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In der Nacht vom 15. zum 16. Juli traf beim Regiment der Mobilmachungsbefehl ein. Die Einundachtziger blieben zunächst in Mainz, weil man mit einem Vorstoß der Franzosen auf diese Festung rechnete. Am 2. August erschien König Wilhelm mit dem großen Hauptquartier in der Festung, am 6. verkündete er persönlich den auf der Neuen Anlage versammelten Offizieren den Sieg von Spichern. Jubelnd ward die Nachricht aufgenommen und jubelnd am 7. die Mitteilung Moltkes, daß das Regiment am nächsten Morgen nach Saarlouis abrücken solle. Es ging wieder in den Kampf.
Liliencron hatte von dem König und seinen Feldhauptleuten einen gewaltigen Eindruck mitgenommen. Die gedankenvolle Ruhe Moltkes, die aufrechte Haltung Roons, Bismarcks lachendes Abschiedswort: »Jetzt gehts los, jetzt gehts los« blieben ihm unvergeßlich. Er selbst war als Adjutant zum Generalleutnant Ferdinand von Kummer, dem Kommandeur der dritten Reservedivision, dem früheren Befehlshaber der Siebenunddreißiger, bestimmt und durfte so sein Regiment am 8. August nur bis vors Tor geleiten. Aber er bat Kummer so dringend um Ablösung, weil er wieder zu seinem Regiment wollte, daß er schon am 12. August in Kaiserslautern entlassen wurde, um nach Saarlouis zu gehn. Vor der Abfahrt sah er Anna auf der Straße »mit freundlichem Gruß« – »Adieu, for ever – es hat nicht sollen sein!« Die Fahrt von Mainz bis Kaiserslautern mit Kummer, bei schlechtem Wetter, brachte Liliencron mit einer Reihe wertvoller Persönlichkeiten zusammen. Er traf neben einigen schlesischen Fürsten und Adeligen den Landrat Jansen, der ins Hauptquartier eilte, um als Zivilkommissar in eroberten französischen Bezirken Dienste zu leisten; Liliencron unterhielt sich vorzüglich mit ihm. In Saarlouis kam er zum dritten Bataillon unter Major von Hanneken; am 14. lag er in Neunkirchen und sah dort die Stummschen Werke. Am 17. betrat er zum erstenmal zu Châteaurouge in Lothringen feindliches Gebiet und genoß dort nach zwölfstündigem Marsch ein vorzügliches französisches Essen. Am 19. traf das Regiment vor Metz ein und kam gleich ins Feuer vor dem Walde von Grimont. Die französische Infanterie ging aber sofort zurück, und da aus dem Fort sehr schlecht geschossen wurde, hatte das erste Bataillon keine Verluste. Liliencron bewunderte aber ein Reiterstückchen Busses, der auf seinem kleinen polnischen Apfelschimmel einem französischen Infanteristen nachjagte. Dieser warf sein Gewehr weg, und schon hatte ihn der Leutnant vom 72 Roß aus beim Kragen, da gelang es dem Franzosen, zu entschlüpfen, und Busse konnte nur die rechte wollene Schulterschnur hochschwingen.
