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Als Liliencrons erste Dichterzeit begann, lebte er im Druck und Drang trüber Verhältnisse. Mit Müh' und Not hatte er sein Ruhegehalt wieder zugesichert bekommen, unentschieden war die Vereinigung mit Helene, unbestimmt sein künftiger Beruf, und schon meldeten sich die Schulden aus der Offizierszeit. Die verbitterten dann manchen Tag der Kellinghuser Jahre, und da der schriftstellerische Verdienst sehr gering war und neue Schulden hinzukamen, da Krankheit und körperliche Schmerzen eintraten, häufte sich die Schale der Sorgen bis zum Rande.
Die Lage in Altona erschien in manchem Betracht ein wenig besser; vor allem: Liliencron konnte sich, wenn er aus der immer wieder gesuchten Einsamkeit auftauchen wollte, aussprechen. Falke, dann Ernst, Loewenberg, Fuhrmann, Bulcke, Besucher wie Anna von Krane, boten Widerhall und gingen herzhaft mit, immer in dem Gefühl, von Liliencron beschenkt zu werden. Aber die äußeren Verhältnisse blieben im übrigen drückend genug, so freundlich und fraulich auch Elise Rehburg und ihre Hausgenossin Alma Holtorf sich bemühten, Liliencron das tägliche Leben erträglich zu machen. Er hatte ja im Grunde noch immer nichts. Von seinem Ruhegehalt gehörte ein großer Teil Augusta, und die bessere Bezahlung seiner Werke durch Schuster & Loeffler, das Ergebnis jener Sammlung, alles deckte niemals die alte Schuld und die nötigsten Bedürfnisse. Das enttäuschte manchen Helfer; der glaubte dann der durch manches Gedicht genährten Legende, daß Liliencron empfangenes Geld verjubelt, ja, vertrunken hätte, während es in Wahrheit dem Gerichtsvollzieher oder einem Gläubiger in die Hände gegeben worden war, der es vielleicht selbst knapp hatte und seit Jahren bitten mußte. Wenn Liliencron aber wirklich einmal, einer Auffrischung bedürftig, voller Sehnsucht nach einem heitern Tag, ein gutes Glas Rotwein getrunken oder ein wirkliches Hamburger Beefsteak gegessen hatte, dann schlug das bei ihm in der Lebhaftigkeit seiner Mit- und Nachempfindung poetisch immer wieder durch, und aus der nicht nur für Hamburger Verhältnisse bescheidenen Labung ward ein Mahl, an dem nichts fehlte. Die Altonaer Jahre waren um so leidensvoller, als Liliencron jetzt nicht mehr am Anfang der Dreißig, sondern am Anfang der Fünfzig stand; er rang nicht mehr um Beruf und innere Arbeitsgewißheit, er wußte, was er war, sah das von den Besten, die er kannte, bestätigt und saß nun doch noch im Elend, aus dem ihn flinke 369 Feuilletonarbeit nicht erretten konnte, weil er sie zu leisten einfach nicht fähig war. Und manches Gedicht wanderte von einer Schriftleitung zur andern, ohne Aufnahme zu finden, viele wurden gedruckt, ohne bezahlt zu werden, ein übler, aber bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein selbst bei großen Blättern befolgter Brauch. Daß sein Elend dann durch den Aufruf zur Sammlung ganz Deutschland vor Augen trat, machte die immer wieder emporquellende Scham über den Jammer noch stärker. »Ekel und Grausen vor dem Banausentum« stellten sich ein. Aber das tapfere Herz wehrte sich immer wieder dagegen, die Flinte ins Korn zu werfen, wenn auch diese Not ganz anders drückte als etwa die täglichen und nächtlichen Märsche in Schnee und Eis, bei schweren körperlichen Schmerzen, im französischen Kriege. Da ging es um alles und geschah für das Höchste, und der Tod lauerte hinter jedem Busch und jedem Gehöft – hier war kleinliche und kleinlichste Qual, die aller Fleiß und alles Schaffen, die auch Freundschaft und Liebe nicht aus der Welt zu bringen vermochten. Manch schöne Stunde ward dazu noch durch scheinsittlich-getünchte, anmaßlich-dozierende Kritik vergrätzt, deren Hall von einflußreicher Stelle her den vollen Ton der Anerkennung anderer übertäubte.
In all der Not aber lebte in diesem tiefgütigen Herzen immer wieder das Bedürfnis, zu geben und zu schenken. War es nun ein verhältnismäßig »fürstliches« Trinkgeld an einen Kellner oder einen Dienstboten, war es eine Blume, ein Gedicht an Freunde – der ungebrochene Liebesdrang verlangte immer wieder nach Äußerung. Und wenn er in der Wirklichkeit nicht befriedigt werden konnte, so flüchtete er sich mit dem gewaltigen Lebensdrang zusammen in des Dichters ureigenes Gebiet, und die immer wiederkehrende metaphysische Genugtuung für irdisches Entbehren entlud sich in die Strophen des großen Gedichts »Poggfred«. Früher hatte Liliencron gern auf mittelbarem Wege durch Zwischenschiebung eines lebenden oder toten Freundes erzählt – im »Poggfred« sprach er selbst im Gewande dessen, der er gern gewesen wäre, und wenn er in diesen, durch eigne souveräne Gewalt geschaffenen und geheiligten Bezirk einkehrte, fiel alle Müdigkeit ab, die sonst manches Gedicht dieser Jahre durchklang.
Schon in der Kellinghuser Zeit war das Bild von Poggfred aufgetaucht, hatte der Gedanke an eine solche Dichtung Liliencron ergriffen. Als er aus Amerika zurückkam, genau »nel mezzo del cammin di nostra vita«, hatte er Dantes »Göttliche Komödie« begierig erfaßt, und, mit religiösen Gedanken tief beschäftigt, heißhungrig gelesen – ganz hat ihn der große Ghibelline nie wieder 370 verlassen, und noch auf dem Totenbett war das letzte Buch, in das seine Augen blickten, dieses. Das feierliche Dreimaß der Terzine sprach zu Liliencrons Dichtersinnen, und die ungeheure Weite einer Leben und Tod überwindenden Phantasie erregte das Staunen des rasch vom Anfang zur Höhe Fortschreitenden; sie ward nun von dem reifen, großen Dichter als etwas tief Verwandtes empfunden. Byron hatte er schon bei der Mutter gelesen, sein Wesen kam dem früh schmerzversenkten Schüler nahe, und auch später griff er wieder nach den Werken des Engländers, dessen Stanze ihn gerade anzog, weil sie von der strengen Einheit Dantischer Strophen so weit abwich. Er selbst beherbergte ja die Sehnsucht zur strengen Formung des Tiefsten neben dem Hang und der Macht zur leichten Bändigung des äußern Lebens. Dennoch darf man den Einfluß beider Dichter auf die Entstehung von »Poggfred« nicht überschätzen; gerade in der ersten Poggfred-Zeit hat Liliencron sie am wenigsten gelesen und dankt ihnen weit mehr an äußerer Formerziehung als an der Empfängnis und dem Aufbau des ganzen Gedichts, in dem seine deutsche und norddeutsche Natur den Fremden gegenüber immer wieder sieghaft durchschlug, in dem vor allem seine Persönlichkeit etwas ganz andres vollbrachte.
Die Stanze ist mir nur der Zellenstand,
Den Honig bringen meine heimischen Bienen.
Und der Terzinen Sankta Trinitas
Dämmt die Gedankenflut ins rechte Maß.
Genau so waren Dante und Byron nur äußere Ausgangspunkte gerade dieser Dichtung. Sehr fein hat Otto Gildemeister den »Don Juan« verglichen »mit einer jener graziösen Vergnügungsjachten, mit welchen reiche Engländer bisweilen weite Kreuzfahrten unternehmen, das Mittelländische Meer durchstreifen, malerische Küstenstädte, paradiesische Inseln, wundervolle Golfe besuchen, freilich auch wohl einmal ein wenig derbe Seenot bestehen und – in früheren Zeiten kam auch das vor – mit einem Algierischen Corsaren handgemein werden. Ein solches Schiff ist mit allen behaglichen Einrichtungen des verfeinerten Luxus ausgestattet, es ist ein Wunder der zierlichsten Eleganz, aber es ist zugleich ein Segelboot ersten Ranges, es läuft im schlimmsten Wetter scharf und schneidig durch das Wasser, es wird von einem vollendeten Seemann kommandiert, und es führt neben seinen Vorräten von Pasteten, Champagner und Eis auch Pulver und Blei und ein Paar schmucke Bronce-Kanonen an Bord, 371 und im Notfalle wehrt es sich gegen Feinde wie eine kleine Kriegssloop. Der ›Don Juan‹ gibt im Verlaufe seiner abenteuerlichen und ergötzlichen Streiffahrt eine gute Anzahl scharfer Schüsse ab, welche beinahe alle gegen Fahrzeuge unter britischer Flagge gerichtet sind. Ja, das ganze Gedicht ist, auch da, wo es scheinbar nur erzählt, ein ununterbrochenes Scharmützeln mit englischen Nationallastern, englischen Lächerlichkeiten und englischen Vorurteilen, welches Scharmützeln dann von Zeit zu Zeit sich zu direkten Angriffen auf bestimmte Persönlichkeiten und Zustände des stolzen Inselreichs verschärft. Die Schüsse sind nach verschiedenen Richtungen hin gezielt, aber sie gelten alle einem und demselben Feinde, dem in Großbritannien herrschenden Systeme, mag es sich nun als kaltherziger Egoismus einer feudalen Oligarchie im Staate darstellen, oder als bornierte Intoleranz einer pfründenreichen offiziellen Kirche, oder als exklusive ›gute Gesellschaft‹ mit unerbittlichen Anstandsregeln für die Öffentlichkeit und mit geheimen Lastern für den Hausgebrauch. Mehr noch aber als Staat, Kirche und gute Gesellschaft ist es die Literatur, welche dem Feuer des poetischen Kreuzers ausgesetzt ist, die Literatur, welche als der formulierte Ausdruck der dem Dichterlord verhaßten nationalen Gebrechen erscheint, welche es sich zur Aufgabe macht, die herrschenden Mächte des Tages zu verherrlichen, die Erfolge der britischen Aristokratie gegen die Freiheit der Völker, die Erhabenheit der fetten englischen Kirche, die Tugenden der feinen Welt allen Ernstes mit Oden und Hymnen zu feiern.«
Von »Poggfred« ließe sich das nicht sagen, wenn auch manche kapriziöse Stanze beide Werke verwandt macht, und eher schon möchte man sich an »Childe Harolds Pilgerfahrt«, die jedoch in der Spenser-Stanze geschrieben ist, erinnert fühlen; vor diesem Werk aber hat »Poggfred« größere Weite voraus.
