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Sechstes Kapitel.
Der Zug nach Versailles

Sans-Regrets Ahnung war eingetroffen. Er hatte die Nacht im Arrest zubringen müssen; als jedoch die neunte Stunde des Morgens schlug, holte ihn der Sergeant Leblanc schnell zum Gouverneur. Der alte Herr von Sombreuil war in der heftigsten Bewegung. »Guter Freund,« rief er dem Invaliden entgegen, »wir wollen alle Erörterungen über dein rätselhaftes Ausbleiben heut nacht vorderhand beiseite setzen. Ich bin in der gräßlichsten Ungewißheit. Nach dem gestrigen stürmischen Tage – denn auf allen Punkten in Paris hat es Auftritte gegeben, wie der vor unserem Hotel – hielt ich es für angemessen, meine Tochter nach Versailles in das Haus der Gräfin von Tessé zu senden. Vor einer Stunde ungefähr ist sie allein von hier weggefahren, um ihre alte Tante, die in der Straße Blancs Manteaux wohnt und sie nach Versailles begleiten soll, abzuholen. Nun erhalte ich jedoch die überraschende Nachricht, daß es jenseits der Seine, besonders aber auf dem Grèveplatz, tumultuarisch zugehe. In einigen Distrikten der Stadt soll man schon die Sturmglocke angezogen haben. Man behauptet, der ganze Aufstand habe zum Zweck, eine Menge Volks nach Versailles zu entsenden, um daselbst alles zu ermorden, was einen edlen Namen führt und an dem Throns hängt. Du, mein guter Sans-Regret, bist in dieser Verwirrung meine einzige Hoffnung. Mein Amt macht mir's zur Pflicht, dieses Haus nicht zu verlassen, keiner der Offiziere darf von seinem Posten weichen. Ich wüßte niemand, der an meiner Tochter mehr Anteil nähme, als du, ihr lieber Lehrmeister. Ich gebe dir Urlaub; suche Emilie auf; bringe sie zurück, ehe ihr Leben in Gefahr gerät. Sie hat vielleicht die Stadt noch nicht verlassen, denn die Tante ist saumselig. Laufe nach der Straße St. Dominique, wirf dich in einen Fiaker; vielleicht ist die neue Brücke schon fahrbar; wähle den kürzesten Weg und bringe mir um jeden Preis, selbst wenn du bis nach Versailles eilen müßtest, mein Mädchen zurück!«

