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Der Dichter des Olympischen Frühlings ist in all seiner Freiheit ein echter Sohn unserer Eidgenossenschaft gewesen. Sein Ursprung reicht in die letzten Jahre zurück, die der Gründung des neuen Bundesstaates vorangegangen. Und so eigenwillig sein Weg gewesen, so weit er ihn in fremde Welt geführt: Spitteler ist seiner Heimat in seiner großen Art treu geblieben und hat an seinem Orte mächtig dazu beigetragen, daß der Bund den Sturm des ersten Weltkrieges überstand.
«Als ich mich mit siebzehn Jahren der Poesie verschwor, wollte ich nicht ein nationaler, sondern ein europäischer Dichter werden.» So sprach der Greis auf der Höhe des Lebens. Sein Herz hat ihn nicht betrogen. Sein Werk hat es bewiesen, und der Nobelpreis fügte das Zeichen übervölkischer Geltung zum Dank des Vaterlandes. Aber er hat auch erfahren, was dem ursprünglichen Geiste die freie Gemeinschaft bedeutet.
In den großen Bernern wie Haller und Gotthelf lebt Bürgergeist und Bürgerwille unmittelbar. Auch die Zürcher Pestalozzi und Keller schaffen aus dem Volke für das Volk. Aber neben ihnen stehen Geßner, Leuthold, Conrad Ferdinand Meyer. Da blüht der Rosengarten: Kunst, der es genug ist, Kunst zu sein, die zur Vollendung reift und in ihr zum Gleichnis hohen Lebens wird. Aus den Städten am Rhein sind uns die Meister monumentaler Historie gekommen: Johannes Müller von Schaffhausen, Jacob Burckhardt von Basel: in beiden lebt große Geschichte als großes Bild, dem einen als mächtige Lehre, dem andern als leuchtende Gestalt, die in sich ihre Ruhe gefunden.
Ihnen tritt in Spitteler der Sohn des Basellandes gegenüber. Als «kleine private Weltabschnitte» hat er den Grundtypus seiner heimatlichen Waldhügel verstanden. Aber in der Heimat erwacht die Ahnung der großen Welt: ihr Dichter wird der Gestalter glühender Erdenschönheit, abgrundtiefen Weltleides, unbedingten Mannesmutes.
«Im Anfang war der Traum»: er ist dem Dichter die Heimat der Seele.»
Mit Schlaf und Traum läßt Spitteler die Geschichte seines Lebens beginnen: aus dem wogenden Seelenmeer steigen immerfort die leuchtenden Gestalten seiner Poesie. Er spricht nicht von den Ahnen, die einst beim Spital am obern Hauenstein gehaust: aber seine Schmetterlinge schwärmen um den Berg. Er redet vom Vater, mit dem er wie den Namen so den eisernen Willen und das stürmische Temperament teilt: bald erfährt er, daß ihm selber die innere Welt bedeuten wird, was jenem die sichtbare gewesen und geblieben. So ist die Jugend vom Kampf gegen Vater und Vaterwelt erfüllt, bis der Mann der nüchternen Tüchtigkeit unter die Erde gesunken ist und der Sohn sein Bild ehrerbietig zu hüten beginnt.
Seit dem sechzehnten Jahrhundert hatten die Spitteler in Bennwil gelebt. Schon des Dichters Großvater, heftigen Geblütes, war weit in die Welt gefahren; der Vater, 1809 in Basel geboren, ward früh vom Befreiungskampf der radikalen Landschäftler ergriffen, stritt und siegte mit, ward Statthalter der neuen Regierung des ländlichen Halbkantons und half in der Tagsatzung den Krieg gegen den Sonderbund beschließen. Zuvor hatte er in zweiter Ehe Anna Dorothea Brodbeck aus einem führenden Liestaler Geschlechte heimgeführt: sie schenkte ihm, noch nicht achtzehn Jahre alt, am 24. April 1845 seinen ersten Sohn.
Der Knabe führt von Anfang an ein Sonderleben. Er liebt die Landschaft, in der er zum Licht erwacht, über alles: die milde Höhenwelt des Jura engt nicht wie die Alpen den Himmel ein. Sonnig, klar, windstill, warm heißt er sein Baselland: märchenhaft schön. Nie hat er die Poesie ihrer Schluchten, die Hagrosenlandschaft im herbstlichen Sonnennebel vergessen. Sehnsuchtsreich scheint ihm die Luft: voll Ahnung und Mut. Gesunde, hellklare Reisestimmung flößt sie ihm ein.
Lang aber sind seine wahren Ereignisse die Seligkeiten und Erschütterungen seines Herzens: das Rauschen des ersten Regens, des nahen Stroms, die Überraschung des frühsten Gebildes eigner Phantasie, des ersten Weltgrauens. Noch leuchten mütterliche Güte, väterlicher Frohmut, großmütterlicher Trost. Aber bald versinkt das erste Paradies. Der Vater zieht als eidgenössischer Staatskassier nach Bern. Siebeneinhalb Jahre dauert der Aufenthalt in der neuen Bundesstadt. Vor allem der alten Sulgenegg gedenkt der Dichter bis in die letzten Tage mit großer Wärme: so glücklich wie in jenem edelschönen Winter sei er bis zur russischen Reise nie mehr gewesen. Allee und Hof, Münsterglocken, Farbenschachteln und «Regimentstochter»: kunterbunt hält die Erinnerung all die Herrlichkeiten fest. Dann folgt die Schule. Die «Autobiographie des Unbewußten», für diese Jahre leider nur entworfen, gelangt zum Einbruch bewußter Welt in das selige Traumland. Im Kleinen ereignet sich, was das Leben im Großen nicht müde wird zu wiederholen: Klage über Fron und Tyrannei, Auflehnung gegen Zwang und fremde Ordnung, nach und nach aber Verständnis, Aufleuchten des Sinnes, Aufatmen in Werkkraft und Werkwillen, endlich Dank und Segen.
Wie der Vater auf seine Bundesstelle verzichtet, nach Liestal heimzieht, dort Bürger, Oberrichter wird und zugleich einen Tuchladen führt, kehrt auch der Sohn mit Mutter und Bruder in die erste Heimat zurück. Erst wohnt er eine Weile als Schüler des Gymnasiums in der alten Stadt am Rhein; später besucht er von Liestal aus die Basler Gewerbeschule, dann das Pädagogium. Wilhelm Wackernagel und Jacob Burckhardt sind unter den Bildnern seiner Jugend: diese eigen wüchsigen Gelehrten sind nach den «gutartigen» die großartigen Lehrer.
Unerwartet öffnet sich nach dem Kinder- das Knabenparadies. Wie es versinkt, ist der Dichter geboren.
Die Jahre 1857-62 sind dem reifen Mann als der Kern seines Lebens erschienen: im «Entscheidenden Jahr» hat er sie selber dargestellt. Da beginnt er nach dem Sinn des Seins zu forschen. Da ergreift, beglückt, quält ihn die erste Sehnsucht des Herzens. Da wählt er sein Ziel.
Ins zwölfte Lebensjahr reicht die «hohe Liebe» zu der Tochter des Liestaler Pfarrers Otto Widmann, der aus einem österreichischen Mönch zum Schweizer Geistlichen geworden war und mit Beethovens letztem Flügel ein heiteres Gemüt und weltoffenes Wesen in die Landstadt gebracht hatte. Der Kadett findet Anna überirdisch schön; sein Künstlerauge trinkt das Bild, und fünf Jahre lang ist sie das Hauptthema seiner Herzensgedanken. Aus seiner ersten Liebe quillt ihm seine «Religion der Schönheit». Herzensheimat wird ihm das Pfarrhaus, ein Augenblick in seinen hellen Stuben ein Schluck Paradies. Anna nennt ihn Carlo dolce: sie möchte ihn zum Künstler machen, und er glaubt, sie allein vermöchte das. Ist sie nicht das lebendige Märchen mitten in herber Heimat?
Annas Bruder Josef Victor, frühreif, formsicher und liebenswürdig, wird des Jüngern und Schwerern Freund und ist es in unvergleichlicher Selbstlosigkeit ein halbes Jahrhundert lang geblieben. Beide versenken sich in Jean Pauls Titan, den Anna gelesen: ein romantischer Nachsommer in längst gewandelter Welt.
Aber die Mächte der neuen Zeit werden bald fühlbar. In Spitteler ringen sie früher und tiefer als in dem heitern Freunde. Annas Vater, der ihn als erstes Liestaler Kind getauft, hat ihn in seinem Haus unterwiesen. Die sorgsame Nachschrift des Knaben bricht gegen Ende jäh ab: bei der Lehre vom Abendmahl bannt ihn die Drohung des Paulus, wer unwürdig esse oder trinke, sei schuldig am Leib und Blut des Herrn: er esse und trinke sich selber zum Gericht. Angst und Seelenqual kommt über ihn, dann, wie nichts geschieht, Grimm und Groll, als sei er betrogen worden.
Er wendet sich von der Welt ab, zu der ihn die Unterweisung hatte führen wollen. Aber bei der nächsten Weihnacht erwähnt das Tagebuch wieder die «Vorbereitung zum heiligen Abendmahl» und die Teilnahme an der Feier. So laut durch all die folgenden Jahre der Kampf gegen die christliche Lehre schallt: die Krise dauert doch ein volles Jahrzehnt. Mehr als die Hälfte dieser Zeit gilt dem Studium der Theologie. Erst vor der eignen Kanzel folgt die Entscheidung: da wählt der Dichter für immer andre Wege.
