich sterblich bin! Nicht unbegrenzt
Ist meine rüstige Manneskraft. Nicht ewig glänzt
Der Blick in meinem Aug, der Mut in meiner Brust.
Und nach des Lebens Mitte lebt sichs mit Verlust.
Wärs die Gelegenheit, worauf dein Zaudern harrt?
Wohlan, jetzt ist sie da! Denn heut ist Gegenwart.
Greif zu! Ha, vor dem Fenster sieh die Gleisnerinnen,
Die schlimmgesinnten, diebischen Landstreicherinnen
Mit ihrem falschen Blick: die Stunden und Minuten,
Wie sie im tückischen Dauerlauf sich emsig sputen!
Mit Schleichen hoffen sie den Vorrang zu erstreiten.
Spring auf! Wirf sie kopfüber! Komm sie überreiten!»

Allein kein Flehen konnte ihren Sinn erweichen,
Kein kleinster Wink ward ihm zu teil, kein Lebenszeichen;
Indes das Volk der flüchtigen Stunden heut wie ehe
Befolgte seine ewige Bahn auf leiser Zehe.

Doch täglich späht er nach dem Paß der Bergeslücke,
Ob heute nicht vielleicht ihm ihre Ankunft glücke.
Und Nacht für Nacht, von heißem Hoffnungsblitz geweckt,
Tappt er, an allen Gliedern zitternd, schweißbedeckt,
Hastig zum Uhrgehäus, ob sich kein Rädlein rege,
Und holt ein Licht, ob nicht das Zünglein sich bewege,
Und stupft am Weckerwerk und schupft es anders um
– «Vielleicht stehts falsch!» – und stellt es schief und kopfkehrum;
Doch alle seine Handgeschäfte schlossen kläglich,
Das Zünglein schaut ihm spöttisch zu, blieb unbeweglich.

Danach begab sich, als beim Dämmerabendschein
Die Himmelsboten, durch das Felsenleiterlein
Heruntersteigend, ihre fleißige Weiterreise
Verfolgten auf dem vorgezeichneten Geleise,
Daß er bemerkte, wie der Boten einer ihn
Mit stummem Mitleid ansah im Vorüberziehn,
Gleich einem, der mit schlimmer Nachricht kommt gefahren
Und weiß nicht: will ers melden, will ers ihm ersparen.
«Halt ein und steh! Was soll das Mitleid? Kennst du mich?»
Der Bote sprach: «Prometheus, ja, ich kenne dich
Und weiß Bescheid von deinem Haus und Heimattal.
Ach, alles sieht jetzt anders aus als dazumal!
Nenns nicht mehr Heimat, eher nenns Begräbnisstätte.
Und wenn mich deine Frage nicht gezwungen hätte –»

«Hat ein verderblich jäh Ereignis unerhört,
Ein Feuerbrand, ein Felsensturz mein Haus zerstört?»

«Dein Haus, das steht. Nun ja. Doch schief gedrückt vom Sturm.
Die Fenster fehlen. In den Balken bohrt der Wurm.
Die Quelle hinterm Haus verschüttet und verdorben.
Die Adler fortgezogen oder ausgestorben.
Dir zur Entschädigung dafür und zum Ersatz
Finden auf deinem Dache Krähenschwärme Platz,
Die hoch zu Thron aus ihren überlegnen Nestern
Dein Angedenken schmähn und deinen Namen lästern.»

«Doch innen, in der Werkstatt, hast du nichts erblickt?
Hat niemand einen Gruß für mich dir zugenickt?
Ein steinern Standbild mein ich, zur Verdeutlichung.
Ists unbeschädigt? ohne Riß und Spaltensprung?»

«Nicht Stein, nicht Standbild; eine wüste Wolke Staub,
Den Spinnen zum Ergötzen und dem Wind zum Raub.
Und wär es doch das Schlimmste –» Plötzlich unterbrach
Der Bote den Bericht. Allein der Dulder sprach:
«Fahr fort! Meld auch das Schlimmste! Gib die Wahrheit laut!»