Sans-Regret war sogleich entschlossen. Wenn auch nicht Subordination ihm schnellen Gehorsam geboten hätte, so waren doch seine Freundschaft für Emilie und seine Anhänglichkeit für Dammartin hinreichende Momente zur Einwilligung. Lag nicht das Hotel de Provence unfern der Straße Blancs Manteaux? War es nicht möglich, daß der junge Garde du Corps Paris noch nicht verlassen? Ihn warnen, ihn auf seinen Knien beschwören, nicht nach Versailles zurückzukehren, wollte Sans-Regret, und dann erst die Spur des Fräuleins Sombreuil verfolgen. So wie er war, in dem leichten Kamisol, mit der Hausmütze auf dem Kopf, lief der Invalide voll kindlicher Lebhaftigkeit über den Gartenplatz des Hauses weg, hatte bald die Brücke, den mit Kanonen besetzten Graben hinter sich, stand, ehe er sich's versah, in der Straße St. Dominique, saß mit Blitzesschnelligkeit in dem ersten besten Fiaker, schnitt die Straße du Bac durch, rollte über die Königsbrücke, am Kai hinauf, am Chatelet vorüber und näherte sich dem Grèveplatz. Ein wirres Getöse schallte ihm schon von fern entgegen; die Gestade des Flusses waren mit lärmenden Gruppen besetzt; keine Kutsche konnte mehr durch das Getümmel durchkommen. Sans-Regrets Fiaker hielt der Kirche St. Jaques de la Boucherie gegenüber fluchend an, beteuerte, daß er nicht weiterfahren wolle und zwang den Invaliden, auszusteigen. Vergebens bot dieser, von dem Gouverneur reichlich mit Geld versorgt, einen hohen Preis; der Mietkutscher hörte nicht, ließ seinen Mann mitten unter dem Volkshaufen stehen und fuhr eiligst davon, um seine Pferde zu retten; denn schon von weitem vernahm man das wütende Geschrei des Pöbels, der, vor dem Rathause versammelt, mit Ungestüm verlangte, daß die Kanonen herausgebracht und mit nach Versailles geschleppt werden sollten. Das Hotel de Provence lag noch eine gute Strecke entfernt; der kürzere Weg führte über den Grèveplatz; Sans-Regret hatte keine Wahl. Mit den Ellenbogen rudernd, wie ein Schiff in stürmischer See, drängte er sich durch die rasende Menge. Ein Schauspiel, wie er es noch nie gesehen, zeigte sich ihm vor dem Rathause. Mehrere tausend Weiber waren hier versammelt: Freudenmädchen des Palais Royal, in weißen Kleidern, gepudert und frisiert, Arbeiterinnen aus verschiedenen Klassen in ihren Festtagsgewändern und Damen der Halle, mit hochroten Gesichtern, und beinahe eine jede mit einem breiten Küchenmesser versehen. – Einige aus den Weiberhaufen trugen Spieße, Besenstiele oder Ofengabeln in den Händen; andere brachten am hellen, lichten Tage Fackeln herbei, schwangen sie wütend in der Luft und drohten das Rathaus anzuzünden. Die Pforten des Gebäudes waren aufgesprengt. Über die Treppen, durch die Gemächer wirbelte das rebellierende Volk. Aus den Fenstern des Archivs wurden ganze Massen Papiers auf die Straße in die Winde gestreut; andere Schriften wurden in den Zimmern selbst verbrannt, daß Flamme und Dampf zu den Fenstern hinausschlug. Die Schränke, worin das neueingeführte Papiergeld lag, waren erbrochen und bestohlen; in allen Winkeln und Kellern des altertümlichen Hauses wühlte die Neugier, die Habsucht und die Wut nach Geld und nach Waffen. Während dieses im Innern des Hauses vorging, wo sich niemand von der Munizipalität sehen ließ, den Abbé Lefebure ausgenommen, der Schießpulver hergeben sollte, und beharrlich leugnete, einen Vorrat davon zu haben, – währenddessen hatten einige verwegene Burschen den berüchtigten Laternenpfahl an der Ecke der Straße Mouton erklettert und einen neuen Hängestrick daran befestigt. Eine Schar von gedungenen Aufhetzern, größtenteils in Weiberkleider vermummt, rief mit Gezeter die Namen Bailly und Lafayette und weihte sie dem Tode. Sans-Regret segelte durch die brüllende Flut, seine Gedanken nur nach einem Ziele gerichtet, und überhörte beinahe das Angstgeschrei des armen Abbés im Rathause, den das Volk in seiner Wut an die Gewichtstricke der großen Uhr aufknüpfen wollte und den nur ein Wunder rettete. Der Invalide war glücklich über den Platz gekommen, als aus allen Gassen um denselben her die Bürgermiliz zusammenströmte, ein Viereck um den Platz schloß und die wütenden Gruppen in einen eingefangenen Haufen zusammenpreßte. Das Volk war stutzig, als es die glänzenden Bajonette gegen sich gekehrt sah, aber in einem Augenblick war es wieder anders. Steine flogen gegen die Soldaten; ein Hagel von Verwünschungen folgte ungesäumt. Die Nationalgarden schämten sich entweder, auf die aufrührerischen Weiber zu schießen, oder waren zu mutlos, dem Drang des Volkes die Spitze zu bieten. Sie wichen und Sans-Regret dankte im stillen dem Himmel dafür; er konnte ungehindert weiter vorwärts dringen und kam an dem Hotel de Provence an, ohne daß ihm weiter etwas begegnet wäre, als hie und da ein Volkshaufe, der ihn gezwungen hatte, zu rufen: es lebe die Nation und Mirabeau! – So rastlos Sans-Regrets Lauf gewesen war, so wurde doch der arme Mann beinahe zu Stein, als er in dem Hotel vernahm, daß der Garde du Corps bereits um acht Uhr abgereist sei und das Gerücht sich verbreitet habe, daß eine Bande von Mördern einen jungen Offizier auf den elysäischen Feldern getötet. Ein Strom von Tränen entstürzte den Augen Sans-Regrets. Eifrig jedoch in seiner Pflicht, suchte er den eigenen Schmerz zu vergessen, gedachte nur des Kummers, den Sombreuil empfinden mußte, und ließ sich von dem nächsten besten Kabriolet, so schnell die Räder laufen konnten, nach der Straße Blancs Manteaux bringen. Auch hier war alles schon unruhig. Aus den Vorstädten, von den Boulevards lief und rannte das Volk haufenweise der Seine zu. Weiber, mit Trommeln an der Seite, schlugen die Reveille durch alle Gassen. Fast aus jedem Hause kamen Mädchen oder Dirnen, um den Zug zu verstärken. Dazwischen Patrouillen, hin und wieder ganze Bataillone der Nationalgarde; Truppen von Arbeitern oder Taugenichtsen aus der Hefe des Volkes, mit Messern, Pistolen und Spießen versehen. Längs den Straßen hin eingesprengte oder von Menschen belagerte Bäckerläden, wo sich die Starken der Halle mit Wasserträgern oder Bedienten oder mit der kreischenden Schar der Köchinnen, mit Austerweibern und Gemüseträgerinnen um ein paar Pfund Brot prügelten und dabei die fürchterlichsten Schimpfworte gegen den König und den Maire ausstießen. Die Weinschenken waren nicht minder voll. Der Surène floß in Strömen; verzerrte Gesichter blickten aus jeder Kellerluke und aufrührerische Lieder wurden gesungen, die Gesundheit des Herzogs von Orleans getrunken und allen Königlichen der Tod gedroht. »Was schimpft ihr vergebens? Warum schlagt ihr euch um das teure Brot?« riefen die Agenten der Faktion dazwischen, den Schuster Chalanton an der Spitze. »Geht nach Versailles! Dort sitzt der Bäcker und die Bäckerin. Zwingt sie, das Getreide herauszugeben, welches schon geladen ist, um nach Wien geschickt zu werden, wo die Früchte dieses Jahr mißraten sind. Wollt ihr Geld? Nehmt hier, und was euch noch fehlt, holt nur auf dem Rathause!«