Deutlicher als im Tagebuch der ersten Liebeszeit wird der wachsende Gegensatz in den «autodoxen» Sprüchen, die pantheistischen Charakter tragen und das cholerische Pathos verraten; nichts ist ihm unmöglich, und jeder wahre Gedanke wird Wille.
Als Künstler, als Denker, als Seher möchte der Jüngling sein inneres Reich retten. Wie läßt sich Gotteinheit und Gottinnigkeit angesichts der teuflischen Gewalt wahren, die die gute überwachsen will? Orpheus horcht auf die Seele und blickt ins Herz der Ewigkeit. Der Seher ist stärker als der Denker, und die Rätsel des Urgrundes wecken den Willen zur Geistesgröße. Sinkt die harmonische Welt in sich zusammen, so quillt im Willen allein noch Zuversicht.
Die hohe Liebe, im Leben unerfüllt, weckt die schöpferische Kraft. Die innere Welt will erfüllen, was die sichtbare versagt. Der geborne Künstler liebt Musik und Malerei. Aber er glaubt sie nicht erobern zu können. Da ergreift er mit jähem Entschluß die Dichtung. Er fühlt sie als fremd: aber wie bewundert die Geliebte den Bruder um ihretwillen! Mag der Wille wider alle Wahrscheinlichkeit Wahnsinn sein: nichts ist ja unmöglich. So greift er entschlossen in die blaue Luft. Unbewußter Sinn erfüllt sich. Denn der Dichter mußte wollen, was er zu wollen beschloß. Das Bewußte, sagt er im Alter zu dem Jugendfreunde, ist uns eben bewußter als das Unbewußte. In dunkler Ahnung bricht sich der Genius Bahn: der Quell steigt aus der Tiefe und drängt ans Licht. Der «Saul», sein Willensdrama, das zum Gleichnis königlichen Trotzes hätte werden sollen, ist nie vollendet worden. Die Folge loser Thesen, «Würde des Menschen» geheißen, ist zwar kein «System», zeigt aber, wo die Triebkraft dieses polemischen Humanismus pulst. Christus ist der Mensch, der sich seiner Göttlichkeit bewußt geworden, und wie bei Novalis ist dem echt Religiösen nichts Sünde, weil ja alles aus dem Glauben geschieht. Aber schon dröhnt aus dem tragischen Grunde drohend die Weltenklage herauf. Der Widerspruch wird dauern: bald wird er nicht mehr pantheistisch, sondern pessimistisch lauten.
Ein weiter Weg führt vom Entschluß des Jünglings zur Erfüllung auf der Höhe des Lebens. Sie ist kein Drama, sondern ein Epos: kein Saul, sondern sein Prometheus. Noch erwartet der Dichter wie die Flut und Flucht der Bilder so auch ihre Dauerform im Wort von der unmittelbaren Eingebung. Spät geht ihm auf, daß Dichtung Kunst ist, Kunst aber erworben, geübt, erobert sein will.
Unterdessen wird das Dasein zum Doppelleben. Als ungeheure Spannung wird es erfahren. Der Vater möchte den Sohn von der Bahn der schönen Geister heimlocken und ihn seine ernste Straße führen. Er sieht ihn wirklich in Basel das Studium der Rechte beginnen. Aber noch vor dem zwanzigsten Jahr erreicht die Krise den höchsten Grad. Was bisher sein Glück gewesen, scheint sich vereint wider ihn zu wenden. Eugenia hatte er seine junge Tante Sophie Brodbeck genannt, die frühverwitwet mit ihren Kindern aus Indien heimgekehrt war, ihn als Neffen des entschwundnen Gemahls in ihrer Vaterstadt Winterthur empfing, ihm die Welt Bachs und Beethovens erschloß, ihn verstand, erquickte, ermutigte. Wie er sich von schwerer Krankheit erhebt und erholt, ist auf einmal die Frau, die er als «guten Genius» seines Lebens gepriesen, die Braut des Freundes, den er selbst ihr zugeführt und der indessen Kandidat des geistlichen Amtes geworden. Die heftige Erschütterung mitten im Kampf um sein Dichtertum reift den langgehegten Plan: er flieht aus dem Vaterhaus. Seine Seele, die sein Werk von ihm fordert, will er um jeden Preis retten. Wochenlang irrt er ziellos durch den frühen Winter. In Luzern nehmen junge Freunde den Wanderer auf, wie er aus den Bergen kommt und todmüde über die alte Brücke einzieht. Die Namen Rüegger und Vogel bleiben seinem dankbaren Gedächtnis eingegraben. Wie der Orpheus stammt der Dionysos des Olympischen Frühlings aus des Dichters eigenstem Leben. Er zeigt auch, daß sich der Poet noch wesentlich als Prophet verstand.
Die Eltern wissen um seine Zuflucht. Im folgenden Herbst kehrt er heim. Der Vater ist einverstanden, daß der Sohn Theologie studiere. Weit entfernt, ihn dazu zwingen zu wollen, begreift er kaum seinen Wunsch und warnt vor den Folgen. Aber wenn der Träumer nur arbeitet, mag er die Bahn des Freundes statt die des Vaters gehen. Spitteler hat sich später nur an den Wunsch erinnert, «den Gegner kennen zu lernen». Aber er hat Jahre lang alles getan, um Pfarrer zu werden, so gewiß er sich im Innersten Dichter hieß. Das Pfarrhausidyll wirkt mit, wohl auch die Verwandtschaft des geistlichen und des geistigen Menschen, ferner die Frage, wie die Kunst zum täglichen Brote führe, endlich der Wunsch, den Eltern gerecht zu werden und zugleich die eigentliche Sendung zu retten. Der Beruf soll die Berufung erfüllen helfen. Wie der Jüngling den Kampf der Zeit in der eignen Brust immer mächtiger ausbrechen fühlt, möchte er mit einem Teil der Seele das Christentum als einen Teil der Wahrheit lehren und üben. Aber was er vom Dichter fordert, gilt von allem Geiste: was geschieht, muß vom ganzen Menschen geschehen.
Der freie Geist wendet sich in Zürich und in Heidelberg zur freien Theologie. Was er sucht, findet er freilich überall vorausgesetzt. Ihm steht das Wesen des Christentums selber in Frage. Die Ethik Alexander Schweizers scheint ihm zu schematisch. Stärker als die Tradition Schleiermachers ergreift ihn zunächst die Hegels. Biedermanns junghegelsche Dogmatik läßt ihn den «ersten großen Schritt ins Christentum» tun. Neue Reformation scheint möglich, Arbeit an wirklicher Zukunft, Glaube an sinnvolle Geschichte der Menschheit. In Heidelberg, wo der stärkste menschliche Einfluß von Henriette Feuerbach ausgeht, stehen dann sprachliche Studien bei Hitzig und Köchly voran: Genesis und Horaz weisen in alttestamentliche und klassische, religiöse und poetische Welt.
Das Zürcher Tagebuch war «Das heilige Buch» überschrieben, das von Heidelberg heißt «Homo vir». «Sich selbst das Maß»: das Motto ist Bekenntnis und Forderung zugleich. Allmählich wird die Frage brennend, wie Amt und Freiheit sich vereinigen lassen. Ist «kein Heil als in höchster Subjektivität», wie läßt sich dann die «Akkommodation» herstellen, ohne die der Wunsch der Eltern, als Notwendigkeit eingesehen, nicht zu erfüllen ist? Spitteler prüft sich und entschließt sich zur vollen Offenheit vor der Behörde und zum praktischen Versuch.
Nachdem ein solcher vorerst in Baselland mißlungen, setzt der Dichter nochmals an, studiert drei Semester in Basel, wo seine Lehrer, von dem radikalen jungen Overbeck abgesehen, der theologischen Mitte und der Rechten angehören; er sucht einen Begriff sittlichen Glaubens dem dogmatischen gegenüberzustellen und der Poesie als der Schwester der biblischen Frömmigkeit ihr Recht der freien Phantasie, dem Verstand aber das Recht freien Denkens zu wahren. So, denkt er, könne er sich zugleich geben und erhalten. Wie die Poesie hofft er den Glauben durch die Macht des Willens zu gewinnen: die «ethische Genialität» des Jakobus weist ihm gegenüber der mystischen Klarheit des Johannes und der Verkündigung persönlichen Heils bei Paulus den Weg. So möchte er seine «geistliche Berufung» in Gottesdienst, Seelsorge und brüderlicher Führung der Gemeinde auswirken. Ausdrücklich betont er die Aufrichtigkeit seines Christentums, so subjektiv es gewesen: wer hat das Recht, sie ihm abzustreiten? Er besteht das Basler Examen mit Auszeichnung, wird ordiniert und läßt sich zum Pfarrverweser von Langwies in Bünden wählen. In olympischem Übermut durchschweift er mit Widmann das weite Bergland. Aber vor der eignen Kanzel verliert er das Vertrauen in sein kühnes Unternehmen: ein Ruf lockt in die Ferne, er «zieht seine Zusage zurück» und fährt als Hauslehrer in den Dienst des finnischen Generals Standertskjöld nach Sankt Petersburg.