Am 24. August kam Liliencron zu den vordersten Vorposten nach Rupigny, wo es aber nur ein kleines Patrouillengefecht gab. Erst am 26. gab es ein größeres Gefecht, wobei Liliencron von Mittag bis fünf Uhr im heftigen Kugelregen stand. Am 28. lag er in Charly im Haus einer Wäscherin. Während am 31. früh exerziert wurde, mußte das Regiment sofort in Gefechtstellung rücken. Am 1. September nahm das Regiment an der Schlacht bei Noisseville teil, in der es gelang, den beabsichtigten Durchbruch Canroberts zurückzuschlagen. Das Fort Saint Julien bewarf die Truppen unaufhörlich mit schweren Bomben. Liliencron fand zwei Leute von einem andern Regiment, die sich feige versteckt hatten, ging mit ihnen mitten ins Feuer, kommandierte: »Achtung, präsentiert das Gewehr!« und stand neben ihnen mit gesenktem Degen regungslos zwei Minuten, bevor er sie wieder entließ. Er erhielt dafür zwar einen strengen Verweis, wurde aber abends doch vom Obersten gelobt. Zu Liliencrons Kummer ward der junge Sekondeleutnant des Regiments Hermann Budde bei Noisseville verwundet; es ist der spätere Minister. Am 2. September kam Liliencron wieder nach Rupigny, dem »Stinkloch«. Als Zeichen preußischer Disziplin empfand er es, daß noch alle Hühner im Dorf lebendig umherliefen. Nachts zog er, zum Umfallen müde, auf Feldwache, wo er immer und immer Schießen hörte und fortwährend durch Patrouillen beschäftigt wurde. Am 3. stand er noch auf Feldwache, hocherfreut über seine Unteroffiziere und Leute, mit denen man »durch die Welt könnte«. Erst am 5. erfuhr das Regiment die große Kunde von Sedan und nahm sie jubelnd auf. Eintönig verliefen die nächsten Tage bei wolkenbruchartigem Regen und vielen Fiebererkrankungen im Regiment. In mancher Nacht ward viermal alarmiert, ohne daß es doch zu ernsten Gefechten kam. Am 7. hatte Liliencron von den Johannitern Lebensmittel, Leibbinden und Wäsche zu beschaffen, immer unter furchtbarem Regen, der ihn bis aufs Mark durchnäßte. Am 8. hieß es Stroh holen.
Bei dem Gefecht von Chieulles am 23. September kam Liliencron nicht selbst in den Kampf. Immer noch lag er in Rupigny, las in Klaus Groths mitgenommenem »Quickborn« und erfreute sich der guten Kameradschaft seines Hauptmanns von Roques, unter dessen Leitung er am 29. eine größere Fouragierung ausführte. Es war Nacht, ein Meteor, so schön, wie er es nie gesehn, schoß vom Himmel, und Hauptmann von Roques führte seinen Auftrag so vorzüglich aus, daß man 73 nur einmal eine kreischende Frauenstimme und das Schreien eines Schweines hörte. »Wie entsetzlich ist es doch, so eine Fouragierung und gewaltsame Akquisition«, schrieb Liliencron in sein Kriegstagebuch, »hier mußte sie stattfinden, und die Bewohner konnten froh sein, daß wir ihr Dorf nicht abbrannten. Rings herum am Horizont sah man außer den Wachtfeuern schaurige Brandstätten. – Drei Dörfer, jedesmal von zwölf Enden in Brand gesteckt, redeten Bazaine ins Gewissen.« In der nächsten Nacht war Liliencron zur Patrouille bestimmt: »Es ist mein fester Entschluß: Gefangene zu machen – selbst wenn es nicht anders geht, ins Bois de Grimont mit tambour battant hineinzugehn, coûte qui coûte. Sollte ich fallen, wem ist daran gelegen, nur meinen Eltern, meinen lieben Herzenseltern. – Dies sind vielleicht die letzten Zeilen, die ich in das Tagebuch schreibe. Also vorwärts denn. Drauf mit Hurra! für König und Vaterland!!!«
Er kam aber bei dieser erfolgreichen Patrouille nicht bis zum letzten Ziel. Zwar gelangte er mitten unter die Franzosen, und es entspann sich auch ein Gefecht, aber Gefangene hat er nicht gemacht. Sein Bursche Lüdemann, ein Schleswig-Holsteiner, ging Liliencron tapfer zur Seite.
Am 1. Oktober ward die Kompagnie Roques endlich abgelöst und marschierte nach Maizières bei Metz; auf dem Marsch traf Liliencron zum erstenmal im Feldzug Seckendorff wieder. Während aber eine Viertelmeile vor ihm ein heftiges Gefecht im Gange war, ward das Regiment nicht verwendet. Zum erstenmal war das Quartier leidlich behaglich, Roques und Liliencron lagen in der Stube mit dem kleinen dreijährigen Sohn der Wirtsleute, der – ein ergreifender Gegensatz – lachend, singend im Bettchen lag, während draußen gefochten wurde.