Und die Taler des Palais Royal rollten verschwenderisch in die Taschen derjenigen, die man für geeignet hielt, das Volk aufzuwiegeln und zu befeuern, und unter dem Trommelschlag der rasenden Weiber wälzten sich die Wellen des Pöbels unaufhaltsam der Seine zu.

Sans-Regret kam auch bei Emiliens Tante zu spät. Die Leute des Hauses waren in der größten Bestürzung. Vor einer Stunde ungefähr, da noch alles in dem Quartier ruhig gewesen, waren die beiden Damen nach Versailles abgereist. Über ihr Schicksal konnte man nichts weniger als ruhig sein, da der schnell entglommene Aufstand das Schlimmste für alle Adeligen, besonders in Versailles, besorgen ließ.

»Und wenn der Teufel zehnmal darin säße und die verdammten Pariser Weiber zu eitel Drachen würden, so will ich dennoch meine Sendung vollenden und das Fräulein finden, wo es auch sei!« rief Sans-Regret, dessen Hartnäckigkeit durch die vielen Hindernisse zu einer eigentlichen Tollkühnheit wurde.

Immer noch dasselbe Kabriolet behauptend, kehrte er zurück und schlug den Weg nach dem Platz Ludwigs XV. und den elysäischen Feldern ein, wo er zu erfahren hoffte, ob sich in der Tat mit seinem jungen Freunde ein Unglück ereignet oder ob es nur ein leeres Gerücht gewesen. Das Wetter war abscheulich; ein feiner Regen, der ohne Unterlaß herabrieselte, durchnäßte Sans-Regrets Kleider, und er wünschte sich Glück, in einem Wagen zu sitzen, weil in dem Kot auf den Straßen kaum fortzukommen war. Die Pferde hatten Mühe, ihren schnellen Trott zu halten, und bald war es mit Sans-Regrets Glück vorbei, indem ihn die Verhältnisse gebieterisch zwangen, sein bescheidenes Fuhrwerk zu verlassen.

Auf der Grève war kein Volkstumult mehr; die Nationalgarde hatte sich dort in Massen aufgestellt und die Volkswanderung nach Versailles bereits begonnen, ungehindert, unverwehrt. Längs des Kais, den Tuilerien zu, wogte die abenteuerlichste Karawane.

Sans-Regrets Kabriolet geriet in einen der Haufen, die zur Seite streiften. Einige Weiber fielen den Pferden in die Zügel. »Wohin?« schrie die erste unter ihnen, eine Dirne aus dem Palais Royal. »Willst du nach Versailles, alter Lapin? Schäme dich, im Kabriolet zu fahren wie ein Aristokrat, während Damen bis an die Knie im Kot waten müssen! Steig' aus, gib mir den Arm und begleite uns!«

Die anderen wiederholten im Chorus: »Heraus! Weg mit dem Kabriolet! Die Pferde her! An die Kanonen mit ihnen! Keiner darf nach Versailles kommen, bevor wir nicht da sind!«

Der Kutscher wütete und schimpfte wie besessen; Sans-Regret protestierte zuerst gelinde, dann wärmer, endlich so lebhaft, wie ein Marseiller werden kann; alles half nichts. Das Freudenmädchen hing sich an seinen linken Arm, eine Wäscherin aus Marseille, vergnügt, einen Landsmann gefunden zu haben, an seinen rechten.