Die jähe Wendung ist offenbar tief begründet gewesen. Unbedingte Autodoxie ließ sich angesichts seiner unmittelbaren Überzeugung mit amtlicher Vertretung eines geschichtlichen Glaubens in einem so wahrhaften Geiste nicht verbinden. Ein Blick auf Kellers «Verlorenes Lachen», das damals entstand, zeigt die Gefahr, der er nicht erliegen wollte. Durch den Willen aber ließ sich nicht schaffen, was dem Dichter selbst als echter Glaube gegolten hätte. Wohl setzte er die Größe in die Güte und den Sinn der Kunst in den Trost der Menschen auf Erden. Aber seine innerste Stellung zu Gott und Welt war in den letzten Zeiten seiner Theologie immer stärker aus dem Zeichen Hegels in das Schopenhauers gerückt. Ganz allmählich verschiebt sich das Gewicht von einem religiösen Zukunftsglauben auf einen ästhetischen Idealismus, der die sichtbare Welt in ihrer Schönheit preist, in ihrem Grund aber preisgibt, um sich rein in den Metakosmos zu retten. In Heidelberg schon entscheidet sich Spitteler für den Dualismus: Seele und Welt sind zwei Reiche. Dem stillstarken Einfluß Jacob Burckhardts, der Schopenhauer «unsern Philosophen» nannte, stund das Urpathos des Dichters offen. Hier fand er zugleich den tiefsten Ernst, das lebendigste Ewigkeitsbewußtsein, die überlegenste Anschauung der Geschichte, das Wissen des Weltweisen, die fürstliche Freiheit des Urteils, die hellste Liebe zur goldenen mozartschen Schönheit, die lauterste Humanität jenseits aller Illusionen.
Gewiß ist Spittelers Pessimismus «autochthon» gewesen: sein Urerlebnis war geschehen, bevor der persönliche Verkehr mit Burckhardt begann, dem er seine gesamte nichttheologische Bildung zu verdanken erklärte, und bevor er Schopenhauer, namentlich auch durch Frauenstädt, kennen lernte. Die innere Begegnung mit dem düstern Denker bezeugen die Tagebücher. Was Schopenhauer erfahren und gedacht, hat Spitteler erfahren und gedichtet. Und die moderne Theologie wies ihn darauf hin, wie das ursprüngliche Pathos des Christentums die Erwartung des nahen Weltendes gewesen. Fiel sie weg, so hatte die Bewegung, die dadurch bestimmt war, diese wesentliche Voraussetzung verloren. Angesichts der Väter und der Feinde des frühen Christentums neigte sich der Dichter der gnostischen Richtung zu, die das Heil nicht im Schöpfer Gott, sondern im Erlöser aus seiner Schöpfung suchte. Hier herrscht kein geschichtlicher Glaube. Völlig heillos ist die ganze Welt: Macht ist böse, Leben Leid, Gebot des Herzens Mitleid mit allem, was leidet, leibt und lebt. Einzige Erlösung ist Erkenntnis der Wahrheit, augenblicklicher Trost das Anschauen der Idee im Bilde der Schönheit.
Eben diese Welt der Bilder ist aber die Welt des Dichters.
Wenn sich jedoch Schopenhauer um der ethischen Verwandtschaft willen den christlichsten Philosophen nennt, sieht und betont der spätere Spitteler so viel wie ausschließlich den dogmatischen Gegensatz, der ihn vom Schöpfer der leidvollen Welt und vom Glauben an ein Heil der Kreatur trennt. Sie, die ihm einst die Dichtung Gottes war, ist ein Satansspielball, ein Pfuschwerk eines schlechten Künstlers, ein bloßes Truggefüge, ja endlich geradezu eine Schöpfung allmächtiger Bosheit geworden.
Kein Wunder, daß Spitteler, in dessen Seele alle großen Ideen der Zeit um die Herrschaft rangen, seinen Freunden als Rätsel erschien. Er wußte das: und es trieb ihn desto tiefer in sich selbst hinein. Er sah die andern ihres Weges gehen, ihr Ziel erreichen. Er hat einen höhern Pfad gewählt, aber er vermag ihn nicht zu gehen. Er weiß sich durchaus als Dichter: aber er weiß auch, daß nicht der Plan, sondern das Werk den Dichter macht. Keine Brücke führt vom Bild zum Wort. Wie sie finden? Wie sie bauen? Nachdem Widmann, dem Urfreunde, wieder einmal die Freude der Vollendung zuteil geworden, bekennt der heimliche Poet: «Meine Seele zittert wie ein Sterbender, wenn ich an Glück denke. Vielleicht daß nach Jahren mir auch die Sonne aufgeht, und dann die große Mittagssonne dem aus der Höhle Kommenden.»
Die Versuche, eine eigene Weltanschauung, namentlich eine neue Moral zu entwerfen, auch die Ein- und Vorwürfe gegenüber christlicher Lehre und der Aufbau der dichterischen Welt in seinem Innern zeugen schon in der Studentenzeit von seiner autozentrischen Religiosität. Das Ich freilich fühlt sich in Verbindung mit einer unfaßbaren überirdischen Macht. Es wirkt auch auf die Welt; aber alle Offenbarung empfängt es unmittelbar. Auch hier sind Ich und Du Ein Wesen.
Nachdem der «Saul» rück- und seitwärts getreten, weist Jacob Burckhardt den Dichter auf das Epos: diese Grundform hoher europäischer Poesie habe das königliche Vorrecht, alles in lebendiges Geschehen zu verwandeln. Neben Homer und Dante stellt Spitteler Ariost in Heinses Übertragung, und aus dem ersten Entzücken steigt der Aufruf, ein Gleiches zu versuchen. Zwei Quellen rauschen auf: die helle, epische, froh und mutig der schönen Erscheinung zugewandt; die dunkle, die aus dem finstern Urgrund schäumt.
Spitteler hat in der Münchner Rede «Mein Schaffen und meine Werke» nach der Vollendung des Olympischen Frühlings erklärt, schon mit zweiundzwanzig Jahren sei ihm klar bewußt gewesen, daß epische Poesie seine Lebensaufgabe sei. Ausschließlich hat er sich ihr nur auf kurze Fristen gewidmet. Aber die Heldendichtung des Geistes aus eignem Erlebnis zu erneuern, in einem «Personalepos» sich selbst zu geben, war ihm das höchste Anliegen. Bald verwandelte sich ihm die mythische, die biblische, die klassische und die moderne Welt in ein Reich freier Einbildungskraft. Im Mythus freut er sich gefunden zu haben, was allen gefehlt: aber es müsse darin unsre Erkenntnis unsrer Welt, nicht die Erinnerung an frühere Bilder ausgesprochen werden. Die neue Mythologie müsse symbolisch, nicht historisch sein.
Spitteler ist zeit seines Lebens überzeugt geblieben, das naive Schaffen, die Sonne Homers, stehe jedem zu jeder Zeit frei. Die Schwere der Welt und das Ringen um die Kunst sei den Alten so wenig wie uns erspart gewesen.
Auch das Epos bleibt ihm ewigjunger Quell.
In den jugendlichen Tagebüchern blicken wir in die überschäumende Fülle von Einfällen, Motiven, Themen, in endlose Varianten, Verbindungen, Verschlingungen: immer neue, immer neu.
In der Rede, die zum erstenmal in diese seltsame Jugend Einblick gewährte, spricht Spitteler von Johannes Presbyter, dem Helden mit dem goldenen Herzen: Geschichte und Gegenwart werden Eins, und die veröffentlichten Gesänge tragen den Namen Eugenias. Er erwähnt den Plan der Atlantis: ein Wort des Denkers Lotze hat ihn auf die Idee eines feierlich gehobenen Zustandes angesichts sichern gemeinsamen Unterganges hingewiesen: das «Sterbefest» hat sie später aufgefangen. Die «Hochzeit des Theseus» zeigt, wie solche Verdichtung zur Ballade das Motiv auch in ein völlig anderes verwandeln kann. Vor allem fühlt sich Spitteler als Dichter des «Herakles»: er sollte ein Gipfel kühnheller Epik werden, wie er sie im Lichte Ariosts sah. «Herakles rettet alle Völker: wunderschön, nicht traurig wie meine übrigen Sachen». Es bezeichnet den Herrscher eines imaginären Reiches, daß ihm ein unwirkliches Werk das Hauptwerk seines Lebens heißt.