Das Regiment verließ die Reservestellung der Division einstweilen nicht, und Liliencron konnte sich an Briefen und Versen seines Freundes Ludwig von Kaltenborn erfreuen, der als Adjutant beim Ersatzbataillon in Mainz zurückgeblieben war.
Am 7. Oktober kam endlich die Division Kummer, die dem kommandierenden General des 1. Armeekorps, Konstantin von Voigts-Rhetz, unterstellt war, in Tätigkeit. Die Brigade, zu der die Einundachtziger gehörten, erhielt den Auftrag, das am 2. Oktober von der Landwehr geräumte Schloß Ladonchamps wieder zu erobern. Gleich nach Mittag ward alarmiert, und abends um sieben kam der Befehl, über St. Remy gegen Ladonchamps loszurücken. Liliencrons Kompagnie, die zweite, ging mit der dritten bei völliger Dunkelheit hinter dem Dorfrand von St. Remy, links der Straße, vor. In der tiefen 74 Finsternis rückten die geordneten und gerichteten Massen mit dreißig Schritt Abstand über das leere, große Feld, in völliger Stille. Hier und da stolperten sie über Tote und Verwundete; über Gräben, Wolfsgräben, Verhaue, Barrikaden ging es weiter durch St. Remy hindurch, wo in Halbzüge abgebrochen wurde. Jenseits des Dorfes – Liliencron marschierte neben Roques, der ihm wie der »Erzengel der Kraft« erschien – bekamen die Truppen plötzlich ein verheerendes Schnellfeuer von Infanterie und mit Kartätschen. Der erste, der fiel, war Hauptmann von Roques. Er war durch den Kopf geschossen, und seine letzten Worte galten seiner Frau. Liliencron selbst wurde am linken Knie verwundet, fiel nieder, verband sich mit einem Taschentuch und marschierte weiter. Busse versuchte, in dem immer noch vernichtenden Feuer die Kompagnie zu sammeln, wobei ihm Liliencron besonnen und ruhig half. Liliencrons neuer Bursche Bachmann wurde durch die Brust geschossen. Liliencron sank wieder um, konnte infolge der Schußwunde nicht weiter laufen und legte sich nach dem stürmischen Vorgehen mit den Leutnants Busse, Stengel, Jung und Cochenhausen in den Chausseegraben. In der ersten Gefechtspause ward er, immer bei Bewußtsein, nach St. Remy zurückgebracht, wo er den Obersten von Sell, seinen Regimentskommandeur, traf. Der Rückweg führte durch ein völlig zerstörtes Gelände zwischen niedergebrannten Häusern, weggeworfenen Hausgeräten, verwüsteten Kirchhöfen, zerfetzten Pferden, gestürzten Geschützen.
Die Eroberung von Ladonchamps war nicht geglückt, weil man in dem heftigen Feuer einen fünfzehn Schritt breiten Wassergraben nicht überschreiten konnte, und das ganze Regiment mußte auf St. Remy zurückgehen, zum tiefsten Schmerz Liliencrons. Er hätte gewünscht, daß die ganze Brigade mit schlagenden Trommeln gleichzeitig mit allen Leuten darauf losgegangen wäre. In Maizières ward er zu Bett gelegt; der erste, der ihn besuchte, war der treue Busse, ihm folgte Cochenhausen. Am 8. abends ward Liliencron die Führung der siebenten Kompagnie übertragen – außer Roques war auch der Hauptmann von Werder gefallen und der Hauptmann von Mach verwundet worden –, er konnte aber das Kommando nicht antreten, weil die Verwundung zu schwer war, er mußte das Haus hüten. Die Wunde schmerzte wenig, doch durfte er nicht ins Biwak und mußte am Kamin in Maizières sitzen bleiben. Am 11. lag er im Bett und las den ihm von dem Arzt Dr. Kellner geliehenen »Faust«, in schrecklicher Stimmung über die erzwungene Tatenlosigkeit, dennoch aber äußerlich gefaßt mit dem Wunsch, durch gutes Beispiel zu zeigen, 75 wie man sich auch in solcher Zeit tapfer zu benehmen hat. »Mit Geduld und Spucke fängt der Elefant die Mucke«, schreibt er schließlich ins Tagebuch. Am 13. hatte er große Schmerzen, aber wenigstens Cochenhausen zur Gesellschaft, der an Gesichtsrose erkrankt war und an einem großen Gefechtsbericht für eine Mainzer Zeitung schrieb. Am 15. mußte Liliencron ins Lazarett fahren, um die Wunde gänzlich auszuheilen, und ward über Courcelles schließlich nach Mainz zurückgebracht. Hier konnte er in seiner Wohnung, die Blätter des Akazienbaums vor dem Fenster, liegen bleiben. Er las viel in der Bibel und in La Maras Musikalischen Studienköpfen und verkehrte gelegentlich mit gefangenen französischen Offizieren. Im November, als er endlich aufstehn konnte, ließ er sich eine französische Kompagnie geben, die er wie preußische Rekruten einexerzierte. Er hatte alles mögliche durcheinander, Südfranzosen, Spahis, Mulatten, Turkos, und übersetzte sich die deutschen Befehlsworte ins Französische; als Burschen nahm er sich einen Neger. Schade, daß wir kein Bild Liliencrons vor der Front dieser bunten Masse besitzen!
