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Neunzehntes Kapitel.
Neuer Bund

Sie standen an der Glastüre, die in Sans-Regrets Zimmerchen die Aussicht freiließ. Der Invalide war beschäftigt, seinen Tornister zu packen und pfiff halblaut einen alten Infanteriemarsch durch die Zähne. »Es ist zu bemerken,« sagte der Doktor zu dem neben ihm stehenden Viktor, »daß seit gestern Abend eine bedeutende Änderung in dem Zustand des Genesenen eingetreten ist. So wie seine Gehirnsilben vorhin noch einem unruhig zuckenden Meer glichen, so scheint jetzt sein Gemüt geebnet wie ein Spiegel. Ich glaube daher, daß es keiner Gefahr unterliegen wird, wenn wir mit der Entdeckung keck herausrücken.«

Viktor nickte beifällig, meinte jedoch, man müsse das Wiedersehen nicht zu heftig herbeiführen.

In diesem Augenblick drehte sich Sans-Regret rasch nach der Tür und hatte Viktors Gesicht bemerkt, ehe derselbe sich zurückziehen konnte. Er riß die Augen weit auf, rieb sich hierauf dieselben, als ob er aus tiefem Schlaf erwachte, seine straffen Züge verwandelten sich nach und nach in lächelnde, und als Viktor langsam die Tür geöffnet hatte, trat der alte Freund gefaßt, aber tiefgerührt an ihn heran und bewillkommte ihn mit einer überraschenden Weichheit. Der Doktor stand von ferne und rieb sich vergnügt die Hände. Sein Werk war gelungen und keine Überspannung an dem Genesenen sichtbar.

»Ich wußte wohl,« sagte Sans-Regret mit einem recht milden Lächeln, »ich wußte wohl, daß ich dich noch einmal sehen würde, weil einer hinter den Wolken lebt, der die Sterne regiert, wenn er auch in Frankreich keinen Tempel mehr hat. Ich durfte doch als Preis für mein langes Leiden dieses Wiedersehen erwarten. Nicht wahr?«

Viktor weinte auf seines Freundes Brust Tränen der Rührung und stammelte Worte des Dankes.

»Bewahre, bewahre; ich bitte zu schweigen,« versetzte der Invalide und streckte sich militärisch. »Du erzeigst mir zu viel Ehre, Bürger Offizier. Das mußte so kommen, weil alles in der Welt ausgemacht ist, bevor es ans Tageslicht kommt. Ich war zu großen Leiden bestimmt, eh' ich geboren wurde, und muß denn mein Erbteil so hinnehmen. Aber diesmal, lieber Viktor, diesmal hab' ich viel ausgestanden. Den Schädel hab' ich zwar vom Beil gerettet, aber die Ungeheuer hatten mir meinen moralischen Kopf abgeschlagen. Ich glaube, daß ich noch nie so verrückt gewesen wie in den letzten Tagen. Das Glück segne den wackern Arzt, der mir wieder aus der Schlinge half. Mein Schwiegervater – ich bin gewiß, daß er heute kommt –, soll entrichten, was ich dem Doktor an Geld schuldig bin. Das übrige – die Sorgfalt, die Liebe – läßt sich nicht bezahlen. Dann aber, guter Viktor, dann bleiben wir beisammen; das ist mir aufgetragen von dem Schicksal.«

»Was könnte mir lieber sein?« entgegnete Viktor, »Du vergissest aber deine Familie. Du hast ja wieder eine Heimat, Sans-Regret. In den Armen der deinigen ist deine Stelle und ich hoffe, noch recht lange.«