Unter dem leichtfertigsten Geschwätz ging der Trupp weiter und vereinigte sich bald mit dem Hauptkorps. Acht oder zehn Trommelschlägerinnen machten den Vortrab; als dann kam der Anführer der ganzen Expedition, der Bastillenstürmer Maillard, in einem alten, abgetragenen Huissierrock, mit kurzen Beinkleidern und Stiefeln, in der Hand einen blanken Degen. Zwei der derbsten Weiber, mit Musketen bewaffnet, ehemalige Marketenderinnen, verrichteten bei dem freiwillig gewählten General Adjutantendienste. Die eine ritt auf einem mageren erbeuteten Postklepper, die andere schleppte sich halb trunken durch den Morast, die Flinte auf der rechten Schulter und mit der linken Hand ihre Röcke unanständig aufhebend, in deren Taschen Laubtaler klangen in Hülle und Fülle.

»Wir brauchen kein Geld,« schrie das Fischweib, »unser Papa Orleans gibt uns dessen genug. Wir brauchen Brot, und das wollen wir von Versailles holen, samt dem Kopf der Königin!«

Ihre Umgebungen klatschten ihr fortwährend Beifall zu und es gab kein Schimpfwort, kein zotiges Lied, das nicht in diesen Weiberreihen gehört worden wäre. Der ganze Haufen bestand aus ungefähr achttausend Weibern; in der Mitte fuhren die vom Grèveplatz mitgenommenen Kanonen, mit aufgefangenen Pferden bespannt. Auf dem Geschütz ritten, wie auf den Pferden, die mutigsten der Weiber, kolossale Gestalten, in flatternden Hauben, weißen Schürzen, brennende Lunten und Bratspieße oder dergleichen Waffen in der Hand.

Als sie an die Tuilerien kamen und Maillard den gewöhnlichen Weg nach Versailles einschlagen wollte, schrien sie wie aus einer Kehle: »Durch die Tuilerien! Durch den Garten der Tuilerien!«

»Mesdames,« antwortete Maillard, »bedenken Sie, daß die Schweizer uns den Eingang verwehren, und daß es sich überhaupt nicht schickt, durch den Garten des Königs zu ziehen.«

Hierauf erfolgte ein Gebrüll der Wut. »Weg mit Maillard! Wir brauchen keinen Kommandanten, der nicht tut, was wir wollen! Der Teufel hole die Schweizer! Wenn wir uns bemühen, nach Versailles zu gehen, in dem schändlichen Wetter wie heute, so kann der König Veto wohl zugeben, daß wir seinem Garten die Ehre unserer Gegenwart schenken!«

Eine der ärgsten Schreierinnen lief auf die Schildwache an dem Gitter zu und forderte Durchlaß. Der Schweizer verstand den Dialekt der Dame nicht, merkte indessen wohl, daß hier nicht das Beste im Schilde geführt wurde; er zog den Degen samt der Scheide aus der Kuppel und stellte sich an, als wolle er das mit einem Besenstiel bewaffnete Weib wie eine Katze wegjagen. Dieser Hohn erbitterte die Gefährtinnen der Sprecherin.

Maillard, eifersüchtig, sein Ansehen zu behaupten und seine geheimen Oberen zufrieden zu stellen, ließ sich mit dem Schweizer in Unterhandlungen ein und gab im Namen aller Damen das Wort, daß nicht das geringste im Garten verdorben werden sollte.

Der Soldat blieb stockig auf seiner Consigne und zog den Degen. Maillard tat ein Gleiches. Die beiden fielen aus, parierten, ohne sich zu verwunden, und gaben ein lächerliches Schauspiel.

Den Weibern riß die Geduld. Sie schlugen mit Stöcken und Spießen auf die Degen der Kämpfenden, daß sie zu Boden fielen, rissen dann den Schweizer bei den Haaren und bei den Ohren zur Erde und schlugen und traten so lang auf ihm herum, bis er sich nicht mehr rührte. Maillard bemächtigte sich hierauf des Schweizerdegens und ging, denselben in der Linken führend wie den eigenen in der Rechten, vor dem Zuge weiter voran.