Aber was jene Rede berichtet, ist ein winziger Ausschnitt aus dem Wirbel der Motive und ihres Wandels. Alle Felder vom Epos über die Tragödie zur Lyrik und Novelle gedenkt der Dichter zu bebauen. Aus dem Alten Testament erscheinen Adam, Moses, Samuel, Salomo, Hiob, die Sündflut und die Zerstörung Ninives; die Isabel ist in den achtziger Jahren zum Teil dramatisch ausgeführt worden, die schöne Königin als Widerspielerin des Propheten. Saul, der erst vor Herakles und Prometheus zurücktritt, zum Teil dann in ihnen aufgeht, sollte schließlich den ganzen weltgeschichtlichen Raum der bisherigen Menschheit bezeichnen, den erlösenden Kampf des Geistes gegen die Macht der Vergangenheit. In der griechischen Welt steht wie bei Conrad Ferdinand Meyer der Mythus, in Rom die Geschichte voran: überall ist die Geschichte Gleichnis unmittelbar erlebter Gegenwart. Der wilden Semiramis, dem «englisch-himmlischen Teufel», begegnet Alexander: denn den Poeten bindet keine Zeit. Da sind Theseus und Ariadne, Theseus und Omphale. «Herakles und Busiris» ist erst als Tragödie mit Chören, dann als Epos geplant. Der Stoff stammt offenbar aus Apollodor, dessen Name einmal notiert ist. Der ägyptische König tötet alle Fremden, wie es ihm Phrasios, sein erstes Opfer, selbst geraten, um die Götter zu versöhnen. Da kommt Herakles: aber auf dem Wege zum Altar zerreißt er das Band und erschlägt Busiris samt seinem Sohne. Das war gegeben, und die eigene Deutung lag nahe genug. Aber zu weite Verflechtung mit fremden Motiven verwirrte auch diesen Einfall.
Römische Gestalten erscheinen in Fülle: von Camillus über Scipio zu Catilina und Spartacus. Eine Berenice wird entworfen: auf der Höhe glaubt man das Echo eines racineschen Verses zu hören. Auch Christus wird zur poetischen Gestalt: «Christus als Knabe» soll ein biblisches Wundergedicht werden, die andern Motive aber sind dunkel, wie denn Christus noch dem späten Spitteler die größte Tragödie ist.
Einmal taucht ein Tell auf. Napoleon (in Warschau, auf Elba) führt in neue Zeit, Übermut und Not eignen Lebens in brennende Gegenwart.
All das schwebt vorüber: oft bleibt es Name. Verloren ist all die Irrfahrt der Phantasie nicht. Sie schenkt das Bewußtsein einer unendlichen Welt der Bilder, die jeden Morgen mit dem Erwachen aus dem Traume taucht, Tag und Nacht zu beherrschen. Zum Werk ist endlich der Prometheus geworden. Aber ob auch unter den zahllosen Entwürfen eine Skizze steht, die alle wesentlichen Motive und den schließlichen Gang enthält: der Weg zum Werk forderte noch ein Jahrzehnt.
Die acht russischen Jahre, die von 1871 bis 1879 reichen, hat Spitteler unter seine wichtigsten gerechnet. Er habe sich durchaus isoliert herangebildet, schreibt er nach der Heimkehr an Conrad Ferdinand Meyer, und habe das wichtigste Jahrzehnt der Entwicklung in weiter Fremde verlebt. Es war keine unerträgliche Verbannung. Entspannter und freier als er ausgezogen, kehrte er heim. Namentlich die Jahre im Cramerschen Hause der russischen Hauptstadt haben ihn bereichert. «Zauberhaftes Leben, Glück, Schönheit, Vornehmheit, Freundschaft. Ich war wie allem Erdenleid und aller Niedrigkeit enthoben.» Selig und seelenvoll wird so das Dasein. Die neue Umwelt hat die äußere Erscheinung des Dichters dauernd geprägt: Haltung, Sprache, Gebärde, weltmännische Sicherheit und Liebenswürdigkeit verleugnet er nicht mehr. Er bleibt der Auslandschweizer großen Stils. Und weite Reisen, schöne Aufenthalte lehren ihn die Welt kennen: er sieht nicht nur den Osten von Moskau bis nach Finnland, sondern auch Skandinavien, Belgien, Thüringen samt den Rheinlanden, die er schon als Student durchwandert.
Prometheus ist nicht vergessen. Wie sich Widmann um Weihnachten 1875 dem Tode nahe glaubt und klagt, nun werde er das Werk des Freundes nicht erleben, sendet Spitteler ein Stück, später ein anderes: freilich fühlt sich nun der Begeisterte befremdet. Wie Spitteler im Sommer 1876 die Heimat wiedersieht und von der Schönheit der jungen Ellen, Eugenias Tochter, ergriffen wird, macht er sich an Pandora, die aus dem verführerischen «Kinde der Natur» zur strahlenden Gottestochter wird, nicht mehr bemüht, Prometheus um seine Seele zu bringen, sondern den Menschen ihre heilende Wundergabe zu spenden. Aber das bleibt Poesie: der Dichter entsagt ausdrücklich der Werbung um die Hand der schönen Base, um seinem Werke treu zu bleiben; denn Glück und Größe sind ihm unvereinbar. Wie er sie, nach des Vaters Tode zur Mutter heimkehrend, jung vermählt wiederfindet, wird «Imagopassion gelebt» und Prometheus vollendet.
Weder der griechische noch der goethische Titan wird von Spitteler aufgerufen. Prometheus holt kein Feuer vom Himmel, und kein Geier quält ihn an dem Felsen des Kaukasus. Der Dichter erzählt sich selber: sein Leben im Dienst der Herrin Seele. Das hohe Lied siegreichen Trotzes, dessen Größe Güte will, Wahrheit fordert, das Erbe des Geistes und die verratene Seele des Bruders rettet, ist ein Gleichnis erlebten Lebens: der Durchbruch aus gebannter Innenwelt in das Reich der Kunst. Spittelers Verhältnis zur Religion ist ästhetisch, sein Verhältnis zur Poesie religiös geworden.
Was ist ein großes Leben?» fragt Alfred de Vigny. «Ein Jugendgedanke, in der Reife zum Werk geworden.»
Heimweh hatte den Wanderer ergriffen. Die Träume der Heimat, die Einsamkeit der Mutter zogen ihn heim. Als letzter Schreiblehrer möchte er sich zu Hause zufrieden geben. Auch hier erweist sich als schwerer, zu sein als zu sehen, was im Traum so schön geschienen. Kaum hat der Heimgekehrte an der Berner Mädchenschule, der Josef Victor Widmann vorsteht, Geschichte zu lehren begonnen, verliert der Freund die Leitung und Spitteler die Stelle. Nun führt der Weg in die Schularbeit nach Neuenstadt, dann, nachdem sich manche Pläne zerschlagen, durch Zeitungsstuben in Basel, Frauenfeld und Zürich in seine hohe Zeit, die ganz der Dichtung gehört.
Spitteler ist ein zwanglos anregender Lehrer gewesen. Er weiß auch, daß die beste Kraft des Erziehers die Liebe zur Jugend ist. Wenn er doch über Fron und Knechtschaft stöhnt, so gilt die Klage weniger dem Werk, das er tut, als dem eigensten, das er nicht tun darf. Die griechischen Verbalformen, die er den Knaben beibringen soll, Keklopha und Pepomphyia und ihre ganze Schar, tanzen aus dem Schulbuch in seine extramundanen Phantasien hinüber. Er hat keinen Feind als die Schulglocke, die ihn aus dem Schöpferglück an die Arbeit ruft. Sonst weiß er sich von Freundlichkeit umgeben: auch später hat ihn die Stadt gefeiert und seinen Namen in die Mauer der Schule gegraben, die er so schwer betrat und so gern verließ.
Auch die Aufgabe des Schriftstellers und Schriftleiters war dem Dichter nur zuwider, weil sie sein Werk hemmte. Den Höhepunkt dieser Wanderjahre bildete die literarische Leitung der «Neuen Zürcher Zeitung», die er von 1890 bis 1892 besorgte. Welch regem Leben hatte er da zu folgen, wie manch bedeutsames Ereignis zu würdigen, wie schönen Werken gerecht zu werden! Wie genoß er es, tüchtigen jungen Dichtern, allen voran seinem Liebling Meinrad Lienert sein zu können, was Widmann und Adolf Frey ihm gewesen! Aber was er bot, war wenigstens am Anfang mehr als gewünscht wurde. Wie tief läßt Overbecks Meldung an Nietzsche blicken, Spitteler habe der früh verblichenen Basler «Grenzpost» mit seinen Aufsätzen und Gedichten gewiß nicht geholfen; denn sie seien viel zu geistreich gewesen. Solche Erfahrungen bleiben bis in den Olympischen Frühling hörbar: «Und für zu hohen Wuchs verfemt auf Lebenszeit / Mein bebend Herz bekennts, ist keine Kleinigkeit.»
Immerhin ist auch dies karge und kalte Jahrzehnt nicht ohne Glück und Sonne gewesen. Schon nach Neuenstadt war dem Dichter eine seiner Berner Schülerinnen, die junge Holländerin Marie op den Hooff, als seine Gemahlin gefolgt. Das erste Werk, in geweihter Stunde gewollt und mit schmerzlichen Opfern erkauft, war gelungen: so war der Wall gesunken, der ihn so lang von wahrer Lebensgemeinschaft fern gehalten. Die Erwählte ist über vierzig Jahre lang mit dem Dichter seinen hohen und harten Weg gegangen. Sie hat ihm zwei liebe Töchter geschenkt. Durch sie ist ihm zu Anfang der neunziger Jahre in Luzern die Freiheit geworden, ohne die der Olympische Frühling nicht hätte aufblühen können. Wie beglückte ihn schon sein Garten mit seinen Zedern, Rosen und Kamelien! Wie gerne freute er sich mit seinen und andern Kindern! Wie wohl tat es ihm, wohlzutun! Den Seinen, die ihn umgaben, ohne seinen Flug zu hemmen, ohne seine bald mächtige, bald spielende Herrlichkeit zu stören, hat er in einer festlichen Stunde gedankt, daß sie ihn mit der Speise labten, welche dem Menschen so unentbehrlich ist, mit der Lebensluft der Liebe, und daß sie ihm aus Eintracht und Frieden ein Asyl betteten, von wo herab er auf alle äußern Anfechtungen so seelenruhig habe blicken können wie das Eichhörnchen aus dem Tannenwipfel.