Im übrigen empfindet man beim Hineintreten in die von Liliencron erschlossene Welt sofort stark, daß all solche Berührungen nur »Zellenstand« gewesen, daß Erträgnis und Leben in den Versen ganz und gar ihres Dichters Eigentum sind. Und es erwächst eine ganz eigne Welt, mag auch Liliencron den Drücker zur Tür zuerst an der Hand eines Führers gefunden haben, der dann draußen blieb und es ihm überließ, sich innen allein zurechtzufinden.
Der Beginn der Dichtung ist in dem Gedicht vom Totenvogel zu spüren, das im Sommer 1879 in Hamburg niedergeschrieben und vierzehn Jahre später abgekürzt unter der Aufschrift »Terzinen« im »Zuschauer« veröffentlicht worden ist. Ein verwandtes Bild tauchte in dem Gedicht »Der Kartäusermönch« auf, das Liliencron 1892 der 372 »Freien Bühne« gab; da sah er sich auf der Bergesspitze nahe dem Kloster in weißer Kutte und Kapuze sitzen:
Mit mir in gleicher Höhe,
Mitten über der weiten Fläche,
Über der sonnendurchglitzerten,
Schwebt ein Geier,
Schwingenstill.
Scharf äugt er nach unten,
– – – hinabzustoßen.
Der Geier Schicksal
Schwebt so über uns Menschen.
Und ahnungslos
Schreiten wir die mühevollen Straßen.
In den ersten neunziger Jahren brachte das (nun von Otto Neumann-Hofer geleitete) »Magazin für Literatur« mehrere Gesänge, unter anderem ein »Capriccio« in Stanzen mit einem Strachwitzschen Motto:
Kurz ist der Jugend moussierender Tag –
und dazwischen lag am Schluß der »Neuen Gedichte« die Ottavendichtung »In Poggfred«. Im Jahre 1896 erschien das Buch, nachdem Friedrich noch mit Recht geraten hatte, drei schon in Kellinghusen beendete Gesänge nicht in ein lyrisches Gedichtbuch mit aufzunehmen, sondern einem späteren, epischen Bande vorzubehalten. Die letzten Gesänge waren im Frühling 1896 abgeschlossen worden. Damals entstanden der Anfang des achten, der zehnte und der zwölfte, der zuerst in der Münchener »Jugend« erschien.
»Kunterbuntes Epos in zwölf Cantussen« nannte Liliencron das Richard Dehmel gewidmete Werk, dessen zwölf Gesänge ebenso wie der Schluß mit Leitworten aus Dehmelschen Gedichten eingeleitet wurden.
Dies ist ein Epos mit und ohne Held,
Ihr könnts von vorne lesen und von hinten,
Auch aus der Mitte, wenn es euch gefällt.
Ja, wo ihr wollt, ich mache nirgends Finten,
Klaubt euch ein Verslein aus der Strophenwelt!
So sucht ein Kind im Kuchen nach Korinten. 373
Ob sie euch schmecken, kümmert mich fürwahr nicht;
So lest denn mit Geduld! Meintwegen garnicht.
Der Dichter fühlt die »zweite Periode« nahen, wo die Kraft der Jugend sinkt. Aber er wehrt sich.
Nein, nein! Noch nicht! Noch immer, kommts drauf an,
Sitz ich im Sattel zweiundsiebzig Stunden,
Noch immer pfeif ich auf Hans Biedermann,
An keine Regel, nur an mich gebunden;
Und was für Fallen mir der Schmerz ersann,
Noch hab ich stets die Rettungstür gefunden.
Noch fließen meines Lebens rote Wellen,
Und kunterbunt versprudl ich meine Quellen.
Noch lieb ich, fleißig mich im Tanz zu drehn,
Mit Freunden um den Ehrenpreis zu schwimmen,
Mit hübschen Mädchen durch den Wald zu gehn,
Die höchsten Alpenspitzen zu erklimmen,
Früh auf dem Anstand tief im Tau zu stehn,
Wie Hagen über Hundsvolk zu ergrimmen.
Ja, immer ist mir noch »Lex mihi Mars«
Bedeutend lieber als: lex mihi Ars!
Und nun sind wir in Poggfred.
Von meinen Schlössern fern und fern der Stadt,
Inmitten zwischen Wiesen, zwischen Hecken,
Liegt aller Welt und alles Lebens satt,
Spielt einsam unterm Blumenflor Verstecken
Ein simpel Häuschen, wie ein weißes Blatt,
Das keine Lästerzunge kann belecken.
Sein Name ist Poggfred, hochdeutsch Froschfrieden
Denn Friede ist den Fröschen da beschieden.
Das Schlößchen liegt in vornehmer Landeinsamkeit, es liegt aber sichtlich auch in Schleswig-Holstein zwischen Haide, Knick, Torfbruch und Moor. Von einem Seitentürmchen schaut Liliencron am liebsten aus. Er sieht die Erde brennen, einen Engel aus der letzten Riesenlohe eine Fackel zum Himmel emportragen und sie dort dem 374 lächelnden Allerhalter überreichen. Er hört seinen Nordsee-Küstenstrich Triumph kartaunen, er sieht an Norwegens Klippen erbeutete sizilische Pracht und geraubte Gefangene, und in das Phantasiebild fällt die Erinnerung der Wirklichkeit, eine Sturmnacht auf dem Deich, ein Gemälde der Flut.
Und wieder kommt die Flut. Erst rillt sie an,
In laugen Strichen perlt sie, und bedeckt,
Im Anfang langsam, bald den leeren Plan,
Bis sie das altgewohnte Ufer leckt.
Sie steigt und steigt zu ihrer höchsten Bahn,
Hat alles Leben wieder aufgeweckt.
Und Welle wächst aus Welle und zerfließt,
Und bäumt von neuem hoch und drängt und gießt.
Eine Fahrt über die furchtbare Einsamkeit des heiligen Meeres. Schon wird die Behaglichkeit von Poggfred wieder empfunden, fernab von allem Klatsch, fern vom Joch des Tages, an das nur die Schultertasche des Kuriers mit Briefen und Drucksachen erinnert.
Das ist das Vorspiel, in dem alle Töne des Werks anmutig angeschlagen werden, bis zum Schluß ein erstes, breiter ausgeführtes Bild entsteht: Vor einem Birkenstämmchen an einer Waldblöße bläst ein Clown auf einer Flöte das Menuett aus Mozarts »Don Juan«; und die vier großen Feldherren Cäsar und Hannibal, Friedrich und Napoleon müssen mürrisch im Trippelschritt zu der Melodie einhergehn. Der auf der Pirsch vorbeikommende Schloßherr sieht sie aber nicht nur in der Erscheinung des Augenblicks: er schaut Cäsars Glück und Sturz, den Korsen bei Moskau, bei Waterloo, auf St. Helena, und den Punier, den Lieblingshelden aller Gymnasiasten, auf dem Elefanten im roten Byssusturm, ein Auge verbunden.
Er streckt den Arm im scharfen Alpenwinde
Und zeigt den Weg, den lichtblau überspannten,
Der Himmel lächelt seinem Sonntagskinde.
Er öffnet seinen Onyxring zum Trunke;
Verfolgt, gequält erlischt ein Götterfunke.
Am tiefsten greift dem Poggfredherrn aber Friedrich der Einzige ans Herz. An die Unglücksschlacht von Kolin hatte Liliencron schon einmal erinnert; bei Prittwitz fand er im Familienbuch neben einem 375 Namen ein Kreuz: »gefallen bei Kolin«, und daraus entstand das Gedicht »Wer weiß wo?«
Auf Blut und Leichen, Schutt und Qualm,
Auf roßzerstampften Sommerhalm
Die Sonne schien.
Es sank die Nacht. Die Schlacht ist aus,
Und mancher kehrte nicht nach Haus
Einst von Kolin.
Ein Junker auch, ein Knabe noch,
Der heut das erste Pulver roch,
Er mußte dahin.
Wie hoch er auch die Fahne schwang,
Der Tod in seinen Arm ihn zwang;
Er mußte dahin.
Auch in »Poggfred« gehn bei Friedrichs Erscheinen die Gedanken gerade zu diesem Kampf zurück. Aber dann taucht das unvergessene Sanssouci empor, das der Premierleutnant im Lehrinfanteriebataillon einst täglich vor sich sah und noch spät siegreich so gestaltet hatte:
Gewitter drückt auf Sanssouci,
Ich stand im Park und schaute
Zum Schloß hinan, das ein Genie,
Für seine Seele baute.
Und Nacht: Aus schwarzer Pracht ein Blitz,
Vom Himmel jäh gesendet,
Und oben steht der alte Fritz,
Wo die Terrasse endet.
Ein Augenblick! Grell, beinernblaß,
Den Krückstock schräg zur Erde,
Verachtung steint und Menschenhaß
Ihm Antlitz und Gebärde.
Einsamer König, mir ein Gott,
Ich sah an deinem Munde
Den herben Zug von Stolz und Spott,
Aus deiner Sterbestunde. 376
Denselben Zug, der streng und hart
Verrät die Adelsgeister,
Der aus der Totenmaske starrt
Bei jedem großen Meister.
Man muß diese Verse aus den »Neuen Gedichten« mit Kopischs, Geibels und Fontanes Friedrich-Versen zusammenhalten. Wo Kopisch den alten Fritzen behaglich poltern läßt, wo Fontane lässig schlendert und sich mit dem Alten über Menzel unterhält, wo Geibel in Versen, die selbst so regelrecht geschnitten sind wie die Boileaus, den König in einer warmen Sommerstunde zwischen den Hecken sitzen sieht, erspäht Liliencron den hellen, grellen Augenblitz der Gewitternacht und umreißt mit kühnen Strichen das Wesen des Genies. Alles, Unglück, Sieg und einsames Ende, umfaßt jetzt noch einmal die Poggfredstrophe:
Des großen Königs Auge flammt empor,
So sah er bei Kolin wohl in die Runde,
Und wie er einritt durch das Kränzetor
Nach sieben Jahren, mit der Kraft im Bunde.