Am 30. November traf Liliencron wieder beim Regiment ein; trotz dem Widerspruch der Ärzte hatte er es in Mainz nicht mehr aushalten können. Inzwischen hatte sich das Bild des Kriegsschauplatzes völlig verändert. Metz und Straßburg waren gefallen. Das Regiment hatte an der Einschließung von Diedenhofen teilgenommen und war dann der Armeereserve unter General Schuler von Senden zugeteilt worden mit dem Auftrag, die Verbindungen des Heeres im Bereich des Generalgouvernements Rheims gegen feindliche Unternehmungen aus dem Festungsdreieck Mezières, Givet, Rocroy zu sichern. Es war über Sedan nordwestlich vormarschiert und stand bei Liliencrons Eintreffen in Lafrancheville vor Mezières an der Maas. Die Reise von Mainz her war sehr anziehend gewesen, Liliencron hatte das hübsche Epernay und Rheims kennen gelernt, in Metz den St. Julien besichtigt, von dem aus sein Regiment so stark beschossen worden war. Abgesehn von einer tüchtigen Erkältung, fühlte er sich sehr wohl.
Sehr häufig wurden die Truppen jetzt durch Franktireurs und Mobilgarden belästigt. Am 3. Dezember war Liliencron bei Schneegestöber in Evigny, wo er bei einem fanatischen französischen Geistlichen einquartiert war; dieser kniete neben dem schreibenden Offizier und betete unausgesetzt, die eine Hand zum Kaminfeuer gereckt. Am 5. lag Liliencron wieder in Lafrancheville. Vom 6. Dezember an war er Kommandant in einem großen Fabrikgebäude, wenige Minuten vom Bahnhof Mezières, den die Franzosen besetzt 76 hatten. Die Lage war sehr bedenklich, aber es fand kein Angriff statt. Am 13. endlich ward angesagt, daß das erste Bataillon auf Soissons abrücken sollte; aber erst am 19. kam der wirkliche Marschbefehl. Liliencron war inzwischen wieder drei Tage mit dem Zahlmeister Wickmann in Rheims gewesen, um Geld zu holen. In seinem Quartierwirt, dem in Lübeck erzogenen Schaumweinfabrikanten Boisseau, lernte er einen liebenswürdigen Bekannten seiner Verwandten Warnstedt kennen.