Schwerer als alle äußern Hemmnisse lag auf dem reifen Manne die Erkenntnis, daß sein erstes Werk ohne Widerhall blieb. Er hatte sich ganz gegeben: wie schwer war es da, ruhig auf das Echo der Welt zu warten! Gottfried Keller bot durch Achtung und Teilnahme «Trost und Erhebung». Zu vollem Lob oder zu öffentlicher Äußerung aber mochte er sich nicht verstehen: sein Sinngedicht und Spittelers Prometheus tragen dieselbe Jahreszahl. Welches Widerspiel! Conrad Ferdinand Meyer, eben auf der Höhe seines klassischen Realismus angelangt, erkannte die Verwandtschaft der beiden Humanisten noch nicht, die sich später offenbarte. Jacob Burckhardt entschuldigte sich, daß er das Werk nicht habe lesen können, und auch für Nietzsche ist es nicht sogleich bedeutsam geworden. Adolf Freys scharfsichtiges Urteil blieb ungedruckt; Widmann, der seine Bedenken zurückstellte und seiner alten Hoffnung folgte, vermochte das Werk allein nicht durchzusetzen. In Deutschland blieb es unbesprochen, bis es ein Vierteljahrhundert später bei Diederichs neu erschien. Diesmal war die Zeit der Opfer in jedem Sinn vorüber.
Als auch die «Extramundana» unverstanden blieben und ihre siebenfache Kunde vom Ursprung der übelsten aller Welten die Schönheiten der Dichtung überdröhnte, kamen die Jahre, da sich der Dichter nicht mehr als den «endlich Glücklichen» empfand, als den ihn sein Dichtername Felix Tandem pries, sondern da er bitter unter dem Grame litt, keiner ernstlichen Prüfung gewürdigt zu werden. Erst beharrte er darauf, nun vollends seinen eignen Weg zu gehen. Endlich aber ging er dem Berg entgegen, der nicht zu ihm kommen wollte. Er entschloß sich, von den Meistern zu lernen, die er vor Augen hatte, um endlich die eigne Meisterschaft an die überzeugende Lösung seiner eigensten Aufgabe zu wenden. Er wagt es, seinen Gegensatz in sich aufzunehmen, um in der Synthese seine höchste Erfüllung zu finden. So ist Spitteler zu seinen «Zwischen- und Lernwerken» gekommen. Sie gehören zum Teil seiner schriftstellerischen, zum Teil aber seiner dichterischen Leistung an.
Sie zeigen ihn als Lyriker, als Erzähler, als Essayisten.
Nachdem es ihm nicht gelungen war, durch einen Erfolg auf der Bühne die Wendung seines Schicksals herbeizuführen, nachdem auch Nietzsche ihm vergeblich für ein dramaturgisches Werk einen Verleger hatte finden wollen, trat Spitteler 1889 mit seinem ersten Gedichtbande, mit den «Schmetterlingen» hervor.
Spitteler als Lyriker ist eine merkwürdige Erscheinung. Er liebt die Sprache nicht wie ein Musiker sein Instrument; er schilt sie wie selbst Goethe, kaum sind die Melodien des Tasso verklungen. Er will lieber ein mäßiger Epiker als ein guter Lyriker heißen. Er will Gestalten schaffen, nicht Gefühle singen. Er scheut den unmittelbaren Ausdruck des innersten Herzens, so sicher er sich als Dichter dazu verurteilt weiß.
Aber seine Augenlyrik, seine Licht- und Farbenwonne hat doch ihr Recht. Schon den Knaben hatten die Sommer- und Sonnenvögel bezaubert, schon der «Prometheus» hatte sie gepriesen. Der Schwere des Gemütes tat ihre Anmut und Lieblichkeit wohl: «das leichte Ding bedeutet ohne Frage: fliegen». Aber der Schmetterling ist auch seit alten Zeiten Sinnbild der Seele. So echt der Farbenjubel wirkt, Adolf Freys Wunsch ist doch in Erfüllung gegangen, daß am Ende Menschenherz und Menschenschicksal in erster Linie stehen möchten. Reich ist der neu eroberte Reim, beschwingt und wandelfroh der Vers. Viel Eigenstes ist eingewoben, dem Kenner offenbar, dem flüchtigen Auge verborgen. In allem waltet «der Weltenfluch, durchweint von Gottes Segen».
Schicksalhafter Ton beherrscht auch die «Literarischen Gleichnisse». Drei Jahre nach den Schmetterlingen, im Jahre der großen Befreiung erschienen, atmen sie wohl noch Mühe und Todesahnung, Grimm und Groll. Aber all das liegt schon im Schimmer des neuen Morgens. Der Weg führt von dem aufrechten Tiger, der ursprünglich auf dem Buche stehen sollte, zu dem Urteil Conrad Ferdinand Meyers: «Spittelers Gleichnisse sind schön». Der Dichter hat seinen eignen Morgenspruch zu Herzen genommen: «In jedem Werk der Kunst will Glück und Sonne sein». Den Kern nennt er das tragische Gleichnis des gefangenen Königs, der nichts als König sein kann, dem also nach seinem Sturze der Tod Gnade und Erlösung ist. Aber es fehlt nicht an siegreichem Humor: der Adler in der Tanzstunde ist sein überlegenster Ausdruck. Auch mit den innern Feinden wird gerungen, daß die Seele munter und mutig bleibe. Kampf und Wehr sind überpersönlich. Das Gleichnis schreitet frei durch Zeiten und Völker.
Auch in das stolze Buch der deutschen Ballade hat Spitteler seinen Namen eingetragen. Er sieht nicht wie Goethe in dieser Form die ferne Frühe dauern, da epische, lyrische und dramatische Gattung noch ungeschieden in ihr lebten. Ihm ist die Ballade lyrisch, weil sie nicht rein episch ist. Und ungezwungen werden Lied, Spruch, Anekdote mit ihr verbunden. Lernwerke sind auch die «Balladen» (1896), weil die möglichen epischen Verse und Strophen geprüft und erprobt werden. Die dunkle und die helle Quelle sprudelt: mythische und epische Gebilde folgen sich. Heldenballaden führen in griechische, östliche, spanische, französische Welt. Weder Dämonie noch goethische Natur herrscht in Spittelers Ballade, weder Bürger noch Uhland, weder Brentano noch Fontane. Die Linie Schillers, Platens, Meyers setzt sich fort, aber in ganz anderm Schritt und Ton. Klares Bewußtsein, nicht traumhaftes Grauen lebt in diesen Gebilden. Das subjektive Element ist offener als bei Meyer: sein Gleichmaß und seine durchgehaltene Höhe ist freilich kaum erreicht. Das zielbewußte Proben führt durch auffallende Abhängigkeiten: Poesie und Gymnastik sind nicht vollends Eins geworden. Die «Blütenfee» ist der Höhepunkt der balladesken Symbolik. Heimat und Vaterland zeigen den Weltwanderer, der wahrhaft heimgekommen ist. «Der Venus Rundgang» aber ist das Vorspiel zum Olympischen Frühling: hier ist der epische Vers Spittelers gefunden, der griechische Trimeter, aber gereimt; hier wird die Landschaft am Vierwaldstättersee, die schon in den Zweiten Faust eingegangen, mit überirdischen Gestalten belebt: antike Namen in lebendiger Gegenwart.
Die letzten Gedichte, die «Glockenlieder», sind nicht mehr Zwischenwerk. Dem Dichter ist, als sei er zum ersten Male Lyriker. Er singt das Siegeslied, nachdem der Olympische Frühling gelungen und Imago vollendet ist. «Menschenweh, von Geist verschönt»: das ist Spittelers Kunst geworden. Germanische Götternamen und neueste naturmythische Phantasie, Baldur und Chlorophyllis, ältestes Jugendgedenken und Übermut jüngster Tage spielen in Eintracht zusammen, Auch Humor ist da: wen wundert, daß auch er ein Kind des Willens ist?
Widerstand und Widerstreit wenden sich zum Guten. Nacht und Abgrund sind nicht vergessen. Aber der Dichter steht festen Fußes über ihnen. Herz ist in der Welt, Glocken tönen in die drohende Verzweiflung, Mut ist wahre Kraft des Lebens, wahrer als alle Klage. «Wasch deine Augen, schweig und bleibe gut».
Ist diese Lyrik auch durchaus Kunst, so ist sie darum nicht ohne Poesie. Bei dem Dichter, der mit den Augen denkt, wird niemand das Urlied suchen. Ohne Lied wäre keine Lyrik in die Welt gekommen. Aber Lyrik ist längst nicht mehr Lied allein. Echte Lyrik wird möglich, wo das Ja der Kunst Herr wird über alles Nein des Künstlers.