Ich sah, wie er den letzten Blick verlor,
In letzten Schmerzen, in der letzten Stunde
Nach Marc Aurelens Büste starr gewendet,
So hat der größte Preußenheld geendet.
Nach dem friedesamen Menuett kommt es zum Boxerkampf zwischen den Vieren.
Der Brandenburger schlug den Franzenstreiter,
Die andern stritten unentschieden weiter.
Da schrie dem Clown ich zu: Halt ein, du Schuft!
Und riß das Pfeifchen ihm von seinen Zähnen,
Und hieb den Kerl, und alles schwand in Duft,
Erschöpft muß ich mich an ein Bäumchen lehnen.
Und um mich her wards still wie Grab und Gruft,
Und nichts mehr ließ mich jenes Spukbild wähnen.
Nur schwang den Krückstock noch der alte Fritze:
Laß er hinfüro solche Schelmenwitze!
Diese Einführung zeigt schon im ersten Gesang den Stil des Ganzen. »Erinnerung, Traum, Erlebnis, Phantasie« sollten in die 377 Behälter gefüllt werden und geben immer wieder Reiz und Stoff für die Dichtung. Alles scheint unaufhaltsam auseinanderzuflattern und wird doch durch die Persönlichkeit zusammengehalten. Wie diese oft widerspruchsvoll war, aus der Einsamkeit, jäh getrieben, in die Fülle des äußern Lebens hinüberging, so wechseln die Eindrücke im Gedicht. Eben noch Schmerz und Qual über äußere Enge, Schuldendruck und Armut – dann aber ein Sonnenstrahl, ein bunter Schmetterling, ein Freundesgruß, und alles ist im Augenblick vergessen. Oder das Rauschen der Nordsee, der Mordsee, wird durch ein Windesharfen in den Bäumen geweckt, und sofort steht mit der greifbaren Deutlichkeit des in Sonne und Schatten bewährten Blicks ein altes Bild vor den Augen und die Phantasie formt daraus ein neues. Geschichte und Krieg, die Liliencron immer wieder mit schlagendem Herzen festhielten, tun die Tore weit auf, und ihr Hall durchklingt wie am Anfang, so in der Mitte und am Ende das Epos. Ja, selbst dies erste Bild von den vier miteinander kämpfenden Helden verläßt Liliencron nicht und wird in breiterem Rahmen, ein wenig anders gewandet, noch einmal aufgenommen. Im zehnten Gesang sind wir auf einer Rennbahn, wo aber nicht Herrenreiter und Jockeys ihre Kunst zeigen, sondern seltsame Gestalten an der Ablaufstelle stehn: Mazeppa, Seydlitz, Ziethen und die vier apokalyptischen Reisigen, zu denen endlich unter rasendem Gelächter der deutsche Lyrikus mit dem ausgehungerten Pegasus stößt. Bei dem ersten Rennen siegt Hans Joachim von Ziethen, bald scheint ihn Seydlitz zu überwinden; dann preschen die vier Reiter St. Johannis allen voran, und sie überflügelt »Rittmeister Tod«; hinter ihm verschwindet das Feld, bis man plötzlich das Rennen in den Lüften weitergehn sieht. Jetzt aber rauscht auf dem Flügelroß der Dichter empor, den andern voraus – die ewige Vergeltung für irdische Qual:
Hinauf, hinauf, in immer höherm Flug,
Bis du empfangen wirst von Sternenchören:
Wie je dein Herz in Seligkeiten schlug,
Und durften Schmerz und Elend dich zerstören,
Hier fallen irdische Freuden, irdischer Trug,
Niemals wird dich Gemeinheit mehr empören,
Ein dunkler Flammenmantel deckt die Zeit,
Still leuchtet drüber die Unsterblichkeit!
So ward in dem neuen Kampfbild zugleich die Bitterkeit über das »Dichterlos in Kamschatka« von der ewigen Siegesgewißheit des 378 großen Künstlers überwunden. Und seine im »Poggfred« lebende Liebe für den künstlerischen Gegensatz zeigt uns dann am andern Tag die leere Rennbahn; vom einsamen Krug aus erschließt sich ein Blick übers karge Land, drei Pappeln stehn müde am Wege, und »den Abend tröstet die erflehte Nacht«.
Wie die Streiter Friedrichs des Großen ziehn die eignen Kampfgenossen vorüber. Der Schloßherr gedenkt (im fünften Gesang) dreier Kriege. Er hat die Ruhmesgöttin nicht aus Rosen, sondern aus zerschossenen Gebeinen Kränze flechten sehn:
Mein greiser Kaiser Wilhelm, dir Hurrah!
Bei Königgrätz einst küßt ich dir die Hände.
Dein gütig Herz, wie stand es jedem nah,
Gutes zu tun, daß jeder Hülfe fände.
Dein gütig Herz! Säng ich ihm Gloria,
Ich müßte schreiben ungezählte Bände.
Zu deinen Siegeskränzen, die mich grüßen,
Leg einen Dankeskranz ich dir zu Füßen.
Und nun ziehn die alten Kameraden heran, mit denen Liliencron in Sommerhitze und Winterkälte der Fahne gefolgt war; bis ins Herz bewegt, sieht er sich wieder in ihrem Kreise. Und wenn sich auch manch anderes Bild dazwischen schiebt, so taucht am Schluß doch wieder blutbesiegelte Kameradschaft empor, Takttrommelschlag und Schlachtgeleit, eine Kriegsnovelle in Stanzen. Nie wird der Kampf auf Erden enden; mit demselben Nachdruck, mit dem Heinrich von Treitschke die irdische Gültigkeit von βια βια βιαζεται hervorhob, sagt das hier Liliencron:
Der Friede ist für Kinder ein Gedicht;
Werft nur die Waffen nieder, ich tus nicht!
Die große Schlacht wogt hin und her, der Adjutant reitet neben dem General, und dieser läßt unter Trommelschlag gegen einen immer noch unbesetzten Hügel vorgehn. Schon aber gräbt sich dort oben der Feind ein, und es heißt anklettern. Das Wagnis gelingt, die Höhe ist genommen, nach unendlichen Verlusten:
Wir sind durch eine See von Blut geschwommen,
Uns selber nicht des Schrecklichen bewußt.
Ich hob im Sattel mich, ich warf die Hand
Der König lebe und mein Vaterland! 379
Dann aber, wie einst auf der »Insel«, der Ritt über das ruhig gewordene Schlachtfeld, wo Sterbende und Tote beieinanderliegen. Mitten auf einem Wall von Leichen thront ein toter Zuave, die Fahne in der Linken,
Die Rechte streckt sich wie ein Flintenlauf,
Zur Faust geballt, drohend zum Himmel auf.
Die Nacht geht an, die Beiwachtfeuer flackern, die Hyänen des Schlachtfeldes kommen aus Rohr und Strauch, und schon sieht das Auge des jungen Kriegers den Frieden, der sich endlich zeigen muß, er sieht den Maienbaum und den Tanz, sieht wie der »unaufgefundene« Sterbende die Ernte und das Erntefest. Und der eben noch sein Bekenntnis zum Schwert gebracht hat, preist, wie so oft, den Frieden, fast mit Worten Max Piccolominis:
O Friede du, mit deinen Seidenschwingen,
Wann spannst du sie von Pol zu Pole aus,
Daß klar ein einzig süßes Engelsingen,
Schalmeibegleitet, tönt durchs Weltenhaus,
Daß schreiend, nach verzweifelt letztem Ringen,
Sich in den Abgrund stürzen Gram und Graus?
Nun, Götter, frag ich, was ist euer Plan?
Ihr schweigt? Und alles wäre, ach, nur Wahn?
Ich schlief mit meinem General, durchfroren
Vom Tau, auf offnem Feld, der Mond schien hell.
Einmal erwacht ich, meine Augen bohren
Sich in die Schatten ein, da seh ich grell,
Vom Lagerflackerlicht à jour erkoren,
Den Zuaven auf dem Leichenhochgestell:
Die Rechte droht, steil wie ein Flintenlauf,
Zur Faust geballt, grausig zum Himmel auf.
Es ist, als hätte Liliencron in den neunzehn Dichterjahren nur darauf gewartet, alles Empfangene, Durchlebte, Durchdachte, Durchfühlte, noch einmal zum bunten Kranz zu flechten. Als Breide Hummelsbüttel auf seinem letzten Gang durch die eigene Flur einen Strauß pflückt, findet er die Zusammenstellung zuerst ein wenig seltsam, wie ihm da die Blumen und Zweige in die Finger kommen. Aber er sagt sich mit Recht: »Die Natur in allen ihren Erzeugnissen ist schön.« 380 Daran denkt man vor diesem manchmal unwahrscheinlich bunten Poggfredstrauß.
Mau denkt auch an dies Wort, wenn mächtig, in allen Tönen, die Liebe angerufen wird. Liliencrons Stellung zum Weibe war in einem Betracht immer gleich geblieben, hatte sich in andern durch wachsende Reife und erlebte Schicksale verschoben. Immer war ihm die Frau nur Frau, das heißt, er sah in ihr zuerst das dem Mann entgegengesetzte und den Mann ergänzende Wesen. Mit einer Frau so zu sprechen wie mit einem Mann, wäre ihm nie eingefallen, er lehnte es geradezu ab. Sein Ton gewann, sowie eine Frau zugegen war, sofort an Schmiegsamkeit, Feinheit, Vornehmheit; er vermied es, dann noch über Literatur, Geschichte, Kunst zu sprechen – seltene Ausnahmen bestätigen nur die Regel – er lenkte sofort in ganz persönliche, heitere Gespräche hinüber, machte in höchst anmutiger Art den Hof, sagte Schmeicheleien, auch wenn er an Eroberung gar nicht dachte, und bewegte sich, noch in der traurigsten Lebenslage, mit vollendeter Ritterlichkeit. Außerordentlich leicht entflammt, hatte er von der Posener Zeit an unzählige Liebeshändel erlebt, und erst der tiefe Eindruck seiner ersten wirklichen Leidenschaft begann ihn zu wandeln. Jetzt trat von Jahr zu Jahr bestimmter neben die Freude an dem leicht gebundenen und leicht gelösten Minnespiel die Sehnsucht nach dem festumrankten Frieden der Ehe, nach einem Ideal, das ihm zweimal in die Brüche gegangen war. »Der gefüllten Aehre unvergleichliche Wichtigkeit erkennend«, sah er sich jetzt am Tor des eigenen Gartens lehnen. Immer war er in Gegenwart von Frauen so zart wie nur denkbar. Nie durfte ein häßliches Wort vor ihnen gesprochen werden, mochte es sich um die letzte Verkäuferin, um die Tänzerin auf einem Vorstadtball oder um eine Prinzessin handeln. Wie entsetzlich war ihm die Ungeniertheit, mit der Theodor Storm vor weiblichen Ohren ein unzartes Lebensbild entrollte! Diese ritterliche Rücksicht wuchs im Lauf der Jahre zu männlicher Wärme, zu ehelicher Gehaltenheit. Eben noch hat im »Poggfred«, im Château d'amour des zweiten Gesanges, ein Liebestraum Gestalt gewonnen. Zu Klängen eines Schubertliedes wandeln schöne Paare, von schwarzen Rittern am goldenen Gitter streng behütet.