Auf dem Platz Ludwigs XV. stand eine Menge Volks, und auf den elysäischen Feldern stießen viele neue Weibertrupps zu den übrigen, die eine Menge Individuen mitbrachten, die sie auf den Straßen aufgegriffen hatten: Frauen aus allen Ständen, Fromme, die zur Kirche gehen wollten, Verkäuferinnen, die einen Augenblick ihren Laden verlassen hatten, Fräuleins, die auf dem Wege nach ihrer Pension erwischt worden waren, Damen, die man aus ihren Reisewagen gezerrt hatte wie den guten Sans-Regret aus dem Kabriolet, um sie den Spaziergang nach der Residenz mitgenießen zu lassen. Das Weinen, Schreien und Klagen der armen Aufrührerinnen wider Willen bildete einen auffallenden Kontrast zu der wilden Freude des Volks und zu dem Mutwillen, womit die Armen gezwungen wurden, in den Reihen des Pöbels zu figurieren.

Sans-Regret kam an ihnen vorbei; seine scharfen Augen suchten unter dem Gewühl die Gesichtszüge seiner Schülerin; die Gesuchte war darunter nicht zu finden. »Wohl ihr,« sagte Sans-Regret in sich hinein, »wenn sie der Stadt entwischt ist, bevor der Sturm völlig losbrach. Wer sagt mir aber, ob mein junger Dammartin sich eines gleichen Schicksals zu erfreuen habe?« Da wandte er sich plötzlich zu der Landsmännin an seinem rechten Arm und fragte höflich: »Kann Mademoiselle mir nicht sagen, ob es Grund hat, daß bereits ein Garde du Corps in dieser Gegend ermordet wurde?«

»Ich glaube schwerlich, mein lieber Landsmann,« versetzte die robuste Schöne, »die Herren sollen ja heute erst alle ermordet werden; ich freue mich ganz entsetzlich auf den Spektakel. So viele hundert hübsche junge Leute! Es soll keiner mit dem Leben davonkommen, wie es heißt. Die Königin ist ganz rasend in das Korps verliebt und soll schon oft in der Uniform eines Gardisten die Kasernen derselben besucht haben. Sie will an der Spitze der Herren Offiziere in Paris einreiten und alles in Brand stecken; hat sich aber gewaltig verrechnet, wir kommen ihr zuvor.«

»Der König ist ein guter, dummer Mann,« nahm das Freudenmädchen das Wort, »der Herr Herzog ist ein ganz anderes Genie. Ich war gestern abend dabei, wie man aus seinen Fenstern Geld unter das arme Volk geworfen hat. Die Frau Gräfin von Genlis, seine Gouvernante, hat dasselbe getan. Eine kreuzbrave Frau, die niemand den Respekt verweigert. Sie ist so ganz wie unsereins, liberal und geschminkt. Sie trägt auch eine kleine Bastille en Medaillon, und verdiente weit eher auf dem Thron zu sitzen, als die Österreicherin. Wenn der Papa Orleans König ist, so muß er sich von seiner Betschwester scheiden lassen und die gute Genlis heiraten; das wollen wir im Palais Royal schon machen; der dicke Papa tut uns alles zu Gefallen.«

Ein Trupp von Männern in Weiberkleidern schwärmte herbei. Die Kerle, vermummte Lastträger, bestochenes Volk aus den Gardes françaises, Schiffsknechte oder Müßiggänger, sahen fürchterlich aus. Die Flatterhauben saßen schief und lächerlich auf den breiten, backenbärtigen Gesichtern. Röcke von den grellsten Farben flogen um die riesigen Formen der Bursche. Die sehnigen, behaarten Arme sahen entblößt unter den buntgeblümten Halstüchern hervor, und die nackten Füße, an welchen häufig Narben verrieten, daß ein Galeerenring daran gesessen, steckten in Holzschuhen. Die Elenden trugen Messer oder starke Knüppel in der Faust.