Auch die Kunst der Erzählung in Prosa hat sich Spitteler in der Zeit zwischen Prometheus und Olympischem Frühling erobert. Roman und Novellen plante schon der Student: das leidenschaftlichste Erlebnis jener Tage wollte er darin los werden. «Mariquita» zeigt ihn sogar in den Tagen des ersten Prometheus auf diesen Pfaden. Nachdem er «Eugenia» aufgegeben, wünscht er auf die Felder einen Stein zu setzen, auf denen Keller und Meyer sich als Meister bewährt haben. Es gilt, sich und der Welt zu beweisen, daß er nicht darum auf das hohe Epos ziele, weil er erdennaher Dichtung nicht gewachsen sei. Auch mußte ihm gerade an diesen poetischen Realisten klar geworden sein, wie sehr dem Dichter der Sieben Legenden und dem des Heiligen das Vergängliche zum Gleichnis geworden. Die historische Novelle versuchte er im «Neffen des Herrn Bezenval», einem Vorspiel zu Imago, in ein anderes Jahrhundert transponiert. Länger hat er sich bei der heimischen Dorfgeschichte aufgehalten, in der Gotthelf und Keller ihre epische Kraft erwiesen hatten. Aus den Heimliger Geschichten sind die stärksten Leistungen Spittelers auf diesem Felde, «Gustav» und «Conrad der Leutnant» hervorgegangen. Von prüfenden Anfängen führt der Weg steil zur eignen Meisterschaft. Aber vom «Friedli» und den «Mädchenfeinden» bis zu Gustav und Conrad ist doch die Selbstdarstellung so wesentlich wie im Prometheus: eigner Charakter, eignes Schicksal, eignes Urerlebnis auch hier! Auch da Not und Trotz des Unterdrückten, Verkannten, Ergrimmten, auch da der Gegensatz von Vater und Sohn, von Seele und Welt. Eigenste Form gewinnt Spitteler in der dramatisch geballten «Darstellung», von der er Einheit der Person und der Perspektive, Stetigkeit des zeitlichen Fortschritts verlangt. Erworbne naturalistische Technik ist zur persönlich geprägten Kunstform geworden. Prometheus mag Proteus scheinen: in allen Gestalten bleibt er sich gleich. Sich stellt er dar im Rahmen sichtbarer Welt wie im riesenhaften Traum, ob er dem Sekundenzeiger oder dem Stundenweiser folge. Der Adler war aus den Wolken herabgestoßen: auch der Sturz aus den Lüften war unverloren.
Wie die Glockenlieder ist die eigenste erzählerische Leistung, «Imago», erst nach dem Olympischen Frühling vollendet und erschienen. Von der Höhe des erklommenen Zieles blickt der Dichter auf die Opfer zurück, die es ihn gekostet, als er das Glück an die Größe wagte. Nun konnte er ruhigen Herzens den Berg hinabschauen. Die Erschütterung, die er schildert, hatte den Träumer zum Wort erlöst. Er gibt allen andern gegen sich recht, vom Rechte des schöpferischen Geistes abgesehen. Tiefer Doppelsinn liegt im Namen des Helden: Victor, der als Richter der Ahnungslosen erscheint, auf die er verzichtet, damit sie die Königin seines Traumreiches werde, und der nun doch ihrer strahlenden Wirklichkeit verfällt, ist das Gegenteil eines Siegers. Aber aus der Torheit seines Traums erhebt ihn seine strenge Herrin, seine Seele: er wird das Bild schaffen, das dauert, das leuchtet und sein Leid im Lied besiegt. «Tasso unter den Demokraten»: so nennt Spitteler seinen rücksichtslos geistvollen Roman. Schopenhauer hatte schon ausgesprochen, daß Tassos Schicksal nicht das eines Dichters, sondern des Dichters sei.
Imago ist eine einmalige Tat der Erkenntnis, des Bekenntnisses, der Gestaltung. In der Dichtung unseres Landes zumal war sie etwas vollkommen Neues. Die ganze Spannweite zwischen Pathos und Ironie, Selbstbehauptung und Selbstgericht ist durchmessen: jedes Element hat seinen gemäßen Ausdruck, und doch springt der Reif nicht, der das Ganze hält. Kaum ist das Werk vollendet, erkennt Spitteler in Stendhal seinen Doppelgänger.
Endlich hat die drangvolle Zwischenzeit neben dem Lyriker und dem Erzähler den Meister des Essays reifen lassen. Der Schriftsteller Spitteler ist dem Dichter minder fremd als es von ferne scheint: mit gutem Grunde hat er in seiner Würdigung Nietzsches den Spruch hervorgehoben, nur im Angesicht der Poesie werde gute Prosa geschrieben. Nicht so allerdings, daß Poesie und Prosa zugleich um ihr wahres Wesen kommen, sondern indem auch Prosa als Kunst verstanden wird, eignen Gesetzes, eignen Anspruchs, eigner Kraft.
«Prosa schreibe ich einfach als Franzose», erklärt der Dichter einem Freunde. Dasselbe sagt er von Lessing und von Conrad Ferdinand Meyer. Das Paradox erhellt das Lob: was er meint, ist im Deutschen nicht minder Tugend als im Welschen. Hier gilt nicht das Dichtergleichnis, wohl aber bildhaftes Wort, kristallklarer Gedanke, nebelfreier Ausdruck, sichtbare Erscheinung der schlichten Wahrhaftigkeit. Schlank, lächelnd, unbeschwert schreiten die Sätze hin: als wäre es gar nicht möglich, anders als fein und deutlich, offenherzig und geistvoll zu sein. Mag der Dichter Prosa zu Zeiten schwer, ja eine Teufelsarbeit schelten, dem vollendeten Gebilde spüren wir keine Mühe mehr an. Nachdem Spitteler, einer Einladung folgend, mit dem Reisebuch «Gotthard» einen Stein auf das Feld Widmanns gesetzt, läßt er seinen Freund und Verleger Diederichs eine Auswahl seiner «Lachenden Wahrheiten» treffen. Das grimme Lachen ist zum Siegeslächeln geworden: aus dem Leid ist reinere Freiheit erwachsen. Das Wesentlichste in dem Buche ist, was der Dichter vom Dichten und vom Dichter sagt: eine Poetik des Poeten, der weiß, wovon er handelt.
All das war gewonnen. Aber der Aufstieg geschieht um der hohen Zeit willen.
Nachdem die ersten Jahre der Luzerner Freiheit Last und Sorge vertrieben hatten und der Atem wieder freier ging, erwachte über kleinern Werken Lust und Kraft zu großen Plänen. Dem Jugendfreund teilt der Dichter mit, er wolle die Auffahrt der Götter auf den Olymp darstellen: aus dem Wunsche, ihr freies Schweifen in der frisch eroberten Hoch weit zu schildern, habe sich der Aufstieg aus dem Hades und der Wettkampf um die Königin ergeben: beide Kapitel aber seien im Entwurf zu ganzen Bänden geworden. Abenteuerlust werde geboten, «nichts Inneres», kündet er an. An Lust und Abenteuern ist freilich kein Mangel. Aber es geht Spitteler mit dem tiefsten Gehalt wie mit der Sprache: «Die Gewalt des mächtig flutenden Poesiequells bricht während des Schaffens alles durch, Bedenken, Verstandesschranken, alles». So hält sich denn hier Erlebnis und Ereignis die Waage wie in jeder großen Dichtung.
Spittelers Götter sind große Menschen ohne Alter und Tod, in den unermeßlichen Schranken des Götterweltenjahres, durch Maß und Macht über die Grenzen der Menschheit erhaben. Ewig sind sie wie die Götter Homers: wie diese wissen sie, daß sie einst auf die alten Himmelsherrn gefolgt sind und daß sie in die Tiefe fahren werden, wie sie die frühern haben stürzen sehen. Denn auch hier thront über den Göttern das wahrhaft ewige Schicksal: gestaltlos und unwandelbar. Sein Name ist Ananke, der gezwungne Zwang.
So kehrt das Urerlebnis des Dichters auch im Olympischen Frühling wieder: der Gegensatz von Macht und Geist, Masse und Seele, Gewalt und Recht, König und Künstler, Epimetheus und Prometheus, Zeus und Apoll.
Aber in diesem Grundgegensatz geht die Fülle der Gestalten nicht auf. Orpheus, Dionysos stellen wie Apoll eigenste Erfahrung dar. Alle Welt und Widerwelt ist Bild geworden: Apoll der Entdecker ist auch Apoll der Held. Zarteste Erfindung blüht neben stürmischem Übermut: Hylas und Kaleidusa stehen neben Aiax und den Giganten in der Hohen Zeit. Spitteler hat die helle Luft, den Jubel der Dichtung trotz dem dunkeln Grund lebhaft betont: der Name des Werkes spreche Sinn und Sein vollkommen aus, Ananke sei spät hineingekommen: er könnte ihn wegdenken. Aber das allmächtige Schicksal mit den gelben Tigeraugen ist da: das Buch der Sibyllen, das Weltenklagebuch, der Berg des Automaten gehören wohl aus unbewußtem Zwang in diese farbenfroheste und sieghafteste Dichtung des modernen Epos.