Jetzt ging es bei Regen und Sturm auf St. Quentin. In Landun mußte Liliencron bei entsetzlichem Schmutz Kirche und Keller nach Franktireurs absuchen. Am 22. traf er, unter großen Beschwerden durch seine Wunde, in Montcornet ein, wo er endlich eine gute Unterkunft mit Einzelbett fand – im letzten Quartier hatte er, wie öfters, mit seinem Kameraden Stengel das Bett geteilt. Die Truppen waren in diesem Winterfeldzug von der Außenwelt wie abgeschnitten und erfuhren kaum, was in der Weite vorging. Die Kälte war barbarisch, und am Heiligen Abend schrieb Liliencron mit völlig erstarrten Händen auf der Chaussee von St. Quentin nach Ham ein paar Worte in sein Kriegstagebuch. Es gibt ein hübsches Bild Antons von Werner: »Etappenquartier vor Paris«; da steht in einem sehr behaglich ausgestatteten Zimmer ein junger Ulanenoffizier am Flügel und singt, während die Kameraden am lodernden Kamin versonnen lauschen. So gut hatten es die Einundachtziger nicht. In den Feiertagen lag Liliencron in dem Haus »einer Waldhexe« auf Feldwache. Zu den Schmerzen am Knie hatte sich Schulterrheumatismus und zum erstenmal auch durchlaufene Füße gesellt. Dazu kam noch das im Kriege so häufige, unangenehme Gefühl, in den unteren Stellungen nicht eigentlich zu wissen, wo es hinginge. Am 28. Dezember lag er unter heulenden Kindern und weinenden Frauen im Alarmquartier, am 29. unter fliegenden Granaten, bei Glühwein aus Kesseln, dicht vor Péronne, nordwestlich St. Quentins, auf Schneehaufen. Vor den Kriegern lohte die brennende Stadt, vier Schritt vor ihnen ließ sich ein Rotkehlchen nieder. Abends senkte sich die Sonne blutrot, und in die Röte des Himmels mischte sich neuerlich der Brandschein einer Kirche. In der Asche wurden Kartoffeln gebraten, dazu ward Schnaps getrunken und gesungen: »O Tannenbaum, o Tannenbaum« oder: »Rinaldo Rinaldini«. Wegen der Kälte durfte nicht geschlafen werden.
Der Silvesterabend ward in Gesellschaft des Majors leidlich, bei Sekt und Glühwein, zu Le Mesnil-Brüstel verlebt. Am 77 2. Januar rückte Liliencron nach einem kurzen, aber kalten Marsch in Ham ein. Und zwischen Ham und La Fère ging es in den nächsten Tagen hin und her. Am 7. wurde in schrecklichem Regenwetter über die Somme gerückt, die Strapazen wuchsen von Tag zu Tage. Liliencron fühlte sich durch und durch krank, meldete das aber nicht, sondern tat stramm seinen Dienst; mehrmals war er Fourieroffizier und durfte wenigstens reiten. Mit leidenschaftlichem Eifer sorgte er für seine Leute, »der Soldat muß leben«. Dankbar war das Geschäft nicht, »Geschrei, Lärm, stets Unzufriedenheit, unerhörte Grobheiten von allen Seiten – herausschmeißen – Suchen – Toben der Compagniechefs, und Rüffeln des Fouriers und der Leute – und hier in Frankreich noch obendrein das entsetzliche Geschrei der Einwohner.« Am 14. Januar lag er bei dem greisen Pfarrherrn von Flancourt, den Marodeure ganz ausgeplündert hatten; trotzdem war die Stube behaglich. Zum erstenmal hörte er hier einen Franzosen, einen ehemaligen Anwalt, gegen Gambetta reden, der sein Volk zum letzten Kampf stachelte: »Il joue avec la vie des hommes«. Er beobachtete die schönen Augen der Advokatenkinder, die, »wenn sie (die Knaben) nicht frühzeitig verderben, einen immensen Einfluß ausüben müssen auf die Frauen.« Abends war er in dem schauerlich verwüsteten Péronne und teilte zum Nachtmahl eine Gans mit einem alten Priester, dessen Haushälterin und seinem Burschen. Am 16. Januar erwartete die Division, die jetzt dem Prinzen Albrecht (Vater) von Preußen unterstellt war, den Angriff Faidherbes. Es kam aber noch nicht so weit. Am 18. war Liliencron, dessen vorzügliche Reitkunst bekannt war, zum stellvertretenden Regimentsadjutanten beim Major von Hanneken (Oberst von Sell war am Typhus erkrankt) ernannt worden und mußte ununterbrochen zu Befehlsempfängen hin- und zurückreiten. Am 19. kam das Regiment dann wieder ins Gefecht. Das erste Bataillon marschierte auf Jussy, das Füsilierbataillon, zu dem der Regimentskommandeur trat, als linkes Seitendetachement auf Grand Sérancourt, wo es um halb neun eintraf; der Feind räumte die Stellung. Während das dritte Bataillon in Grand Sérancourt zurückblieb, rückte der übrige Teil der Division Prinz Albrecht auf Grugis. Das erste Bataillon der Einundachtziger gelangte durch eine kühne Erkletterung eines Hohlwegs unter Major Hoen weit nach vorn und trat an der Spitze der Truppen auf die Höhe von Grugis an. Der Feind zog sich unter mörderischem Artilleriefeuer zurück, rechts von der Reiterei bedrängt. In unaufhaltsamem Weiterdringen rückte das erste Bataillon in die Vorstadt d'Isle; der Premierleutnant 78 Biebrach zeichnete sich mit der dritten Kompagnie besonders aus, er eroberte den Bahnhof und die um ihn liegenden, noch von den Feinden besetzten Häuser.