»Es lebe Orleans!« schrie einer von ihnen, der die letzten Worte der Dirne vernommen hatte; »wir müssen die Hyäne mitsamt ihrer Brut umbringen; dann wird's Brot geben und Geld, je länger je mehr. Ist das ein Patriot, den ihr mit euch führt, ihr Weiber? Der Kerl sieht aus wie ein Invalide. Dein Name?«

»Ich bin einer der alten Amerikaner,« erwiderte schlau und pathetisch Sans-Regret, »ich bin der Fechtmeister des Generals Lafayette gewesen und habe vierzehn englische Marschälle mit eigenen Händen umgebracht, um die Nation zu retten und der Freiheit einen Tempel zu errichten. Sie haben mir in Amerika den Cordon bleu umhängen wollen, ich hab' ihn aber verschmäht, weil ein echter Patriot keinen Orden trägt. Heute begleite ich diese Damen auf ihre Einladung nach Versailles oder wohin sie befehlen.«

Die Zuhörer jubelten; das Freudenmädchen drückte einen Schmatz auf die Wange des Invaliden; seine Landsmännin pries die Galanterie der Provence und die Kerle schrien aus vollem Halse: »Ruhm und Ehre allen Amerikanern! Sie meinen es gut mit der Nation und haben Anspruch auf die öffentliche Dankbarkeit!«

Einer der Leute gab sich dem Invaliden als einen derjenigen zu erkennen, die ihn am gestrigen Tage in das Haus der Arroy geführt hatten.

Sans-Regrets Gesicht verklärte sich, er rief: »So kannst du mir vielleicht sagen, was aus dem guten Offizier geworden ist, der gestern bei mir war?«

»Er wird schon warm sitzen,« antwortete der Kerl, »Papa Adam, der uns in Sèvres erwartet, hat den Auftrag, den jungen Herrn festzunehmen, damit er uns keine dummen Streiche macht. Das weiß ich von meinem Gevatter Chalandon. 's ist auch besser für den Herrn, daß er nicht in Versailles ist, wenn wir daselbst eintreffen. Er möchte nicht wohlfeilen Kaufs davonkommen. Wir, wie wir da sind, haben uns das Wort gegeben, keinen von des Königs Leibwache durchschlüpfen zu lassen, und der große Jourdan hat bereits sein Beil zu diesem Fest gewetzt. Dort kommt er gerade heran. Urteilt selbst, ob nicht bei seinem Anblick die Gardisten alle samt und sonders davonlaufen müssen.«

Der Mann, von welchem also geredet wurde, kam herbei, und Sans-Regret, der nicht leicht sich vor etwas entsetzte, erschrak vor dem Äußern eines Menschen, der gar nicht nach Frankreich, nicht in ein zivilisiertes Land zu gehören schien. Seine Größe war ansehnlich zu nennen, sein Körper mager, aber stark gebaut, seine Kleidung widerlich und abenteuerlich. Er trug Sandalen, mit starken ledernen Riemen an den Fuß befestigt, weite Matrosenpantalons, ein elendes Gilet, die Hemdärmel aufgestreift. Um den nackten Hals wie um die bloßen Arme hing ein abgetragener Mantel, dessen Stoff und Farbe gleich schlecht waren. Unter diesem Mantel jedoch hatte er, es vor der Nässe zu sichern, ein hell- und scharfgeschliffenes Beil. Eine zuckerhutförmige, schwarze Filzmütze saß auf den starrenden Haaren und ein ungeheurer Bart fiel über die Brust.

»Wenn mein Beil sich nicht des französischen Volks erbarmt,« prahlte dieses Ungeheuer zu wiederholten Malen, »so ist kein Heiliger da, der hilft. Ihr seid viel zu versöhnlich, viel zu rechtschaffen gegen die Aristokraten. Wozu führt ihr zum Beispiel das heulende Weibsvolk mit euch? Man hätte diejenigen auf der Stelle niederschlagen sollen, die sich nur mit einem Wort weigerten, diese imposante Deputation zu vermehren! Seht dort wieder das ekelhafte Gezerr! Die Dämchen, die dort angehalten werden, sind auch von den Widerspenstigen. Die Jüngere sieht aus wie die Polignac. Sie ist es vielleicht, und wenn sie es ist, so laß ich mir's nicht nehmen, sie auszuweiden!«

Der gräßliche Jourdan setzte sich in schnellern Schritt und Sans-Regret folgte mit klopfendem Herzen seinem Beispiel, als er mit Entsetzen bemerkte, daß die vermeinte Polignac niemand anders sei, als Emilie Sombreuil.