Der Invalide schüttelte den Kopf, und indem er sich, wie verlegen, die Haare aus der Stirne strich, sagte er langsam: »Nicht doch, Kapitän. Ich sehe jetzt erst die Epauletten auf deiner Schulter und wünsche dir Glück zum Avancement. Nicht doch also, Kapitän. Ich werde St. Colombe schwerlich je wiedersehen. Sieh', was sollt ich auch dort? Ich bin gestern erst damit aufs Reine gekommen. Die Suzon hat gewiß meine Abwesenheit nicht überlebt. Sie hing so fest an mir. Weißt du noch, wie ich an jenem Abend mit der Frau wegging, die du mir anvertrautest? Wir hatten einen schweren Weg zu machen. Da galt es alle List und Verschlagenheit, die sich in meinem armen Kopf zusammenfinden ließ. Je nun, – wir kamen durch, waren am dritten Tag in Dinan, und ich wich nicht eher, als bis ich mit eigenen Augen die gute Frau in der Schaluppe abfahren sah, die sie nach dem englischen Schiff brachte. Hierauf kam ich erst zurück nach Hause und fand meine Suzon im Bett. Schrecken und Ungewißheit hatten sie krank gemacht, und sie sagte mir: ›Dieudonné, wenn du noch einmal von mir gehst, so ist es mein Tod!‹ – Ich versprach ihr natürlich, nie mehr von ihr und dem Kind zu weichen und brach schon in der nächsten Stunde mein Wort. Wie konnt' ich auch daheimbleiben, als ich erfuhr, wie man dich hingeschleppt, in welchen Gefahren du seiest! Voll von Angst lief ich in der Nacht fort, während Frau und Kind schliefen, und kam nach Mans, um daselbst arretiert zu werden, weil ich keinen Paß hatte. Man hätte mir beinahe getan wie dem guten armen Grognon, den man zwei Tage nach meiner Ankunft als einen Spion erschoß.«

Viktor konnte sich einer raschen Bewegung des Entsetzens nicht erwehren.

Der Invalide fuhr gleichgültig fort: »Das geschah mir zwar nicht, aber dennoch saß ich manche Woche, bis man mich endlich freiließ. Statt aber nach meiner Gemeinde mich zu begeben, die mich reklamiert hatte, und zu Suzon, die mich erwartete, lief ich nach Paris und das übrige weißt du. Ich bin weit über ein Jahr von Hause weg und gewiß hat Suzon das Herzeleid nicht überlebt. Meine Ahnungen trügen mich nie.«

Der Arzt suchte ihm diese Meinung mit Heftigkeit auszureden; Sans-Regret versetzte jedoch nur, sehr beruhigt: »Du kennst mich nicht, Doktor. Mein Kapitän wird mir aber das Zeugnis geben, daß ich recht und genau rate. Denke an Mirabeaus Schmaus vom fünften Oktober 1789. Das Gesicht ist vollkommen in Erfüllung gegangen. Das letzte Haupt, das letzte Opfer, ist am zehnten Thermidor gefallen: der Kopf des St. Just. Und wir leben noch, Kapitän! Darum laß uns nicht voneinandergehen. Sieh', ich wäre ja ganz verwaist und meine Bestimmung wäre verfehlt, denn von nun an kann und will ich nur für dich leben, bis mein Sohn herangewachsen ist, der alsdann meine Stelle vertreten und dir einst die Augen zudrücken wird, wie ich es deinem Vater getan und wie ich es von dir erwarte.«

Die Klingel des Hauses wurde gezogen und des Doktors Bedienter meldete die Ankunft eines Landmanns, der weit herzukommen den Anschein habe und nach seinem Schwiegersohn Dieudonné frage.

Der Doktor und Viktor sahen sich bedeutend an und dann mit etwas Grauen auf den Invaliden, dessen Mund schmerzlich lächelte, während sein bleiches Gesicht beinahe die hypokratischen Züge annahm. Seine Brust schien einen fürchterlichen Sturm durchzumachen, doch trat eine unerklärliche Ruhe an die Stelle desselben, bevor noch Suzons Vater in die Stube kam.

Der Schwiegersohn ging dem Alten freundlich und gefaßt entgegen, drückte ihm die Hand und sagte ihm mit sanftem Ton: »Wir haben uns lange nicht gesehen, Vater.«

Der Pächter stieß einen Seufzer aus und erwiderte trocken: »Es wäre auch in zehn Jahren noch Zeit gewesen, wie doch jetzt einmal in St. Colombe die Sachen stehen.«

»Was macht mein Sohn, der kleine Viktor?« fragte der Invalide kleinlaut.

Mit derselben Bretagnerkälte, wie oben, sagte der Pächter: »Ei, der Kleine ist recht wohlauf und läßt sich Marzellinens Milch herrlich schmecken. Du kennst die Frau des Wagners bei der Kirche. Wir haben sie als Amme zu dem Kind tun müssen.«

»Und die Schwiegermutter?« fuhr Sans-Regret nach einem kleinen Stillschweigen fort; »ist sie wohlauf?«

Der Bauer antwortete phlegmatisch: »Als ich den Brief dieses Herrn erhielt – dieses Bürgers wollt' ich sagen – und von Hause wegging, hatte meine Alte die Gicht. Es ist kein Wunder, weil jetzt das Hauswesen ganz auf ihr liegt.«

»So?«

Nun entstand ein tiefes Stillschweigen, wobei den Zuschauern unheimlich um das Herz wurde, weil sie begriffen, daß des Invaliden Ahnung ihn leider nicht getäuscht, und beide, Vater und Sohn, sich scheuten, die schauerliche Saite anzuschlagen.