Liliencron hatte während des ganzen Gefechtstags Befehle und Nachrichten hin- und herzubringen, war von einem Pferde aufs andere gestiegen; er hatte mehrmals das Glück, den großen Feldherrn Goeben zu sprechen, in dem er nicht nur den genialen Heerführer, sondern auch einen herrlichen Menschen verehrte. Eine Zeitlang ritt er im Gefolge des Prinzen Albrecht (Sohn), der sein letztes Schwarzbrot und den letzten Wein an hilflos daliegende Verwundete verteilte. Der Adjutant ritt durch Granatfeuer und versuchte, in einem Hohlweg Verwundete vor den Rädern einer heranrasenden Batterie zu retten, es gelang aber nicht, obwohl er schließlich in der Verzweiflung den Fahrern seinen Helm entgegenwarf. Er sah, wie ein Gefangener einem Begleitmann das Gewehr von der Schulter riß und auf der Stelle erschossen wurde; er fand verwundete Kameraden und konnte den Arzt zu ihrer Hilfe herbeirufen. Er konnte eine Husarenattacke mitreiten. Nachts sorgte er zuerst für sein gänzlich verschmachtetes Roß, kam aber selbst nicht zur Ruhe, da er früh um fünf wieder mit Aufträgen zur Kavalleriedivision Graf Lippe reiten mußte, mitten übers ganze Schlachtfeld in der Dunkelheit. Er verirrte sich ein paarmal, konnte aber doch den befohlenen Auftrag ausführen. Auf dem Schlachtfeld erfuhr er die Ausrufung König Wilhelms zum Deutschen Kaiser. Am 20. marschierte er durch schauerlich öde Winterlandschaft von St. Quentin nach Maretz, am 21. lag er mit Hanneken im Schloß Clermont, am 24. war er wieder in Flancourt, am 25. schlief er im Schloß Berny-en-Santerre, wo am folgenden Tag ein großes Feuer ausbrach. Jetzt kam Premierleutnant von Roques II zum Kommandeur zurück und Liliencron ward zu seiner Freude abgelöst. Am 31. mußte er sich ins Lazarett Roederer nach Rheims bringen lassen, weil die Wunde sich wieder unangenehm fühlbar machte und eine schwere Erkältung hinzugekommen war. Er verkehrte hier viel mit dem Geheimsekretär der Kaiserin Augusta, Dr. Marx.