Es war auf der Straße nach Chaillot, ein paar hundert Schritte von dem Dorf entfernt. Das Fräulein Sombreuil und ihre Tante standen niedergeschlagen neben ihrem Wagen, der zerbrochen in dem Chausseegraben lag. Sie waren dem Sturm der Andringenden preisgegeben, weil die Einwohner von Chaillot ihre Häuser verlassen oder verschlossen hatten, aus Furcht vor den anrückenden Pariserinnen, deren Marsch schon kund geworden war. Es war ein mitleidwerter Anblick, die alte Tante zu sehen, wie sie frierend und durchnäßt nur bebte, ohne ein paar zusammenhängende Worte hervorbringen zu können. Das Fräulein war mutiger, sie weigerte sich, der saubern Deputation beizutreten, viel herzhafter als der Kutscher seine Pferde verteidigte, die man ihm unbarmherzig wegnahm; wenn sie weinte, so waren es Tränen des Verdrusses und des Zorns, die in ihre Augen traten.

Ein Kreis schimpfender Frauen hatte sich um sie versammelt. Jourdans gräßliche Stimme, mit der er ausrief: »Das ist die Polignac! Auf meine Ehre, die Polignac, die Kupplerin der Österreicherin! Schlagt sie doch tot im Namen der Nation, ohne weitern Prozeß!« übertäubte noch das Schelten der trunkenen Weiber.

Es gestaltete sich ein ordentliches Verhör auf der Landstraße, dem sich die Sombreuil fügen sollte, als plötzlich, wie ein Schutzengel, der Invalide sich zu seiner Schülerin durchdrängte.

Sie schrie auf vor freudigem Entzücken und rief ihm zu: »Ei, wo kommt Ihr her? Doch gut, daß Ihr kommt. Seht, wie unwürdig dieses Gesindel mich behandelt! Der Pöbel ist mutig gegen ein paar Frauenzimmer, die keine Waffen haben. Befreit mich doch aus seinen Händen, wenn Ihr könnt.«

»Das wird schwerhalten, mein Fräulein,« versetzte Sans-Regret. »Vor allem jedoch kommt es darauf an, den Leuten zu beweisen, daß Sie nicht die Polignac sind, wofür man Sie mit Gewalt halten will.«

Er wendete sich nun mit aufgehobenen Armen zu dem umherdrängenden Volk und rief so laut er konnte: »O ihr wackeren Pariserinnen! Euer Verstand und eure Delikatesse sind allenthalben, in so vielen Weltteilen als es gibt, bekannt. Man traut euch so viel Witz und Vernunft zu, daß sogar die Tyrannen aus eurer Mitte diejenigen wählen, die ihre Kinder erziehen sollen. Wie können Sie daher, meine Damen, nur einen Augenblick wähnen, daß dieses Fräulein, das ich sehr gut kenne und für das ich bürgen darf, die verhaßte Polignac sei? Dieses Fräulein ist schön, die Polignac ist es nicht, oder ich müßte mich sehr irren! Diese Dame ist jung und die Polignac hat, wenn ich's recht treffe, ihre vierzig Jahre wohl gezählt! Diese Dame ist eine echte Französin und die Polignac gehört zu der Verschwörung in Wien. Geben Sie doch der Vernunft Gehör! Und Sie, patriotischer Maillard, vereinigen Sie Ihre Stimme mit der meinigen. Ich bin auch Soldat gewesen, ich weiß, welche Talente ein General besitzen muß und verehre dieselben in Ihnen. Sie haben sich bis auf den jetzigen Augenblick so tapfer und klug benommen, wie der große Maréchal de Camp Xenophon an der Spitze von zehntausend Männern, die doch leichter regiert werden können als zehntausend Weiber. Sie werden die Tochter eines Kollegen nicht der Gefahr überlassen, eines Sombreuil, der seinen Invaliden die Liebe zur Nation mit jedem Tage mehr und mehr einschärft!«

»Sombreuil?« schrien mehrere Stimmen in Jourdans Umgebung, »die Familie konspiriert mit den Polignacs! Hat nicht der junge Sombreuil den Julius von Polignac mit Lebensgefahr aus den Händen des Volks gerettet, das ihn zur gerechten Strafe aufknüpfen wollte? Weg mit dem Gouverneur der Invaliden!«

Dagegen bot Maillard, der geschmeichelte Maillard, seinen ganzen Einfluß auf, um die Weiber anders zu stimmen. Es gelang ihm nach und nach. Neugierig fragten die Damen nach Sans-Regrets Namen und seinem Beruf, sich in die Sache zu mischen. Einige von den Männern, die sich früher mit Sans-Regret unterhalten, sprachen zu seinen Gunsten:

»Er ist ein alter Amerikaner, der alte Schnauzbart,« sagte der eine hier.