»Sonst nichts Neues?« begann endlich Sans-Regret kaum hörbar.

»Nichts, als daß unser ehemaliger gnädiger Herr auch seinen Tod gefunden hat. Die Blauen haben ihn erschossen. Überhaupt ist die Sterblichkeit sehr groß in unserer Provinz – Departement wollt' ich sagen. Na, was tut's? In Paris hat es noch mehr Köpfe gekostet.

»Gut, daß du davonkamst. Ich habe für den Herrn Doktor, Bürger wollt' ich sagen, Geld mitgebracht, um ihm seine Rechnung zu bezahlen. Alsdann, Schwiegersohn, wollen wir uns auf den Postwagen setzen und nach St. Colombe fahren. Ei, beim Wetter! Du weißt nicht, daß unser Dorf einen neuen Namen bekommen hat? Es gibt ja keine Heiligen mehr und so hat man denn unsere Heimat anders getauft. Ach, was sage ich denn? Es gibt ja auch keine Taufe mehr. Wahrhaftig, wir guten Bauern aus der Bretagne wissen noch nicht, wie man in Frankreich jetzt reden soll. Ich bin unterwegs vierundzwanzig Stunden lang in Arrest gesessen, weil ich zu einem reputierlichen Menschen ›Monsieur‹ sagte und nicht ›Bürger‹. – Hast du schon eingepackt?«

»Jawohl: aber – beim Licht besehen – so ist es besser, wenn ich nicht mehr nach unserem Dorfe zurückgehe.«

»Wie du meinst,« entgegnete nach langer Pause der Alte, die Augen starr auf den Boden geheftet.

Der Invalide fuhr stockend und zögernd fort: »Ich fürchte, Vater, daß ich in deinem Hause nicht mehr alles fände, wie ich es verlassen; nicht mehr alles, was ich verlassen ...«

Der Alte nickte mit demselben starren Blick und in die Augen trat ihm das helle Wasser. Sans-Regret sprach immer bewegter:

»Ich könnte am Ende nicht mehr dort leben, würde euch zur Last fallen, ihr guten Eltern, und immer einen stillen Vorwurf in euren Augen lesen, obschon ich – der Himmel weiß es – gerade so handeln mußte, wie ich getan.«

Der Alte zuckte die Achseln, trocknete sich verstohlen die Augen und sagte fast gleichgültig: »Du willst also nicht mitgehen? Hm! Du wirst wissen, was für uns alle gut ist. Aber meine Alte läßt dich bitten, daß du uns den Viktor lässest. Wir haben den Buben lieb, um deinet- und um ihretwillen. Wir wollen ihn schon erziehen, und wenn wir das Leben haben, einen guten Bauer aus ihm machen, wenn er nicht zum Soldaten weggenommen wird, wie es deinem Schwager, dem Anton, geschehen ist.«

»Wie das Schicksal es will,« versetzte Sans-Regret. »Indessen lasse ich ihn euch mit Vergnügen, als eine Beruhigung für euch und mich.«

»Ich danke dir. So will ich also schnell den Doktor hier bezahlen und mich dann eilends auf den Rückweg machen, weil die große Stadt mich armen Bauer beinahe erdrückt.«

Der Doktor weigerte sich standhaft, die kleinste Assignate anzunehmen, und der Bretagner, nachdem er alle seine Überredungskünste verschwendet, sagte endlich zu dem Schwiegersohn: »So behalte du wenigstens das Geld; du wirst es brauchen, und bedarfst du einmal mehr, so schreibe mir oder komme selbst zu uns. Je mehr Zeit zwischen dem letzten November und deiner Rückkehr liegt, je willkommener wirst du uns sein.«

»Also im November wars?« fragte Sans-Regret erschüttert.

Der Alte nickte, suchte mit zitternder Hand sein rotes Taschentuch aus dem Sarreau hervor, zuckte ein paarmal mit den Lippen und sagte dann, dem Invaliden die Hand schüttelnd: »Leb' wohl, Dieudonné! Auf Wiedersehen.«

Der Invalide hielt ihn etwas ängstlich zurück und fragte zitternd: »Keinen Gruß von ihr?«

»Sie ließ dich grüßen,« antwortete der Alte fast tonlos.