Und sie hieß Fite. . . . Wie die Flocken toben
Und durch die Fenster rauh um Einlaß bitten!
Ein neues Scheitholz, in die Glut geschoben,
Gibt ihnen Antwort: das wird nicht gelitten. 381
Und auch dem Sturme, der mit seiner groben
Gewalt klopft, hat den Eingang abgeschnitten
Behaglichkeit, die meinen Poggfredräumen
Die weichen Polster rückt zu Trost und Träumen.
In allen Tönen wird die einmal erwachte Liebe aufgerufen, als kurzes Wetterleuchten, als einziger Tag, »gelebt, gejauchzt, gerast im Paradiese«. Eine andere Liebste schiebt sich herein, eben nachdem der alten Kameraden gedacht worden ist. Das Lieblingsmotiv von dem als Pagen verkleideten Mädchen wird neu gestaltet, und in einem rasch entfachten Streit, in einer kleinen Kneipe, wird die Schöne, Holde von roher Hand erstochen. Aber vor sie tritt schon eine andere, deren Ton münchnerisch klingt:
Herein! Ah, du . . . und dann ein lustiger Sprung.
Um Gotteswillen, halt, gemach, gemach!
»Is's wahr?« Sie lacht. Wie glänzt der Zähne Schimmer!
Und Hut und Handschuh fliegen weit ins Zimmer.
Du kommst mir eigentlich recht ungelegen!
»Is's wahr?« sie fällt mir um den Hals geschwind,
Ja, ich bin heute auf ganz andern Wegen!
»Is's wahr?« sie küßt mich wie der Wirbelwind.
Ich schreibe Verse, die mich stark erregen!
»Is's wahr?« jetzt heult sie wie ein Waisenkind.
Was ist zu machen? Schuh wett ich und Strumpf:
Die Liebe siegt, die Liebe spielt den Trumpf.
Aus dem Leichtsinn aber, den die verlassene Fite ähnlich rächt wie das junge Mädchen aus dem »Richtschwert von Damaskus«, entspinnt sich ein ganz anderes und viel ernsteres Bild. Der Dichter steht (im elften Kantus) auf dem altvertrauten Außendeich und schaut aufs unbegrenzte Meer, ins unbegrenzte Himmelsblau; da rollt ein Wagen à la d'Aumont geschirrt, auf ihn zu, und die Dame, die ihm entsteigt, sagt dem Deichwanderer für ewig Lebewohl:
Einst schenkt ich ein Paar kleine Fausthandschuh
Aus Mitleid einem Proletarierkinde,
Und hörte lächelnd seinem Stammeln zu
Im eisigen Dezemberweihnachtswinde. 382
O dieses Kindes Himmelsblick! O du,
O hätt ich so von dir ein Angebinde,
Mit solchen Augen, solchem Wimpernsaum,
Von dir, von dir solch einen Unschuldstraum!
Sie löst sich von ihm; ein Kahn mit schwarzen Wänden, von einem hagern Mann geführt, holt sie ab, sie steigt ein, zwischen dreizehn nächtigen Gesellen die einzige glänzende Gestalt. Und ihm schwinden Sonnenlicht und Sinnenlicht.
In der Mitternacht erwacht er, Flämmchen zucken übers Meer, es wird plötzlich Tag, und eine Riesenwelle kommt gezogen, einen Drachen auf ihrem Kamm.
Am Deiche hebt die Welle sich im Schwunge,
Und stürzt und platzt, und nieder kracht der Lurch,
Und bäumt sich noch einmal zum letzten Sprunge,
Und reißt mein Schleswig-Holstein mittendurch.
Er selbst, dem sich so die große Sturmflut noch einmal vergegenwärtigte, schwimmt in den Wogen und erreicht einen hohen Steinturmbau, wo Büreaukraten unabgelenkt Dekrete aufsetzen. Auch sie werden verschwemmt, und er klettert weiter, weiter, durch Wälder, die steilen Stufen einer Pyramide empor, deren Gipfel er mit einem Adler und dem Tod teilt. In der neuen Morgenhelle steht er allein, um sich das Wüten der Flut. Er schwimmt und schwimmt, er landet auf einem öden Fleck, wo zwei, ein König und ein Bettelmann, sich um den letzten Knochen balgen. Halb ohnmächtig fällt er zurück, da fühlt er sich emporgezogen und liegt, erwacht, im Gras am Deiche. Er träumt sich in die Jugend zurück, da er einmal schon an solcher Stelle gestanden hat. Da muß er sich atemlos zur See vorbiegen, weil er von fern ein Rauschen, ein Singen wie Geisterlaute hört:
Es klingt ein Knabenchor weither, weither
Wohl über tiefe, tiefe Stromesbreiten,
Die Vikingharfe rauscht weither, weither
Erinnerung aus alten, alten Zeiten,
Doch dein Gesang, hoch her, weither, weither,
Schwebt über Harfenton und Chor und Saiten.
Das alles zieht, schwellend, weither, weither
Wohl über stille, stille Wasserweiten. 383
Ein Schiff taucht auf, dem ein Albatros königlich voranfliegt, die schönste Braut steht nackt auf einem Thron, sie steigt herab und überreicht dem Dichter zwei Winter-Kinderfausthandschuhe und wendet sich und geht.
Es klingt ein Knabenchor fernhin, fernhin
Wohl über tiefe, tiefe Stromesbreiten,
Die Vikingharfe rauscht fernhin, fernhin,
Erinnerung aus alten, alten Zeiten,
Doch dein Gesang, hoch her, hoch hin, fernhin,
Schwebt über Harfenton und Chor und Saiten.
Das alles schwindet, zieht, fernhin, fernhin
Wohl über stille, stille Wasserweiten. . . .
Und endlich steigert sich Liliencron, Sehnsucht und Erfüllung sammelnd, zum höchsten Preis der dauernden, segenbringenden Liebe, wie sie ihm nun seine dritte Ehe bescherte:
Was ist die Liebe? Komm, mein Weib, komm her,
Lehn dich an mich, ich lehne mich an dich
Und küsse dir die Hände, die ein Heer
Von Lebensgreueln wandten fürsorglich,
Mein bester Freund, mein Trost, wenn kummerschwer
Verzweiflung schrie, Verzagtheit mich beschlich.
Im Sterben noch, bin ich zum Tode krank,
Lall ich mein letztes Wort für dich: hab Dank.
Noch einmal ertönt dies hohe Preislied der Ehe, der glücklichen, denn die unglückliche ist ein »Leben, wie es kein Teufel hat«:
Nichts weiß ich heiliger in allen Landen
Als das Genügen einer treuen Ehe,
Wenn Mann und Frau mit immer sichern Banden,
Bis eines stirbt, Wonne vereint und Wehe,
Nach schwerer Tagesfahrt am Bettchen landen
Des Lieblings, daß ihm nachts kein Leid geschehe:
Ein Lichtreich ists, wo goldne Kerzen brennen,
Wenn Mann und Frau nichts stören kann, nichts trennen.
Als typisch begreifen wir diese Steigerung im Ablauf eines einzigen Gesangs, des achten. Da entrollt sich zunächst ein Liebesgeschick, bei 384 dem der Poggfredherr, wie sein Offizier in »Arbeit adelt«, dem schönen Mädchen Reitunterricht geben muß. Sie wird oft zu tollkühn, und als sie einmal im Winter über das flache Land traben, lassen sich die Pferde nicht mehr meistern und springen in den eisschollenbedeckten Fluß. Vergebens arbeiten die Gäule, Halt auf den treibenden Massen zu finden, zwischen den beiden Reitern dehnt sich ein immer weiterer Raum, und als des Mannes Hengst schließlich kletternd das Ufer erreicht, klimmt zwölf Ellen weiter die leere Stute empor – Manon ist untergegangen.
Der trübe Abschluß des unbesorgt begonnenen Abenteuers leitet hinüber zur zweiten Geschichte des Gesangs: Ein großer Kaufmann ist zum letztenmal über See gegangen und hat sein Weib, das ihm bald das erste Kind schenken soll, zurückgelassen. Auf überheiztem Dampfer kehrt er jagend zurück, auf raschester Wagenfahrt vom Kai zum Hause errafft er im Blumenladen zwei Rosen und – findet daheim Weib und Kind im Sarg.
Aus dieser Einstimmung erwächst das friedliche, man darf sagen, ehelich friedliche, schöne dritte Bild: Weihnachten in Poggfred.
In Poggfred bin ich, Schnee liegt rings umher,
Der Weihnachtsabend ist herangekommen,
Ein voller Wagen hält geschenkeschwer,
Für viele Kinder ist er angekommen.
Zu unsrer Freude und des Christkinds Ehr
Ist über Bethlehem der Stern entglommen,
Fern aus den Wäldern klingt ein leiser Sang,
Der klingt so süß, der klingt so liebebang:
»Es ist ein Reis entsprungen
Aus einer Wurzel zart;
Wie uns die Alten sungen,
Von Jesse kam die Art.
Und hat ein Blümlein bracht
Mitten im kalten Winter
Wohl zu der halben Nacht.«
Ein riesiger Tannenbaum steht im Saal, und von allen Seiten kommt das arme Völkchen aus Katen und Höfen, sich heut von der Liebe umschütten zu lassen. Aller seliger Gebetrieb, der in Liliencron lebte und durch keine Not zu brechen war, flammt hier im Bereich willkürlicher, 385 souveräner (man muß dies Wort in dieser Zeit Liliencrons wiederholen) Gestaltung hoch empor:
Ach, schenken, schenken, könnt ich immer schenken!