Was Spitteler und Widmann eint und was sie trennt, wird offenbar, wenn wir in den grünen Gründen des Götterbergs die Maikäferkomödie summen hören.
In seiner Urfassung aus dem anhebenden Jahrhundert klingt das symbolische Epos Spittelers, strahlend und abgrundtief, leuchtend und schicksalskundig, mit Tanz und Lustbarkeit aus, im Preise von Form und Schein, als könnte all die Herrlichkeit kein Ende nehmen. Aber der Dichter sieht ein, daß die Ironie nicht verstanden wird. So läßt er die endgültige Gestalt des Werkes mit dem Heldentum des Geistes enden: Herakles, der Sohn des Zeus, aber lichtes Abbild Apolls, steigt zur Erde nieder. Er weiß, welches Los ihn erwartet. Aber sein Herz heißt Dennoch. Danklos, trotz Harm und Haß, will er leisten, was er soll: Brüdern und Schwestern Hort und Helfer sein. Wieder wird, was Prometheus verkündet, neues Gleichnis, ohne daß der tiefste Gehalt sich wandelt.
Auch die eigne Auffahrt in helle Höhe hatte zum Ziel geführt. Von seinem Gipfel blickte er über Land und Leben. Das Alter des Dichters bleibt eine wohltuende Erinnerung an sichtbare Gegenwart eines überlegenen Geistes. Wie lange hatte er gelitten und gerungen! Wie lang hatte er grimmig nach außen geworfen, was in ihm selber wühlte! Wie lang hatte er die Menschen verachtet, die nicht zu würdigen vermochten, was er ihnen gegeben, was sich so schwer aus der eignen Tiefe heraufgekämpft! Nun wird ihm bewußt, im Grunde sei er nie unglücklich gewesen: er habe ja immer in sich selber geweilt, «wo es inwendig leuchtete». Nun ist das Gleichgewicht von Welt und Seele gewonnen, soweit es menschenmöglich war. Erstorben ist auch hier die stille Grundtrauer nie: es gab Stunden, wo sie wieder zu lauter Empörung erwachte. Aber die Auflehnung gegen das Grundgeheimnis des Übels stellte den erfüllten Sinn des eigenen Daseins nicht mehr in Frage.
«Wär eines Menschen Herz von Wermut übervoll,
Wenn ihn ein bleibend Werk, das er geschaffen, krönt,
So grollt er nicht, er ist mit aller Welt versöhnt.»
Diese Worte stehen in Spittelers letzter Dichtung. Jahrelang hat sie ihn beschäftigt: erschienen ist sie zu Beginn des Dezembers 1924, an dessen letztem Tage, was an ihm sterblich war, sich in die lösende Flamme senkte. «Prometheus der Dulder» ist nicht eine Fortsetzung des Erstlingswerkes, sondern seine neue Gestaltung, auf der Höhe bewußter Kunst unternommen. Wie er seinen Prometheus Gottfried Keller zu erklären versucht, wird ihm bewußt, daß er doch nicht durchaus gelungen sei. Preisgegeben hat er ihn freilich nie. Und nun grüßt der reife Künstler den hochgemuten stillen Dichter, der er einst gewesen: alles, was der Greis vermag, soll dem zugute kommen, was der Jüngling einst geschaut, gelobt, gewollt. An Sinn und Gang ist im Grunde nichts geändert, ob auch der rhapsodische Charakter des Jugendwerkes aufgegeben ist und beide Teile nun gleichermaßen vier Gesänge zählen. Auch der Gegensatz von Prometheus und Epimetheus ist beibehalten: aber «der stille Dulder», der seiner Seele dient, den Geist auf Erden rettet und seinen Bruder aus dem Elend reißt, gibt nun dem Werk allein den Namen. Manches wie der «trübe Tag» des Anfangs geht auf die ersten Zeiten zurück: manches ist verdichtet, gewandelt, manches gefallen, alles aber nach strengem Plan gefügt. Den letzten Gesängen kommt die lösende Erfahrung der Reife und des Sieges zugute. Der Bann ist gebrochen, das Werk getan, Leid und Leben haben ihren Sinn gewonnen; alles war heilig, alles war schön. Wohl ist der Protest gegen den gedachten, kaum mehr geglaubten Schöpfer wach wie je. Aber das große Ich bekennt sich zu der weitern Einheit «Ich Alle»: das Ich steht noch voran, aber es umfaßt alle, und es steht für alle.
Neben der Arbeit an der letzten Dichtung geht die andre an der Deutung des eigenen Lebens her. Erst vom Ziel aus ist der Weg ganz zu verstehen, nun, da aus dem ungewissen Wagnis das Ereignis geworden. Nun übersieht er den Sinn, den er ihm gegeben, er spürt den Sinn, der ihm gegeben war.
Die Erinnerungen an Widmanns Elternhaus, an den Jugendfreund, an Eugenia, an Jacob Burckhardt, die Darstellung der Beziehungen zu Nietzsche waren vorangegangen. Nach dem Tode der Mutter rundeten sich die «Frühesten Erlebnisse». Vorher schon war in schnellem Entwurf das «Entscheidende Jahr» gelungen. Bis in die allerletzten Monate ist Spitteler mit seiner Autobiographie beschäftigt gewesen, die vom sechsten bis zum achtzigsten Jahre reichen und das ganze Leben von innen heraus darstellen sollte. Bevor er dieses Werk vollendet, hatte sich sein Schicksal erfüllt.
Ohne Sturm ist freilich die fruchtbare Stille dieses Alters nicht geblieben. Kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag brach der erste Weltkrieg aus: zum tiefen Kummer für den lebendigen Europäer, dem solches Unheil wie ein Bürgerkrieg im Großen erscheinen mußte. Von der Neuen Helvetischen Gesellschaft eingeladen, hat Spitteler in seiner großen Rede vom 14. Dezember 1914 den Schweizer Standpunkt bestimmt, im Wirbel der Leidenschaften die Klärung der eidgenössischen Häupter und Herzen versucht, zur Besinnung auf den Willen des Landes und auf das Leid der Menschheit aufgerufen; er hat vor aller Welt in vornehmer Ruhe und Festigkeit ausgesprochen, was unser Bund bedeute und was er weder sei noch werden wolle. Als Vorbild stellte er ihn nicht auf: als Sinnbild durfte er ihn gelten lassen.
Diese Stunde bleibt ein geschichtlicher Augenblick in den Annalen unseres Bundes. Ein bewußtes Opfer, schlicht dargebracht, hat den Dichter auf lange Jahre Ruhe und Ruhm gekostet, Hohn und Haß auf seinen Namen gehäuft und den Wall des Schweigens um ihn aufgeworfen. Aber das Opfer war nicht vergeblich. Es soll uns unvergessen sein.
Er wußte, was er tat. Er sah die Gefahr für Freiheit und Einheit des Vaterlandes. Er wußte, daß die Freiheit des Volkes auch der Atem der freien Seele und des wahren Schöpfertums ist. So sagte er, was zu sagen war. So litt er, was zu leiden war. Und nach dem Sturm ging ihm die große Sonne auf.
Die letzten Jahre waren die des stillen Siegers. Aus ferner und naher Welt kamen Ehrungen ersten Ranges, Boten höchster Achtung, herzlicher Freundschaft und warmer Anhänglichkeit. Zu Zeiten meldeten sich die Beschwerden des Alters. Aber die hohe Erscheinung blieb aufrecht bis in den letzten Spätherbst. Unvergeßlich ist das Bild, das die pflegende Schwester festgehalten, wie der Dichter sich um Mitternacht auf einmal steil erhebt, die Kraft seiner Seele schwinden fühlt und erlischt.
Und nun vielleicht, wenn bleibt, was ewig ist nach seinem Wert, vielleicht so wirst du bleiben. Aber ich, von hinnen muß ich wandeln, daß ich gehe zu begraben meinen kranken Leib in Staub und Erde.»
So spricht Prometheus zu seiner Seele, seiner gnadenvollen Herrin. Sie ist sein Leben, sie atmet in seinem Werk. Tod ist ein Dasein, dem sie selber sich entzogen.
Das Nachleuchten ist dem Dichter der höchste Anspruch an ein Werk, der oberste Maßstab des Urteils. Nicht der Augenblick entscheidet, nicht der erste und kein anderer, der vorübergeht. Dauer will ein Werk, damit es wahrhaft lebe. Leise klopfend schwebt des Dichters Wort um des Paradieses Pforte und erbittet ewiges Leben. Auch Prometheus hört seinen Namen vom Engel Gottes über Gebirg und Tal verkünden, und die Jahrhunderte in ihrem stummen Lauf heben das Haupt und schauen nach dem Namen auf.
Nur was nachleuchtet, leuchtet vor.
Wie künftige Jahrhunderte den Olympischen Frühling werden nachleuchten sehen, können wir nicht voraussagen. Wir kennen die Dichtung, aber wir wissen nicht, was für Augen, was für Ohren und Herzen ihr begegnen, wie sie schauen, hören und richten werden.
Aber was uns der Dichter an der Wende seines ersten Jahrhunderts bedeutet: das wissen wir.
Die Leuchtkraft geht vom ursprünglichen Menschen und von seinem mächtigen Werk aus.