»Keine Vergebung?«

»Sie hat dir auch vergeben.«

»Und ihr, trauernde Eltern?«

»Je nun!« rief der Alte, die schwimmenden Augen gen Himmel gerichtet und für einen Augenblick herausgehend aus seinem bretagnischen Gleichmut: »Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, sein Name sei gepriesen. Es fällt ja kein Haar von unserem Haupt, das nicht von ihm gezählt worden wäre. – Leb' wohl denn!«

Er wendete sich zum Gehen, drückte noch einmal von Herzen des Doktors beide Hände und blieb, im Begriff den Kapitän zu grüßen, vor demselben stehen, ihn mit durchdringendem Blick messend. Viktor hätte beinahe vor den großen blauen Augen des alten Mannes die seinigen niederschlagen müssen; da rief der Bretagner: »Seid Ihr nicht der Herr, der dazumal mit jener Frau in unsere Hütte kam?«

Viktor bejahte schweigend.

Der Alte sprach weiter: »Ihr habt auch nicht das Glück unter unser Dach gebracht.«

Viktor errötete und sein Herz klopfte hoch auf. Noch eine Weile sah ihn der alte Landmann mit düsterem Blick an und entfernte sich alsdann, ohne weiter um sich zu schauen.

Die Zurückbleibenden ließen mehrere Minuten im tiefsten Schweigen und Nachdenken verstreichen.

Sans-Regret betrachtete mit gefalteten Händen und tiefer Wehmut seinen jungen Freund und fragte hierauf mit halberstickter Stimme: »Hatte ich nicht recht? Hab' ich nicht die Wahrheit gesagt? O, ich kannte meine Suzon, und mein Schicksal macht sich eine Freude daraus, mir lange vorher das Schwert zu zeigen, womit es mich durchbohren will. Es soll aber von nun an mit einem kaltblütigen Fechter zu tun kriegen. Die Aderlässen des Doktors haben mein wildes Blut gezähmt und ich will jetzt fechten, bis mir auf dem Feld der Ehre der letzte Blutstropfen entströmt. – Nicht wahr, Kapitän? Du siehst jetzt ein, daß ich nirgends in der Welt sein kann als bei dir. Verstoß mich nicht. Mache aus mir, was du willst: einen Soldaten in deiner Kompagnie oder deinen Bedienten im Quartier. Fürchte nicht, daß ich wieder verrückt werde. Schwereres, als bereits hinter mir liegt, kann nicht über mich kommen, weil ich weiß, daß du mich überlebst. Ich will meinen Kopf schon zusammennehmen, und wenn auch dann und wann meine Worte etwas verwirrt klingen sollten, so erinnere dich, daß öfters ein kluger Sinn hinter der närrischen Rede steckt. – Du siehst mich so zweifelhaft an? Vielleicht lächelst du im Stillen über meine Einfalt? Vielleicht blutet auch dein Herz beim Anblick meines Elends? Vielleicht besinnst du dich gerade, wie du den lästigen Bittsteller dir vom Halse schaffen kannst? Wie sich der zudringliche, unbrauchbare Invalide beseitigen ließe? Vielleicht überlegst du gerade, ob es nicht am besten wäre, wenn du mich auf morgen vertröstetest und diesen Abend schon ins Weite kutschiertest, ohne daß ich wüßte wohin? Tue das nicht; verstoße um deines Vaters willen den Invaliden nicht! Es würde dir nicht helfen. Meine Beine sind noch gut; ich würde von Armee zu Armee pilgern, von Brigade zu Brigade, von Garnison zu Garnison, überall wo französische Fahnen wehen, und würde dich doch endlich finden, entweder im einsamen Zelt, oder im Getümmel des Hauptquartiers, oder beim Bankett deiner Kameraden; würdest du mich dann wegjagen? Erspare dir das. Nimm mich mit; um deines Vaters willen verstoß mich nicht!«

Wie ein Knabe weinend, riß Viktor den Invaliden an seine Brust und schluchzte: »Wäre ich ein Mensch, wenn ich erst solcher Aufforderungen bedürfte, um mein Schicksal mit dir zu teilen, mit dir, der alles für mich hinwarf, dem ich mein Leben verdanke? Du gehst mit mir, mein Alter, und nur eine feindliche Kugel soll den Bund zerreißen, den ich dir hiermit zuschwöre!«

Sans-Regret jubelte laut auf und schrie: »Das waren Dammartins Züge, das waren Dammartins Worte! Ewig mit dir und immer mit dir, bis in den Tod mit dir! Es lebe die Republik!«


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