Und lindern, wo die Not, die Armut haust!
Und braucht ich nie mein Geld erst zu bedenken,
Wo ein Verzweifelter den Bart sich zaust!
Und könnt ich alle Krämerhälse henken:
Pfeffer in euern Schlund! Und meine Faust!
Könnt allen ich ein Tannenreis entzünden:
Seid froh, vergeßt für ewig eure Sünden!
Ein in ganz kindlichem Ton gesprochener Vers kommt von den Lippen eines Engels, der dann zu den Sternen verschwindet:
Wir biegen unsre Köpfe in den Nacken,
Hoch, höher schwebt er, silberweiß; ein Strich
Verschimmert an des Mondes Sichelzacken,
Die ganze Erde ruht so feierlich.
Aus Poggfreds Wäldern, rings, wie Friedensklang
Klingt wunderbar ein Knabenzwiegesang:
Sanctus Dominus Deus Sabaoth,
Pleni sunt coeli et terra gloria tua,
Hosianna in excelsis!
Es paßt zu diesem zarten, tiefen und frommen Abschluß des Bildes, wenn am Anfang des neunten Gesangs Weib und Kind eintreten und am Kamin vor brennenden Buchenklötzen Familienglück gefeiert wird. Dann aber schlafen die andern,
Nun gab die Nacht dem Tag den Schwesterkuß.
Und dem Träumer, der einsam am Kamin wacht, taucht ein widriges Gemälde empor. Wie er einst den Hungernden vor den erleuchteten Fenstern von Pfordtes »Sybaritenhaus« dräuen sah, so erschaut er jetzt drei Mammonsdiener auf der Terrasse eines Alpenschlößchens beim Champagner, und zu ihnen klettert ein Bettelgreis empor mit bescheidener Bitte. Sie aber werfen ihm die Gläser und den Kübel an den Kopf:
Die Hunde los! Elendes Lumpenvieh! 386
Da entpuppt sich aus dem verschlissenen Gewand ein Stutzer, der als Herrscher vorm Gesinde steht und ihnen den Lohn ihrer Roheit verkündet. Der eine, ein Mensch von gesegneter Dummheit, soll von jetzt an so viel Verstand haben, daß er sich sein ganzes Leben mit fressenden Glaubenszweifeln plagt. Der zweite, ein alberner Fadling, soll ewig an der Treue seiner Nächsten zweifeln, der dritte, der ungeheuer reiche, soll in Hunger, Schande, Schulden, Geldnot ersticken – alle drei hundert Jahre lang, bis der Tod sie erlöst. Und der Stutzer taucht als Teufel in den Höllenschlund hernieder.
Ein zweites Bild zeigt den Dämmertraum am Kamin, ein Liebesgedicht auf Oestmanns Elbterrasse, eine Liebesnacht und endlich ein winziges Novellchen, das in seinen acht Zeilen als etwas ganz Nebensächliches eingeführt wird, ausdrücklich im »Telegrammstil«, und an das sich wunderlicherweise absprechende Kritik sofort mit ganzem Schwergewicht gehängt hat.
Banquier-Palazzo. Herrschaft ist verreist.
Gut. Dienerschaft geht aus. Ein Kätzchen nur:
»Heut Abend. Komm. Um acht. Bin so verwaist.«
Ich kam. Das Herrenzimmer. Cour d'Amour.
Das Bismarcksofa. Stürmisch, zärtlich, dreist.
Kuß pflückt den Kuß. »Ach laß!« »Laß!« Moll und Dur.
Der Morgen. Abschied. Exit Nachtvisite.
Ein langer Weg nach Haus – O ziere Lite!
Daß das Ganze nur ein nebensächlicher Scherz ist, beweisen nicht nur die absichtsvoll, wie immer, eingeführten Fremdwörter, sondern auch das große Bild, das sich gleich dahinter auftut. Im bronzefarbenen Wams mit blauem Gürtel steht ein seltsamer Besucher am Kamin, er kommt vom Sirius und will das Töchterlein holen. Der Vater wehrt sich, aber vor dem fremden Schein dieser grauenhaften, wie Röhren bis ins Gehirn gehenden Augen knickt er zusammen. Und sanft sagt nun der Fremde:
»Liebst du dein Kind, so segne den Appell,
Daß ich in unser herrlich Reich sie rufe.
Du zitterst? Nun, so höre mich, Gesell:
Die Erde ist nur eine Schinderhufe,
Voll Schmutz und Dünger, Schweiß und Schwierigkeit,
Sie steht im All auf sehr geringer Stufe. 387
Du kennst das Leben: lauter Angst und Streit!
Ihr kennt es alle! Euer Wunsch ist immer,
Erlöst zu sein aus dieser Peinigungszeit.
Wir lauschen euerm Schreien und Gewimmer,
Wir sehen eure nackten Arme flehn
Zum hohen Himmel, auf zum Aetherschimmer.«
Mit finsterm Drohen fährt er fort, die Raubtierkrallen der Menschen, Herrschsucht und Gewalt der Erde zu malen, und dann schiebt er den Gebrochenen beiseite, holt das Kind aus dem Bett und schreitet ruhig mit ihm fort. Nach langer Ohnmacht eilt der Überfallene dem Räuber nach, auf Waldesstiegen, an Marmorsphinxen vorbei, bei denen er einen himmlischen Depeschenüberbringer findet. Der will ihn zum Sirius mitnehmen, darf aber seinen vorgeschriebenen Weg nicht kürzen, und so fliegen sie zunächst zum Stern der Vorsicht, wo die Menschen in Säcken, zugenäht bis an den Hals, schwingen, den Finger am Munde:
Auch Moltke hing in diesem drolligen Reigen.
Dann der Stern der Schwätzer, wo die von Liliencron furchtbar gehaßte Indiskretion in tausend Mißgestalten büßt. Dann der Stern der Zufriedenen mit lauter alten Leuten,
die keiner Hoffnung Blume mehr ersehnen.
Sie landen in einem Eibengarten voller Bäume, wie deren einer, wundervoll schattend, nahe dem Haseldorfer Schlosse steht. Dort sitzen in alten gotischen Bronzestühlen unzählige junge Mädchen.
Sie waren tot. Es spielte ein Entzücken
Um ihren Mund, die sechzehnjährig starben;
Ein Seufzen schienen sie zu unterdrücken.
Mit Mohn von matten, rosahellen Farben
Umschlang ein Kranz ihr leichenruhig Haupt,
Das erste Liebesträume einst umwarben.
Da sah ich sie, die mir mein Herz geraubt,
Als ich ein Schüler war, die dann gestorben,
Die, ach, wie lange schon, im Sarg verstaubt. 388
Sie schlief hinüber frisch und unverdorben;
Nun saß sie hier in ihrem Unschuldshemd,
Um die ich, selbst ein Kind, so heiß geworben.
Sanft küßt ich ihre Stirne, zage, fremd,
Da öffnete die Augen sie zu mir,
Und ihre Aermchen hielten mich umklemmt.
Jetzt der Stern der Hyänen, mit einem Gassenstrang voll Äsern, Leichen, mit Mord, Unzucht und Roheit.
Und plötzlich tiefe Stille nach dem Schrein,
Wir flogen über nächtige Wälder fort,
Und Poggfred zeigte unten schwachen Schein.
Dann weiter durch ein Feuerwerk »wunderbarster« Sterne bis zu einem Doppelstern: auf dem einen die Herzensreinen, Gottvertrauenden, auf dem andern die Entsagenden. Der Stern der Philister taucht auf, voll »Skat, Politik, Gegröhl und Bier«, der Stern derer endlich, die mit Dämonen kämpfen mußten, jener Helden Kleistscher Art, die Liliencron so liebte.
Die endlich stürzten mit gebrochnen Schwingen
Und mit zerschossner Stirne unterlagen,
Weil sie nicht durch den Pöbel konnten dringen.
Euch lieb ich! und ich kenne eure Klagen!
Das Viehzeug konnte niemals euch verstehn,
Von feigen Heuchlern wurdet ihr erschlagen.
Für sie findet er das schöne Wort: »Ihr wart ja Gotteslehn!« Und endlich rastet die rasche Fahrt auf dem Sirius; auf einem Einhorn, dem Böcklin-Tier,
mit einem Lächeln, das die Welt beglückt,
zieht die an diesem Gnadenborn rasch gewachsene Tochter vor sonderbarem Volke her. Der Vater springt vor ans Einhorn – da erwacht er aus dem Traum. 389
Es ist todstill. Ich höre eine Maus.
Der Wind klopft einmal leise an mein Tor
Und wirft die dumme Phantasie hinaus.
Dann schnell aus meinem Sessel ich empor
Und eile in den Nebenraum geschwind,
Da schläft die Mutter ruhig wie zuvor:
In ihren Armen schlummert süß mein Kind.
Von dieser Ausfahrt landet so der Himmels- und Erdenwanderer wieder im Frieden des Hauses. Sie aber hat ihn – und wir fühlen, daß Dante die erste Hilfsstellung gab – weit, weit über Poggfred hinausgeführt. Noch deutlicher wird der Aufstieg vom Boden der Heimat zur Heimat des Herzens, wenn Liliencron am stillsten, heiligsten Tag des Jahres auf seiner »Heimatinsel Schleswig-Holstein« steht und ihm in einer großen Vision die Kreuzigung auftaucht – nicht gleich im Bilde des Gelobten Landes zwischen Dattelpalmen, nicht im Gewande des Mittelalters, wie alte deutsche Maler und von neueren etwa Eduard von Gebhardt sie darstellten, sondern in deutschen Breiten, so wie Steinhausen und Uhde den Erdengang des Herrn gemalt haben.
Das Land lag wie aus Glas gesponnen um mich,
So rein, so klardurchsichtig war die Luft.
Ich stand auf einem sanften Haidehügel
In meiner Heimatinsel Schleswig-Holstein.
Rings Sonne; eine weite, leere Aussicht.
Die Himmelsschlüssel blühen überall,
Vergißmeinnicht und gelber Löwenzahn.
Der Tod hat sich ins Kraut zum Schlaf gestreckt,
Reumütig liegt die Sense neben ihm.
Kein Pflügerruf, kein Vogel läßt sich hören,
Kein Wagen ringt sich durch den dicken Sand,
Die Mühle selbst hält Rast: es ist Charfreitag.