Inzwischen war, am 30. Januar, ein Waffenstillstand für drei Wochen geschlossen worden; die Truppen lagen weiter auseinander, in angenehmerer Unterkunft. Am 16. Februar konnte Liliencron das Krankenhaus verlassen und feierte am 18. in einem Gasthof zu Amiens frohes Wiedersehen mit Seckendorff und andern Kameraden. Am 26. fuhr er mit Wickmann nach Abbeville hinüber und genoß den Anblick des Atlantischen Ozeans bei Cayeux. Anfangs März lag er in 79 Le Merge bei einem kleinen, zierlichen Herrn von St. Hilaire in trefflichem Quartier. Am 11. ging es weiter nach St. Sauveur, in ein schmutziges, verwahrlostes Haus; hier hat Liliencron auch einmal mit Kameraden, in den ereignislosen Tagen, gespielt. Am 13. war große Heerschau vor dem Kronprinzen bei Amiens, das Regiment stand auf dem linken Flügel; Liliencron fand Friedrich Wilhelm ungemein ernst, blaß und angegriffen. Darauf wurde die Division Prinz Albrecht aufgelöst, und das Regiment der 29. Infanteriebrigade zugeteilt. Am 22. März feierte das Offizierkorps den Geburtstag des neuen Kaisers durch ein Mittagessen in Harbounières, und Ende März kehrte Liliencron, während das Regiment erst zu Ende Juni nach Deutschland kam, in die Heimat zurück, um völlige Heilung seiner Wunde zu suchen.
Zum zweitenmal war ihm das Glück beschieden gewesen, für sein Vaterland zu fechten. Tapfer hatte er mitgeholfen, den Bau der Einheit zu vollenden. Die Kameraden rühmten sein furchtloses Draufgehn, seinen bedenkenlos vorstürmenden Mut. Wie zum Fest ging er zum Gefecht und zog wohl übermütig vor aller Augen ein Paar tadelloser neuer Handschuhe an, wenn zum ernsten Gang angetreten ward, bis Freiherr von Sell ihn bat, den übermütig jugendlichen Scherz zu unterlassen. Vor allem schätzten die Genossen Liliencrons umsichtige, ergebnisreiche Kunst der Patrouillenführung; durch sie ward er bald über das Regiment hinaus bekannt. Wenn die Kameraden im nächtlichen Zelt draußen einzelne Schüsse fallen hörten, sagte wohl einer: »Da wirkt Liliencron wieder herum.« Alle seine Eigenschaften und Leidenschaften schienen erhöht und belebt, wenn der Ernst des Kampfes begann; dann straffte sich die etwas breiter gewordene Gestalt, dann sprudelten ermunternde Worte an die Leute der Kompagnie. Und diese hingen mit herzlichster Liebe an dem jungen, heitern, frischen, für jeden besorgten Leutnant.
Der Sohn des einst verlassenen, nun Preußen für alle Zeit ungeteilt verbundenen meerumschlungenen Landes hatte wieder sein Leben darangesetzt für das große Vaterland und ein noch größeres und mächtigeres erworben. Zum Mann gereift, trug er unverwischbare Eindrücke in die Friedenszeit mit hinüber und bewahrte alles, was die geschärften Sinne erspäht, der wachsame Geist aufgenommen hatte, in der Seele. Er war nicht gefallen, sondern kehrte als Sieger wieder mit einem Stück Kriegsbeute, das niemand sah und dessen Schwergewicht und Vollglanz erst viel später aus dem Schlummer im Herzen ins blühende Leben hinausverlangten. 80
Der Eindruck dieses Feldzuges blieb stets, über allem, das Größte in Liliencrons Leben, wie er es andern Männern blieb, die später Großes vollbrachten. Graf Ferdinand Zeppelin, der Erkundungsreiter von Niederbronn, hat, längst nach der Erfindung des lenkbaren Luftschiffs, nachdrücklich gesagt, daß seines Lebens größter Stolz sei, beim Bau des Reiches mitgeholfen zu haben. Ernst von Wildenbruch bekannte, er sei »geboren worden am 3. Juli 1866 bei Königgrätz in Böhmen«. Und Liliencron schrieb in einem Lebensabriß von 1906 nur: »Machte die Feldzüge 1866 und 1870/71 mit« und zur selben Zeit, also nach fünfunddreißig Jahren, noch einmal: »Machte als preußischer Offizier die Kriege 1866 und 1870/71 mit«. Nur das war ihm erwähnenswert von allem im Leben.
Und Trommeln und Pfeifen, das war mein Klang,
Und Trommeln und Pfeifen, Soldatengesang,
Ihr Trommeln und Pfeifen, mein Leben lang,
Hoch Kaiser und Heer! 81