Der Mensch ist ein gewaltiges Beispiel einer ungebrochenen Persönlichkeit. Unendlich verwundbar, erzeugt und erzieht er einen Willen, der jedem Sturm standhält.
Mag er eins der größten Paradoxe unseres Geisteslebens sein: damit ist gegen den Wert seiner Leistung nichts entschieden.
Unbeirrt vom sicheren Mittelmaß verficht er das Urrecht des hohen Wuchses und des freien Werks.
Gegen alle Neigung, im Menschen die namenlose Nummer einer Gruppe, einer Gesellschaft, einer Masse zu sehen, verteidigt er Rang und Recht der Seele: eignen Quells, eignen Wesens, eignen Ziels.
Mitten in der schweizerischen Wirklichkeitsfreude stimmt er sein Weltenklagelied und den hohen Gesang des einsamen Mutes an. Mitten in den poetischen Realismus und gegen den heraufziehenden Naturalismus stellt er sein symbolisches Epos. In der Zeit zerfallenden Formgefühls bekennt er sich zum Adel hoher Kunst.
Inmitten einer uralten dichten Volksgemeinschaft macht er den Anspruch, ein stiller Mensch zu sein, der sein Werk tut und nichts will als dieses Werk tun.
So scheint er Widerspruch und Widerspiel all seiner Welt.
Aber wie ein Mensch berufen sein kann, seine Zeit und seine Welt auszusprechen und zu erfüllen, so kann sein Sinn darin bestehen, sie zu überwinden. Wenn der Widerspruch eigner Spruch und das Widerspiel eignes Werk geworden, gehen beide in eine erhöhte Welt ein. Gewiß ist Trotz um des Trotzes willen leere Freiheit. Aber die ursprüngliche Kraft will allein den freien Weg zum Ziel. Sie will die Freiheit, den eignen Sinn zu erfüllen. Kommt es dazu, daß ein Einziger der ganzen Welt widerstehen muß, so soll er das allerdings können: aber nicht um des Trotzes, sondern um des Werkes willen.
In Spittelers Werke fehlt es nicht an Stellen, die den Einzelnen und seinen Widerspruch absolut zu setzen scheinen. Wir dürfen sie nicht absolut nehmen. Die Unbedingtheit seiner Seele ist die Unbedingtheit seiner Sendung. Sobald sie erfüllt ist, segnet er sie aus seinem tiefsten Herzensgrunde. Denn sie hat ihren Sinn. Der Dichter spricht aus sich allein, aber nicht für sich allein. Wer zum Künstler geboren ist, hat die Welt nicht zu erhalten, noch zu verwalten, sondern seine Welt zu gestalten. Er wird seinen Sondersinn leicht für den edelsten halten, um seine Last und seine Einsamkeit zu ertragen. Er wird zu seinem Glück auch überzeugt sein, «das wehmütig ernste Künstlerglück sei immerhin das höchste, das auf dieser Erde zu finden sei», und die Gnade der Schöpferkraft führe den Erwählten auf den Gipfel des Lebens. Er kann nur sein, was er ist, und nur schenken, was ihm gegeben ist. Aber wenn auch wenige geschaffen sind, seinen Weg zu gehen, kann doch sein Dasein ein Gleichnis alles quellhaften Daseins bleiben. Sei jeder, was er ist, wie Spitteler Dichter war: und wir werden erfahren, was der Dichter als Sinnbild des vollen Menschen für die Gemeinschaft des Lebens bedeutet. Es ist keine Persönlichkeit ohne Gemeinschaft und keine Gemeinschaft ohne Persönlichkeit.
Nichts ist durch dieses starke Werk verloren, was uns auf alten und jungen Feldern Echtes erwachsen: Pestalozzis Zuversicht, Gotthelfs mächtiger Glaube, Gottfried Kellers dankbares Leben, Conrad Ferdinand Meyers leuchtende Bilder mit dem goldenen Hauch der Vollendung. Es ist nie zu viel Schönheit, nie zu viel Güte, nie zu viel Wahrheit in der Welt. Bevor der hohen Zeit Ende anbricht, ruft Apoll:
«Wohl mir! Wir sind auf Erden noch der Edlen viel!
Kommt alle, alle! Keiner fehle! Nie zu viel!»
Der alte Spitteler bekennt sich offener und wärmer als der junge zur menschlichen Verbundenheit. Aus seinen letzten Wochen stammt das Wort: «Ich fühle alle Geschöpfe, die zur nämlichen Zeit dieselbe Erdenluft einatmen, als untereinander seelenverwandt, aber auch für einander gegenseitig verantwortlich». Das Reich Allerseelen hebt den unbedingten Individualismus, hebt auch die Allmacht des toten Automaten auf. Es verkündet mit seiner edlern Wirklichkeit das Gegenteil materialistischer Seelenlosigkeit. Die Frage, ob eine Welt noch heillos heißen könne, in der Seele leuchtet und Geist schafft, ist nicht dieses Ortes. Genug, daß sie leuchtet und daß er schafft.
Prometheus bleibt sich also treu, wenn er in jäher Gefahr seines Volkes gedenkt. Die Überraschung, daß aus großen Einsamen die Stimme des gemeinsamen Willens bricht, ist sinnvoll und schön zugleich. Des Prometheus Stunde ist in der Dichtung die verheißene Erscheinung der Seele. In seinem Leben ist es die Stunde der Bewährung: seines Mutes, seines Opfers, seines friedlichen Sieges. Die Stunde des Prometheus leuchtet nach. Den Dichter, der seines Volkes nicht vergessen, vergißt auch sein Volk nicht.
Auch sein Werk ist nicht erloschen.
Es ist nicht wurzellos, aber es ist ursprünglich. Es ist nicht zeitlos, aber es überwächst die Zeit.
«Wir sind doch alle Kinder unsres Jahrhunderts»: das Wort Jacob Burckhardts zeichnet sich schon der junge Spitteler auf. Auch er ist der Sohn seiner Zeit, ob auch zugleich viel mehr als das. Sein Ort in der Geschichte ist der einer Geisteskrise ersten Ranges: was ewige Wahrheit gewesen, wird ihr zum Mythus, die Herrschaft des optimistischen Idealismus versinkt vor der Wirklichkeit des Lebens, der Optimismus wird irdischer Machtwille, der Idealismus verfällt der dunklen Weisheit von der bösen Welt. Spitteler durchmißt das ganze Schlachtfeld des Geistes: nichts bleibt ihm als die unmittelbare Gewißheit seines Schöpferwillens und seiner Schöpferkraft. Er setzt sein Urerlebnis durch: in wirrer Welt, in einer Sprache, die ihm fremd geworden und die er sich zubilden muß, in bitterm Verzicht, in schwerer Erschütterung, in zäher Werktreue.
Am liebsten wird er immer denen sein, die seinen Kampf kennen und seinen Sieg als den Sieg des Geistes über die Verzweiflung verstehen: als das leuchtende Ja inmitten alles dröhnenden Nein von außen und von innen. So wird ihm die Kunst ein Trost der Menschen auf Erden: sie erhebt keinen andern Anspruch als innig zu erfreuen und zu beseligen. So ist ihm auch Liebe das einzig richtige Gefühl gegenüber dem Meister. Was frommte es, den Ruhm an den Hörnern zu seinen Füßen zu zwingen, läutete ihm nicht der Glockenton der Liebe aus freiem Herzen entgegen?
Ohne Grenze ist keine Gestalt. Was leuchtet, ist nicht die Schranke: aus ihr strahlt, was sie birgt. Verwandte Seele versteht nicht allein, was in ihren Grenzen erwachsen. Sie reicht hinab und hinauf in das Reich aller Seelen. Jedes Werk, aus dem Seele leuchtet, sagt mehr, als es sagt, sagt mehr, als es weiß.
Tage kommen, da wir uns von den Träumen des Herzens zur Not der Welt wenden, wo keiner ist, den nicht des Volkes jammerte. Tage kommen, die auch den Dichter der Seele zum Herold der Heimat machen. Tage kommen, da der Einzige zum Eigentum aller wird. Da leuchtet sichtbar nach, was sich von so dunklem Grunde abgehoben. Und der Dichter des Dennoch, von unerbittlicher Wahrhaftigkeit vor dem Grauen des Weltleides, singt sein Lied des Mutes, der Schönheit, der Güte. Denn auch der Seelenwerte höchste kennt er wohl. Das Dennoch des großen Ich leuchtet uns allen vor: denn die Tage, die kommen, werden das große Dennoch von uns allen fordern.
Auch vor diesem Dichter ist Dankbarkeit das wahrste Gefühl. Sein Leid ist unverloren: es ist zum hohen Lied geworden. Er haßte alle Kunstfron: er wollte erfreuen. Er haßte alle Unfreiheit: wir würden ihm übel danken, wenn wir unsre Freiheit vor ihm verlören. Seine hohe Seele bleibt uns in seinem Worte: daß wir uns von ihm erquicken, erheben, läutern lassen.
Und Aurora hebt die Hand,
Spricht den Segen übers Land:
«Was vergangen, sei vergeben.
Wer da glaubt und hofft, wird leben.
Was da faul ist, das muß fallen.
Gruß von Gott den Mutigen allen!»
Gottfried Bohnenblust