Dann aber wandeln sich die drei Kiefern, an denen der Dichter steht, zu Pinien und die Pinien zu Palmen, die Burg Antonia taucht auf, Josaphat, Gethsemane, der Ölberg, Golgatha.
Vor allen Toren glänzen Villen, Gärten,
Springbrunnen klatschen in die Marmorbecken,
Und Säulenhallen stehn: Jerusalem! 390
Eine laute Menge schiebt sich durcheinander, ein Mann mit bernsteingelbem Haar schleppt einen Schragen.
Und alles, was uns nun entgegenkommt,
Hält an: ein General, ein Bärenführer,
Die Purpursänfte einer Edeldame,
Der Bauer, der sein Kalb zu Markte treibt,
Mit Staatsdepeschen ein Courier aus Rom,
Die alte Semmelfrau von Jericho,
Ein Handwerksbursch, zuletzt ein Trupp Soldaten,
Der eben von der Felddienstübung heimkehrt.
Und alles lacht und johlt und kreischt und brüllt:
»Hurrah, da bringen sie den Judenkönig!«
Und trollt sich weiter auf dem Weg zur Stadt.
Und eine Geierschar, in Wolkenhöhe,
Gibt, langsam kreisend, unserm Zug Geleit.
Wir erleben die Kreuzigung, die Durststillung, sehen Barrabas, den Gassendichter, erscheinen und Jesum höhnen und endlich den Erlöser sterben. Im letzten Augenblick aber jagt in rasender Gangart der Adjutant des Pontius Pilatus heran und bringt die Begnadigung – zu spät. Die Kiefern hatten sich zu Kreuzen hergeben müssen, jetzt stehn sie wieder als nordische Kiefern da, und der Dichter sieht in den Frieden der Landschaft hinab.
Immer setzt an den höchsten Stellen der Dichtung die Ottaverime aus und, wie hier der Jambus des Dramas, so sonst immer wieder die Terzine ein – zum erstenmal bei dem Hochbild des Ganzen. Wie auf seines Lebensweges Mitten jene Erscheinung des Totenvogels in Liliencron Gestalt gewann, taucht sie in der Mitte des neuen Werks wieder auf, freilich ganz anders vorbereitet. Einen seiner Ahnen läßt er erzählen, er sei zum Nordpol geflohen, um dort von allzu heißem Liebesleben zu genesen; ein Zauberbesen hat ihn durch die Luft entführt, und schließlich hat er sich auf einer großen Eisscholle nach Norden fahrend gefunden. Jetzt beginnen nach den Ottaverimen die Terzinen.
Die Sonne sank, es schrumpft die letzte Helle;
Wie Blinkeraxt aufblitzt aus schwarzem Blut,
So blitzt aus dunkelrotem Meer die Welle. 391
Zuweilen zischt der Wind ein Wort der Wut,
Der erste Stern springt vor aus Himmelstüren,
Und über alles stülpt die Nacht den Hut.
Der Wahnsinn naht in der Einsamkeit des eisigen Nordens, die nur eine Bärin stört, unter deren warmen Pfoten der Verschlagene die Nacht durchschläft. Der Vorfahr findet hier alles Geschmäcklerpfaffenvolk, von Nicolai und dem Hauptpastor Goeze bis zu den Kritikern, die Liliencron gerüffelt hatten, und er entschwingt sich der schrecklichen Gesellschaft in ein Fabelland mit frischem, unirdischem, grünem Rasen. Eine nackte Schöne tanzt vor ihm, ein Kind, seine erste Liebe. Aber alles verschwindet wieder, der Sommer ist plötzlich da, die Birken läßt nicht mehr der Frühlingswind erzittern, sie hängen steif, und ernste Frauen gehn, »früchtereif«, vorüber. Rasch folgt der Herbst. Seine weibliche Verbildlichung gewährt noch einmal einen Blick in umbildende Erinnerung: eine Jägerin, die Doggen hinter sich, auf dem Ritt, und da sie, Aschtoret, von Thor, den sie nicht in die Welt ziehn lassen will, mit dem Hammer erschlagen wird, hüllt rasch der Schnee alles ein. Mitten im weißen Wirbelwind erscheint Madonna unter dem Akazienbaum, die kleine Abel an der Brust. Plötzlich – man fühlt immer stärker, daß die letzte Maske fällt und der Dichter selbst vor uns steht –
Stößt jäh ein Lärm ins Horn, und Pforten schlagen,
Gestampf und Kiesgeknirsch, ein greller Reigen.
Barbaren – Menschen – nahn auf Sichelwagen,
Die Pfeile überschütten schon den Platz,
Und nackte Schwerter drohn und Spieße ragen.
Der Mutterbrust entreißen sie den Schatz,
Ich bin an ihrer Seite blitzgeschwind,
Doch bin verloren in der Hufenhatz.
Es trägt mich in die Luft ein großer Wind
Und läßt mich nieder, fern in Felsenschlüften,
Da stürz ich hin und weine wie ein Kind.
Und hier setzt nun, so sicher vorbereitet, das alte Bild vom Totenvogel ein, nicht mehr mit einem Traum »mir war« eingeführt, sondern 392 ganz als Gegenwart geschaut, straff zusammengefaßt und überall neu durchfühlt, endlich abgekürzt und für die Erscheinung des Nazareners nur auf die eine, letzte Formel gebracht:
Nach innen sah ich seine Schmerzen weinen.
Was alles aber der Dichter, der so früh dies unvergleichlich schöne Bild fand, durchzukämpfen hatte, zeigt der neue Schluß. Die alte Nacht, »ein bleiern Gitter«, ist gesunken, und er findet sich allein auf höchster Alpenspitze. Und doch ist er nicht allein. An einer Flaggenstange ist ein anderer festgebunden: er selbst.
»Du – und deine Qualen,
Dein Körper, deine Seele! siehst dus nicht?
Dein Leben mußt du hier zurückbezahlen.«
Das andere Ich reißt sich los, sie kämpfen miteinander, und das Abbild schreit:
»Nie gabst du deinem Glück ein Stelldichein,
Vom Leichtsinn ließest du dich stets betören,
Des Weibes Keuschheit war dir leerer Schein.
Charakter fehlte dir, Dir zu gehören;
So wars ein jämmerliches Schwanken nur,
Und Wahnsinn mußte endlich dich zerstören.«
Das aber ist unwahr, denn jene in ehernen Worten gepriesene Selbstzucht hat den Dichter immer wieder emporgerissen und bewahrt. Und wie anders könnte sie in diesen Kampf hineinklingen als mit den Klängen eines preußischen Kriegsmarsches.
Fern ließ zu mir empor ein Ordensschwur
Den Hohenfriedeberger Marsch erschallen,
Da sprang ich auf, als hätt ich Kraft vom Ur,
Und ließ den Teufel in die Gründe fallen,
Daß klatschend er von Zack zu Zacke schlug.
Im Echo muß ein greulich Wort verhallen.
»Selbstmörder –«. Schuld aus eignem Lug und Trug,
Das Los von dem, der niemals Halt gewonnen. 393
Und den Ausweg und den Emporweg auf neue Lebenshöhen zeigt, wie das Bild der Mutter unter dem Akazienbaum, die Liebe, nicht das Getändel unbesorgter Jugend, sondern die reife Liebe von Mann und Weib.
Doch eh mein Geist den schwarzen Weg genommen,
Fühlt ich von weichen Armen mich umschlungen,
Und eine süße Stimme sprach: »Willkommen!
Jetzt hast genug du mit dir selbst gerungen,
Hier reicht ein reines Weib dir Trost und Treue,
Die Liebe hat den bösen Feind bezwungen.«
Und himmlisch quoll das Tränenlied der Reue.
Dies groß aufsteigende Bild ist ein Kernstück des ganzen Werks. Und sooft Liliencron sonst impressionistisch Pinselstrich neben Pinselstrich setzte, gegen den Schluß stieg er doch immer mehr zu stark einheitlich gerahmter Darstellung vom Poggfredwinkel aus und im Poggfredwinkel empor. Er setzte sich wohl wieder und wieder mit Alter und Jugend auseinander:
Ich bin des Alters plötzlich mir bewußt,
Ein unabsehbar Schneefeld seh ich liegen.
Und ein Soldatenlied klingt fern mir her:
Schön ist die Ju–u–gend, sie kehrt nicht mehr.
Aber ob auch, zwei Mörder, Herbst und Winter heranschleichen, er empfindet doch, daß Ebbe und Flut noch jeden Augenblick sein sind, bis sein Geschick sich gesättigt hat. Und so kann er, der das furchtbare Wort »Selbstmörder« verhallen ließ, mitfühlend, nicht als Richter, aber als verstehender Mensch und Künstler in balladenhafter Geschlossenheit Trug und Ende eines unbeherrschten Lebens geben.
In meinem Lohholz lag er, an der Eiche,
Kühl durch die Stille plätscherte das Wehr,
Die Blätterschatten huschten auf der Leiche.
Wer war der Fremde, und wo kam er her?
Der sich, antik, den Dolch ins Herz getrieben.
War ihm der Lebensweg zu lebensschwer? 394
Der Tote kann nichts mehr verkünden, aber seine Seele umschwebt noch einmal den Ort, sitzt wie gefangen auf einem Ast und singt:
»Leb wohl, mein edler Garde du Corps.
Das Leben gab dir alle seine Schätze:
Kraft, Mannheit, Schönheit, vornehme Geburt,
Des Reichtums goldbeperlte Fischernetze.
Was rittest du nicht fröhlich zum Buhurt?
Genossest nicht den Zufall deiner Rechte?
Was suchtest du nach Grund bei jeder Furt?
Ach! Grübelei zerfraß dein Hirngeflechte,
Beständig gabst du dich Gedanken hin,
Das machte dich vom Ritterherrn zum Knechte.«
Und dieser Auftakt von dem Mann der Qual, der nach Spanien verschlagen worden ist, bringt das Bild. Granada! Aïscha sitzt hoch auf befranztem Berberroß. Sie reitet auf bunten Krokusdielen,
Sie galoppiert durch ernste Lorbeernacht,
Durch frohe, frühlingstolle Mandelbäume,
Der Gießbach stürzt durch Goldorangenpracht.
Sie fällt in Schritt, und fällt in Traum und Träume;
Verheißung, wem? Wem gilt ihr Mondesblick,
Nach Tag und Tau und Abendrotgesäume?
Venus geht auf; es knüpft sich ein Geschick.
Lautlos. Es lärmen nur noch die Fontänen.