»Er hat vierzehn englische Marschälle ums Leben gebracht!« sagte der andere dort, und fast einstimmig erschallte darauf das Gutachten der weiblichen Jury:

»Es soll der Sombreuil nichts zu leid getan werden; aber sie muß bei dem Korps bleiben und sich ordentlich aufführen, daß man keinen Verdacht gegen sie zu fassen habe!«

Das Urteil war unwiderruflich, keine Appellation galt. Zürnend und niedergeschlagen ging das arme Mädchen seinem weitern Schicksal entgegen. Zum Unglück wurde sie auch von ihrer Tante getrennt, die man in eine andere Rotte verwies, wo ein paar freche Weibsbilder mit der frommen Dame ihr Gespött trieben. Auch Emilie war von solchen Prüfungen nicht frei. Ein paar Weiber aus den Vorstädten, vierschrötige Gestalten, mit unzüchtigen Gebärden, Stumpfnasen und leichtfertigen schwarzen Augen, nahmen das Fräulein in die Mitte.

»Mußt auch einmal versuchen, wie sich's zu Fuße geht!« sagte die eine spöttisch, »man muß sich an alles gewöhnen, Püppchen. Die Reihe, in der Kutsche zu fahren, ist jetzt an uns gekommen. Wir gehen zu Fuß nach Versailles und fahren in den Karossen der Königin zurück.«

»Was wolltest du in Versailles machen, mein Kind?« fragte die andere in demselben Ton. »Hast du einen Liebsten unter den Gardes du Corps? Laß dir's vergehen, mein Schatz. Mit den Herren ist's aus. Der liebe Gott ist gerecht in seinem Zorn. Der Spitzbube von Gardist, der mich vor einem Jahr samt meinem Kinde sitzen ließ, wird auch seinen Lohn bekommen!«

»Ach, die Männer sind abscheulich!« sprach die erste lachend, »aber die Königin ist an allem schuld. Sie hat allen am Hof den Kopf verrückt und es ist Zeit, daß der Skandal ein Ende nimmt. Wir haben kein Brot, aber auch für sie ist das letzte Brot gebacken.«

Eine Furie rannte herbei mit glotzenden Augen und einem Pfeifenstummel in dem ungeheuren Mund.

»Sehen Sie meine Schürze, Mademoiselle!« schrie sie und qualmte den stinkenden Tabak in das Gesicht des Fräuleins, »sie ist weiß wie Schnee und ich will darin das Herz der abscheulichen Österreicherin nach Paris bringen!«

»Und ich ihren Kopf!«

»Und ich ihre Eingeweide!«

»Und ich ihre falsche Hand!« schrien viele bestialische Stimmen durcheinander, worauf mitten im Kot der Heerstraße ein bacchantischer Tanz angehoben wurde, der Emiliens Ekel auf den höchsten Gipfel trieb.

Sie wankte; sie sah verzweifelnd nach Sans-Regret um, der jedoch eben beschäftigt war, ihre Tante vor Mißhandlungen zu schützen. Sie wäre in Ohnmacht dahingesunken, wenn nicht ein mitleidiger Arm sie unterstützt, eine wohltuende Stimme sie getröstet hätte.

Mit Überraschung sah sie neben sich ein Mädchen von sehr gefälligem Äußern, aus dessen Zügen noch eine zarte Jugend sprach, obgleich die Gestalt gänzlich ausgebildet war.

»Fassen Sie Mut, mein Fräulein!« sagte die Fremde, die sorgfältiger geputzt war als ihre Gefährtinnen, »es soll Ihnen nichts zu leide geschehen. Sehen Sie, es geht allenthalben so. Wenn einige das Rechte wollen, wollen viele das Unrechte. Ich und meine Freundinnen in den weißen Kleidern sind erwählt worden, dem guten König Ludwig die Beschwerden seiner getreuen Stadt Paris vorzutragen. Wir sind ehrliche Arbeiterinnen; ich bin nicht ungeschickt in der Schnitz- und Vergolderarbeit. Fragen Sie nur einmal nach Louise Chabri: Sie werden's hören. Dabei sind wir aber arm und können dem König besser sagen als eine vornehme Dame, wo uns der Schuh drückt. Verlassen Sie sich daher auf uns, Mademoiselle, es soll Ihnen bis Versailles kein Haar gekrümmt werden, und wenn ich oder meine Kameradinnen damit etwas helfen kann, so soll es gerne geschehen.«

Beschämt und dennoch erfreut von dieser zufälligen Begegnis, ging das Fräulein Sombreuil an Louisens Seite weiter und gelangte mit dem ganzen Troß nach Sèvres.


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