«Jenun, da dus befiehlst. Doch schad um dich! Mir graut.
Um Mitternacht, wenn die Gespenster auferscheinen,
Enthebt sich aus der Luft ein geisterhaftes Weinen,
Umkreist dein Haus, den Büschen und dem Waldsaum nach,
Sucht in den Felsen, sucht im Garten, sucht am Bach
Und klagt: ‹Wer ists, wer hat den Glauben mir geraubt,
Den ich an seinen Wert und seinen Sieg geglaubt?
O Heimweh! Seiner Seele wonnesam Geflüster
Unter dem Lindenbaum, am Bach, im Talesdüster!
Ein Flüstern, das ihm Freimut auf die Stirne malte
Und Siegeszuversicht, die aus dem Blick ihm strahlte.
Und war doch alles eitel Trug und Gaukelkunst,
Ein Wölklein Morgenrot, verblaßt im Nebeldunst.
Der Wahrheit Stimme sagt zu mir: Schau hin, wo ist
Er jetzt, dein Held, nach eines Menschenalters Frist?
Nein, sieh nicht aufwärts nach dem Schloßberg, viel zu hoch!
Nicht nach der Menschenstadt und Allmend! Tiefer noch:
Sieh in den Abzuggraben, wo der Auswurf fault –
Viel, wenn Verachtung den vergeßnen Namen mault …
Doch ach, wie ist die Wahrheit grausam öd und leer!
Und wie das Leben ohne Ziel und Hoffnung schwer!
Ich weiß nichts weiter als mein Tränenüberfließen
Mit meinem Herzhauch auf den harten Stein zu gießen,
Gleich einem Tierlein, das vom Schlächterstahl verblutet
Und dem der kalte Weltraum in die Adern flutet.
Doch fragt man euch: Wie heißt der herbste Schmerz auf Erden?
So sagt: Im Liebsten, was man hat, enttäuscht zu werden!›
Und also fort mit Weinen. Aber jetzt, o Graus!
Huscht ein unheimlich Hündlein aus dem Haus heraus,
Scharrt, mit den Pfoten kratzend, in dem Gartengrund.
Gewinsel unterm Boden gibt ihm Antwort kund.
Die Erde hebt sich, Maulwurfshügeln ähnlich. Rücken
Erscheinen, die sich mühsam durch die Erde drücken,
Und junge Hündlein kommen aus dem Grab gekrochen.
Doch Jammer, ihre Hälse klaffen, wundgestochen!
Erbärmlich ihrer kleinen Stimmen Schmerzgewimmer!
Ergreifend, wie die treue Hündleinmutter immer
Von neuem liebevoll bald dies bald jenes Junge
Zärtlich beleckt, ob sie es heile mit der Zunge!»

«Und hat sie nicht gesagt: ‹Ihr lieben Kindlein mein,
Gern hat ers nicht getan, allein es mußte sein›?»

«Das hat sie nicht. Am Gartenzaun hochaufgeschnellt.
Hat sie ein gräßlich Heulen in die Nacht gebellt:
‹Daß dus getan, die Tat hatt ich dir nicht verargt.
Hab ich mit Opfern niemals doch für dich gekargt.
Doch daß dus schandvergebens, ohne Nutz und Frucht
Verübt, das ists, wofür dir meine Rache flucht!›»

So meldete der Unheilsbote. Alsdann schied
Er schnell mit flüchtigem Gruß und reihte sich ins Glied.

Der Dulder aber, kaum nach Haus gekommen, raffte
Die Uhr vom Tisch und trat sie mit den Füßen, schaffte
Die Tannenzweige weg, hierauf mit einer Decke
Verhüllt er den Altar und schob ihn in die Ecke.
Und jetzt zu einem angstbeseelten Notfallwerke
Versammelt er die Geisteskraft und Willensstärke.
Das war das Notfallwerk: Der Helm der Unvernunft,
Darunter kein Gedanke finde Unterkunft;
Mit einem Lichtschirm, daß er bloß die nächste Nähe,
Nicht übern Tag hinüber nach der Zukunft sehe,
Und einem Schild, vom Hinterkopfe zum Genick,
Von Eisenblech, mit Tuch gepolstert doppeltdick,
Auf daß kein hinterlistig Rückerinnrungbild
Ihn überschleichen könne durch den Nackenschild.
Das Werk, seis wohl, seis übel, endlich ausgeglückt,
Des Schutzhelms Folterkappe auf die Stirn gedrückt,
Seufzt er getröstet: «Wohl mir! Über Jahr um Jahr
Lern ich vergessen, daß ich einst Prometheus war.»


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