Träg blinzelt Sphinx hinauf ins Sterngestick. . . .
Wir wissen, wem der Liebesblick der Sarazenentochter galt, welchen Träumer sein Schicksal nach Spanien verschlagen hat, und nehmen von ihm Abschied.
Ich bin nicht mehr im Land der Sarazenen:
Mein Frösteln mahnt, daß ich in Holstein bin,
Wo sich die dicken, dummen Nebel dehnen. 395
Die Sonne, eine matte Siegerin,
Dringt mühsam wieder durch die Wolkendeiche;
Ich nehm ihr Licht mit Dank und Ruhe hin.
In meinem Lohholz lag er, an der Eiche;
Wer mag der Fremde sein, wo kam er her?
Die Blätterschatten huschen auf der Leiche.
Kühl durch die Stille plätscherte das Wehr.
Dennoch wäre die Bilderreihe von »Poggfred« noch nicht voll, wenn nicht Liliencrons sieghafter Humor Raum heischend dazuträte. Wie konnte er lachen! Wie hob ihn noch über jedes Mißgeschick immer wieder die sonnenhafte Sicherheit seiner Lebensgewißheit empor, die ihn rufen ließ:
Hinauf, hinab, wie frohe Kinder spielen!
Wer sich das wahrt, der kommt zu hohen Zielen.
Was in manchmal absichtlich ungefügem Ton der Ballade, was auch in der Kriegsnovelle immer wieder erklungen war, was zwischen den Versen vom Gang zwischen Sommerfeld und Hecken durchglitzert, kommt auch in »Poggfred« voll zum Ausdruck, zumal im vierten Gesang, der nicht im Schloß, nicht in Hamburg, sondern an der Elbchaussee verörtlicht ist. Der Dichter besitzt an der herrlichen Straße eine Burg mit weitem Blick auf die Elbe, und prachtvoll gestaltet er die Sonntagssommerruhe am und ein Stück Leben auf dem Strom.
Ein winzig Boot; ein Mann aus Oevelgönne
Ruderts, der Finkenwärder gern gewönne.
— — — — — — — — — — — —
Und eine Stille wars, da schoß ein Satan,
Torpedodampfer, lautlos durch die Flut,
Von Wilhelmshafen kam der Leviathan,
Trotz seiner Kleinheit Leviathansbrut.
Er kam im allerschwärzesten Ornat an,
Bezaubernd sah er aus in seiner Wut.
Unheimlich wars, es schien kein Kopf an Bord,
So pfeilt er durch das gelbe Wasser fort. 396
Wie war der Friedensmorgen wundervoll!
Die Nachtigallen schlugen wie verrückt.
Da dacht ich, ob ich heut nicht fahren soll
Den Sechserzug, die Hellfüchse, geschmückt
Wie Pferd und Muschelwagen von Apoll,
Wenn er den Himmel durch sein Pli entzückt.
Bei Jakob will ich frühstücken. Holla,
Anspannen, Zügel her! Hurrah, hurrah!
Das Sechsgespann verheddert sich mit dem einer Nachbarin, einer Geheimen Kommerzienrätin, zu unvergeßlichem Bild:
Und ein Geschling von Hälsen, Mähnen, Schwänzen,
Das wie das Chaos webert, wogt und ampelt.
Ich seh des einen Fuchses Lefzen glänzen
Weitauf, der Zähne Schnee; er schlägt, er trampelt.
Ein herrlich Bild! Vergebt, ich muß es kränzen.
Und alles zuckt und zappelt, strebt und strampelt.
Der aufgeputzte Schimmel steht dazwischen
Steilhoch, wo hell- und dunkelgelb sich mischen.
Der unliebsamen Begegnung aber folgt eine Einladung zur Gesellschaft, die karikaturistisch mit absichtlich dem Reim zuliebe gewählten Namen geschildert wird, »Brei, Klei, Bolle, Starz, Siebenschwarz, Harz, Blander, Plosen«. Zwei Dichter sind da. Der eine, mehr einem Jäger als einem Lyriker ähnlich, trägt ein hochaufrauschendes Liebeslied vor.
Heimlich beschützt uns vor Dorn und Verderben,
Heimlich und huldvoll die herrlichste Nacht.
Die Gesellschaft bleibt gegenüber dieser Kunst so verständnislos wie die Landleute und Kleinstädter, die einst Breide Hummelsbüttel bei sich zu Gast lud; ein Assessor schreit nach dem Staatsanwalt, andere fallen in Ohnmacht, Tante Mimi aber ruft den andern Lyriker, den »Längling«, heran, der, die Hand im Busen, mit »wallenden« Augen hervortritt:
Gleich kommt der Dichter–»e«; o helf»e«t, Musen!
Im Schwunge läßt er seine Rechte fallen.
Nur einen Reim noch hab ich: Kellinghusen;
Einsam sind Haide dort und Buchenhallen. 397
Der bringt zum jubelnden Entzücken der Gesellschaft ein Liebesgedicht etwa im Stile Friederike Kempners; und während alles noch rasend klatscht, ist der Jäger schon längst mit der schönen Komtesse, der seine Verse, ohne daß einer es ahnte, galten, nach Othmarschen verschwunden.
Da kenn ich Wege, heckenstill und gut,
Wo satt und matt sich küßt verliebtes Blut.
In diesem Gesang vor allem und dann auch weiterhin begegnen uns einige Strophen, in denen man Liliencron gewissermaßen, seiner Absicht gemäß, beim Dichten belauscht – ein durchaus byronscher Zug.
Der Reim hat mich geniert, das ist genant;
Verzeihung! Diese Strophe klingt mechant.
Da gebraucht er das Fremdwort, wie öfters, um es gewissermaßen lächerlich zu machen, zu komischer Wirkung. Und auch später beginnt er mit scheinbar mühsamem Anritt zur Ottaverime.
Von meinem Fenster, einer Straße zu –
Nein, erst muß ich im Training mich befinden,
Dann läuft die Strophe munter, und in Ruh
Kann Stanze sich bequem an Stanze binden.
Auch darin erinnert er gewiß an Byrons oft kapriziös geformte Strophen:
Jedoch ich finde keinen Helden heute,
Den ich für mein Gedicht gebrauchen kann,
Und nehme, wie gesagt, Freund Don Juan.
Liliencron führt auch zweimal (im dritten Gesang) Byron an. Und an Byron gemahnt er auch, wenn er im Abschluß seiner Dichtung skeptisch fragt: Wozu die Kunst? Fast jeder taxiere sie doch nur auf Gewinn.
Nur wenigen ist sie die Priesterin.
Die Kunst dem Volke! brüllt der Agitator.
Die Kunst den Künstlern! quakt der Deklamator. 398
Zur Lösung der Frage aber wird ein schleswiger Gymnasialprofessor berufen, der schon an andern Stellen der Dichtung aufgetaucht ist, der Liliencron schulmeisterlich, verständnislos nach Paragraphen heruntergekanzelt hatte. Und Emil Wolff, von dem sonst niemand mehr heute etwas wissen würde, gewinnt hier ein Stück Unsterblichkeit. Aber neben ihm wird Alfred Biese unsanft angefaßt. Er, der einst so warm für Liliencron eingetreten war, hatte 1896 in seinem Werk »Lyrische Dichtung und neuere deutsche Lyriker« nach vielem Lob nicht nur den Dichter getadelt, was dieser selbstverständlich geduldet hätte, nicht nur von ihm gesagt, er habe mit den »Neuen Gedichten« einen »tiefen Schritt bergab getan«, sondern auch von seinem »wüsten Genußleben in der Halbwelt« gesprochen, ihn auf den Weg der »Dekadenz« gestellt. Das durfte ihm Liliencron nicht hingehn lassen, und so strafte er Biese in stachligen, unbarmherzigen Versen aus empörter Seele ab und rief ihm zu: »Hand weg von meinem Leben!« Biese hat, was sich in seiner Kritik auf Liliencrons Leben deuten ließ, später öffentlich zurückgenommen, aber Liliencron strich nur eine der verdammenden Strophen – die Empörung darüber, daß man ihn, der schwer arbeitete, der im ewigen Kampf mit der Not stand, so unsachlich beurteilte, hatte ihn zu tief getroffen. Und so übersteigerte er sich zu einem, wie er selbst fand, »gräßlichen« Vergleich:
Freiheit der Kunst! Freiheit der Kunst vor allen!
Frei sei sie wie der Cowboy im Far-West.
Aber von allem Zank und Stank wendet er sich am Schluß der Dichtung ab:
Nur ein paar Blätter aus dem Lebenstanze,
Aus meinem Wirbelsturme fing ich ein;
Nur ein paar Blüten aus dem Schicksalskranze,
Aus meinem Kranze, legt ich Reih zu Reihn,
Schob zu Terzine sie zurecht und Stanze,
Vielleicht nur eines Jahres Lust und Pein.
Erinnrung, Traum und Phantasie, drei Schemen,
Beglänzten sie mit ihren Diademen.
Im lieblich lachenden Lenz geht Liliencron unter Buchfinkengetriller durch die Natur. Und jetzt wünscht er ihn an seine Seite, der jedem Poggfred-Gesang das Leitwort geliehn hat, mit dem er sich von Jahr 399 zu Jahr mehr nicht nur äußerlich, sondern innerlich tief verbunden fühlte, Richard Dehmel.
Jetzt, Richard, hätt ich gern Dich an der Seite,
Dich Treusten! daß du mit mir fühlst die Welt,
Aufatmest mit mir nach dem wüsten Streite,
Der Kunst und Leben auseinanderspellt,
Und mit mir lachst in jauchzendem Geleite,
Wo Sonnensturm die schlaffen Segel schwellt.
Komm, Richard! Fernhin geb ich dir die Hand:
Komm, Freund, ich zeige dir mein Heimatland.
Ich bin im Wald an meiner Lieblingsstelle:
Durch eine Wiese, die von jungen Eichen
Umstanden ist, klungklingklangt eine Quelle.
Die Stille fuhr dem Weltlärm in die Speichen,
Hier ist des Paradieses Geisterschwelle,
Wo Engel sich die kühlen Hände reichen.
Ein Bienchen, oh der wählerische Rüssel,
Schwankt zwischen Teufelsmilch und Himmelsschlüssel!
Schon liegt, da der Mond durch die weißen Stämme scheint, das Mädchen an des Liebsten Brust, und am Tag tritt der Dichter noch einmal an die alte Stätte,
Wo Engel sich die kühlen Hände reichen.
Und meine Seele wird so klar und gut,
Unschuldig wie das Gras, worauf ich stehe;
Ruhig bewegt sich meine Herzensflut,
Versunken sind die vielen Ach und Wehe.
Mir wird so froh, so seltsam wohlgemut,
Als ob mir Ueberirdisches geschehe.
Die unbesorgte Laune schlägt noch einmal hinein.
Nur einmal klingt mir noch ein Sehnsuchtsleid,
Ein Lied fernher, schon aus der Ewigkeit:
Na so wollnmrnochemal, wollnmrnochemal,
Heirassassa,
Lustig sein, fröhlich sein,
Rassassassa! 400
Verflüstert ist es. Keine Störung mehr.
Neid, Rache, Bosheit läutern sich in Reinheit.
Den Menschen, wie sie schütteln Gift und Speer,
Vergebe ich, vergesse die Gemeinheit.
Verzeiht auch mir! Wollt ihr? Wir sind bons frères!
Wir alle bilden ja die große Einheit.
Selbst Emil: komm! gib mir den Bruderkuß!
Und damit end ich. Punktum. Löschblatt. Schluß.
Überschaut man »Poggfred« als Ganzes, so erkennt man zunächst die unvergleichlich strenge Verszucht, die ganz gelungene Bändigung der Form. Die Ottaverime, die zuerst durch Goethes »Geheimnisse« und seinen »Epilog zu Schillers Glocke« weithin hallend in Deutschland wieder unüberhörbar erklungen war, hatten insbesondere die Münchener oft gebraucht – Liliencron nennt in »Poggfred« ausdrücklich Hermann Lingg, dessen »Völkerwanderung« diese Strophe trug; doch blieb sie bei Lingg ruhig-episch und gewann erst bei dem jungen Münchener Hans Hopfen, dessen »Pinsel Mings« Liliencron nicht kannte, eine biegsamere, auch dem raschen Gefühl nachgebende Verwendung. Die hatte nun Liliencron zur Höhe geführt. Ohne je der einmal als unumgänglich erkannten und eisern festgehaltenen Reimreinheit Eintrag zu tun, flocht er in die schöne Strophe nicht nur langsam hinerzählte Begebnisse, sondern beflügelte sie zu rascherem Gang, zu nachgiebiger Schilderung, wußte alles in ihr auszudrücken. Wenn er aber das Erlebnis hinaussteigert zur feierlichen Schau des Größten und Hehrsten, dann greift er zur Terzine, die auch Goethe für feierlichste Stunden zu verwenden gewußt hatte, und die dann wieder die Münchener, Julius Grosse und, mit weit größerer Kunst, Paul Heyse, benutzt hatten. Stufenmäßig, wie den Bau einer Pyramide, setzt Liliencron seine Terzinen weniger neben- als übereinander; man hat das unablässige Gefühl, emporzusteigen und bei jedem Schritt, den eine neue Dreizahl bedeutet, von höherer Warte ein neues Bild zu gewinnen. Verblüfft »Poggfred« zunächst durch die scheinbare Läßlichkeit, so gewinnt man insbesondere in den Terzinen alsbald die denkbar größte Sicherheit, das Gefühl, von einem souveränen Künstler mitgenommen zu werden. Immer wieder schieben sich Abschweifungen von Anmut und Laune, von Erinnerung, Traum, Erlebnis und Phantasie dazwischen. Die Widersprüche der Persönlichkeit werden nicht verschwiegen, und »ausleben ungemessen« erklingt als unablässiges Leitmotiv zwischen den Strophen. Theodor Storms 401 Wort: »Aber er kann einen krank machen« würde ganz gewiß gerade von dieser Storm noch nicht bekannt gewordenen Dichtung gelten können, wenn nicht eins diesen Eindruck immer wieder aufhöbe: die Gesamtauffassung ist subjektiv, aber über alles Abirren hinweg strebt der Dichter doch unablässig einem Höhepunkte zu und läßt uns mit ihm diesen erreichen. Die Subjektivität dieser Darstellung wäre unerträglich, wenn es sich nicht um eine in tausend Kämpfen fertig gewordene Persönlichkeit handelte, die uns schließlich hält; sie wäre unerträglich, wenn der Künstler nicht die einmal erwählte Form in der Erfüllung mit dem subjektiven Gehalt so rein und klar gestaltete. Erst auf dem Gipfel sprachlicher Verfeinerung, den Liliencron innerhalb unserer Dichtung erreicht hat, war dieses Epos möglich. Schon in den »Gedichten« fand sich der Vers:
Ein echter Künstler, den Gott erkoren,
Ist immer als Naturalist geboren.
Doch wird er ein roher Bursche bleiben,
Kann ihm in die Wiege die Fee nicht verschreiben
Zwei Kräuter aus ihrem Wunderland:
Natur und die feinste Künstlerhand,
was später feiner gewandelt wurde:
Zwei Gnaden aus ihrem Wunderland:
Natur und die feinste Künstlerhand.
Liliencron wußte also schon früh, und seine Verse zeigen es von Anfang an, daß Naturabschrift noch nicht Kunst ist, daß nicht nur Anschauung und Temperament zur Schöpfung gehören, und nach diesem aus dem eigenen Wesen heraus gefundenen Satz ist »Poggfred« geschaffen: alles ist naturhaft, aber von feinster Künstlerhand gebändigt und gerundet, selbst da, wo der Dichter einmal bewußt spielt, eine Art Erholungspause eintreten läßt.
In seiner Art ist dieses von überraschenden und haftenden Bildern randvolle Epos die erste deutsche Meisterschöpfung. Goethe hatte mit »Hermann und Dorothea« das große objektive Epos zu einem Gipfel geführt, aber nur schwache Nachahmung, keine eigentliche Nachfolge gefunden. Denn die Romantik hatte es nicht zum großen Epos gebracht, war über die zarten Klänge von Ernst Schulzes »Bezauberter Rose« mit ihrem durchaus idyllischen Charakter auf 402 diesem Gebiet nicht emporgedrungen, und erst Friedrich Hebbel stellte in »Mutter und Kind« neben Goethes Schöpfung ein Gedicht aus dem Norden mit durchaus niederdeutscher Betonung; auch damit schnitt die Entwicklung wieder ab. Heinrich Heine fand in »Atta Troll« auf subjektivem Wege epische Dichtung, aber ohne wirklich aufbauende Kraft, trotz vielen glänzenden Bildern im einzelnen, und mit zeitpolemischer Überfracht. Nicolaus Lenaus Epen waren geschlossene, subjektiv gefärbte, aber zu objektiver Darstellung strebende geschichtliche Erzählungen, und die Epen der Münchener entweder Novellen, wie die Paul Heyses, oder, trotz kosmischem Drang und Bilderfülle, gerüstlose Bauten ohne breit bildende Kraft, wie bei Adolf Friedrich von Schack und Julius Grosse. Hermann Lingg stieg weit darüber hinaus zu prachtvollen Bildern empor, fügte sie aber nicht zum beabsichtigten geschlossenen Bild und blieb zu breit, während Joseph Victor Scheffel im Sang zu leicht war.
Liliencrons Dichtung hat im Grunde mit dieser ganzen Entwicklung nichts zu tun und steht der bürgerlich-realistischen Lebensdarstellung Goethes und Hebbels ebenso fern wie der literarisch-satirischen Dichtung Heines und dem Münchenertum in seinen verschiedenen Ausstrahlungen. Nur mit Hans Hopfens Art, die freilich durch manche Hemmungen später nicht voll zur Entfaltung kam, berührt sich Liliencron auch hier. Sein eigentlicher Vorläufer aber ist Christian Friedrich Scherenberg, der auch in seiner Ballade manchesmal wie ein früher, nur weniger gereifter, minder feinhöriger und zu früh verwöhnter, darum oft manieristisch gewordener Liliencron wirkt. In Scherenbergs Schlachtendichtungen, die Liliencron unbekannt waren, lebt mancher Ton, der bei diesem wieder empordrang; bei Scherenberg ging durch den Willen zur objektiven Gestaltung ein stark subjektiver Grundzug, große und grelle Bilder stehn nebeneinander, oft Bilder von bleibender Wirkung, wie der Abschluß der Schlacht bei Ligny, wie der große Schiffsbrand von Abukir. Aber durch mangelnde Selbsterziehung versagte sich Scherenberg häufig die volle Höhe und Einheit der Kunst. Und so gewann erst zu der Zeit, da Carl Spitteler uns das breit malende objektive Epos neu vollendete, Liliencron den Deutschen, was Byron den Engländern schuf: Das große subjektive Epos, als das Friedrich Hebbel den »Don Juan« pries. Nur freilich spannte der Deutsche den Rahmen noch weiter als der Brite, kürzte im einzelnen überall ab, hatte auch noch mehr lyrisches Eigengut hineinzugeben und erfüllte über Byron hinaus seine Bilder mit dem voll eingesogenen Hauch seiner Landschaft, wenn er die epische 403 Handlung in ihr verörtlichte. Auch Liliencron zog es zur Ferne, aber mit mehr Halt als Byron klammerte er sich doch immer wieder in sicherer Erkenntnis an den Heimatboden an und stieg auch in »Poggfred« von ihm empor, nahm ihn gewissermaßen mit in die Höhe. Immer wieder fielen die Wände des einsamen Schlößchens, und man sah Schleswig-Holstein in Sonne und Schatten, im Frühlingsgrün und Winterschnee, sah darüber hinaus das weite Vaterland in Frieden und Krieg und glitt selbst von der Sternenreise endlich zwischen die Buchen der Halbinsel, an das Ufer der Nordsee hinab. Leise tastend, von den »Märztagen auf dem Lande« bis zum »Mäcen« und darüber hinaus, hatte die ideale Formung dessen nach Gestalt gerungen, was der arme, einst aus der Bahn geworfene Dichter gerne sein wollte – hier war es endlich Form geworden: der herrscherhafte Dichter meisterte sein Bereich. Nach der makartschen Schwüle von Hamerlings breit und ekstatisch malenden Epen zeigte hier eine gesunde Kunst von Böcklinscher Farbigkeit am Ende einer rein naturalistischen deutschen Zeit kühnste Flüge der Phantasie und ihre Bewältigung durch das feinste Formgefühl eines geborenen, in unermüdlicher Selbstzucht an sich arbeitenden Dichters von ganz und gar deutscher Natur. 404