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Nur »leben« hatte ja Liliencron in München wollen. Statt dessen schrieb er dort nach seinem eignen Bekenntnis mitten unter den neuen Eindrücken, den neu gewonnenen Lebensgenossen »mehr als je«; und als er zu Ende Januar 1891 in Altona eintraf, brachte er eine Fülle von Schöpfungen in Vers und Prosa mit. Schon im Mai des Vorjahres hatte er einen neuen Novellenband abgeschlossen, daneben begleitete ihn ein fast vollendeter Roman, den er nach langen Unterbrechungen im März 1892 in gewohnter Weise, gehetzt von »ihrer königlichen Hoheit der Muse« in einem Zuge zu Ende schrieb – auch er ist noch ganz und gar als ein Ergebnis des bayrischen Aufenthalts anzusehn. Die Erzählungen wollte er zu einem Bande »Drei Kriegsnovellen und die Schnecke« zusammenfügen, entschloß sich dann aber zu der Fassung »Krieg und Frieden. Novellen«, und unter dieser Aufschrift erschien im Jahre 1891 bei Friedrich das nicht umfangreiche Buch, dem Leutnant Julius Müller, einem in Altona kennen gelernten ehemaligen Genossen, gewidmet.
Liliencron vereinigte hier Werke von untereinander sehr verschiedenem Stil und hatte das in der zuerst gewünschten Überschrift mit richtiger Empfindung aussprechen wollen; zwischen den drei soldatischen Erzählungen des Bandes und der Novelle von der Schnecke liegt eine tiefe Kluft. Die erste Erzählung, »Der Richtungspunkt«, ist ein Seitenstück zu den »Adjutantenritten«. Der Erzähler wird plötzlich mitten im Feldzug zum Adjutanten des Oberbefehlshabers ernannt und nimmt schweren Herzens von seiner Kompagnie Abschied. Bei dem General angekommen, muß er ihm sofort mit einem Ulanenzug nach einem Punkt im Vorland folgen, über den aus den Karten keine volle Klarheit zu gewinnen ist. Sie traben durch den immer dünner werdenden Truppenmantel, bis sie endlich, der äußersten Feldwache voraus, den einsamen Baum auf einem Hügelchen vor sich haben. Der neue Adjutant erhält den Befehl, mit den Ulanen vorzugehn, eine Zeichnung aufzunehmen und zu melden, wie das Vorgelände von dem bezeichneten Punkt her aussieht. Leise pirscht sich die kleine Reiterschar heran; als sie aber schließlich vorsichtigerweise mit gefällten Lanzen im Galopp anreitet, erblickt sie als einzige lebende Wesen, außer einem aufgescheuchten Fuchs, einen uralten Mann mit einem jungen Mädchen und einem kleinen Kind, Bewohner eines winzigen Hauses unter der prächtigen Esche. 318
Am andern Tag geht es zur Schlacht; während alles vormarschiert und selbst die Feldwachen schon aufgenommen worden sind, bleibt das Oberkommando an der am Tag vorher zuletzt besetzten Stelle nahe dem Baum stehn. Der Adjutant wird nach einer scharf umkämpften Fabrik abgesandt. »O Reiterlust! O Männertag!« In schnellster Gangart erreicht er sie, die gerade von den Deutschen genommen ist, im nächsten Augenblick aber erfolgt ein verstärkter Angriff, und die Eroberer werden in dem hohen Hauptgebäude der Fabrik von schwerem Geschützfeuer beworfen, erst im letzten Augenblick entsetzt. Der Adjutantenritt geht zurück, und allmählich braut sich die Schlacht mehr und mehr um jenen Richtungspunkt, die einsame Esche, zusammen. Wieder ein Melderitt, der einem andern General den Befehl zum Vorgehn bringt. Der Reiter trifft auf seine alte Kompagnie, deren Führer eben gefallen ist, er zieht den Säbel und führt sie zum Sturm auf ein vom Feind besetztes Schlößchen, aus dem nun die Franzosen geworfen werden. Nach des Entsandten Rückkehr stellt sich der Oberbefehlshaber bei dem Baum auf, und um diesen zieht sich die feindliche Reiterei zusammen, um den deutschen Ring zu durchbrechen. Von der Höhe läßt sich der Gang der Schlacht aufs genaueste überschauen. Die Franzosen aber sind die Ersten am Hügel, und der ganze Stab muß sich ihrer erwehren. Die vielfache Überzahl wird in einem kreiselnden Sturm zurückgeworfen und von den anrückenden deutschen Geschwadern zersprengt. Der Richtungspunkt aber ist ein Bild furchtbarer Verwüstung. Als der Adjutant ihn um Mitternacht wiederfindet, hat alles Leben geendet, tot liegt das Kind, tot das junge Mädchen, und nur der Hundertjährige humpelt mit seinem freundlich blödsinnigen Lächeln zwischen den Erschlagenen umher.
In Ruhe und Bewegung ist alles bis zum letzten Hauch, bis zur letzten Färbung mit vollendeter Sicherheit wiedergegeben. Die beiden Linien, sich beständig schwach verschiebend, rücken einander näher – deutlich sieht mans von der alles beherrschenden Höhe.
»Hinter den beiden gewaltigen Geschwadern hob sich und zog mit ihnen eine große graugelbe Staubwolke. Ein wenig bog sie sich, wie ein nach vorn stehender Helmbusch, muschelartig, über die Centauren. Sie diente all dem blitzenden, glitzernden, funkelnden, flüssigen, fließenden Gold und Silber, Eisen und Stahl, den roten, weißen, blauen, gelben, allen möglichen Farben, die sie vor sich herschob im blendenden Sonnenlicht, als Hintergrund, als eintönige Wand.«
Und dann der Anprall der feindlichen Reiterei auf den schwachen 319 Stab unter dem Baum: »Aus dem Teifun, im Mittelpunkt des Teifuns, des Erde und Luft vermischenden Wirbels, worin ich mich befand, wo jeder für sich kämpft, weiß ich mich kaum einer Einzelheit zu entsinnen. Ich war im letzten Augenblick an den General herangesprengt, um ihm nahe zu sein, ihn zu schützen nach Kräften . . .
Die wilde, fliegende, zerzauste, nach beiden Halsseiten übervolle, hellgelbe Mähne eines dunkelfuchsigen Berberhengstes, der mit den Vorderhufen den Kopf des Pferdes meines Generals schlägt . . . Das Gewoge der Schwerter . . . Silberne Blinkeräxte aus einem schwarzen, unruhigen, kurzwelligen Blutsee tauchend . . . Kreise . . . Einmal seh ich den Chef des Stabes. Mit meisterhafter Geschicklichkeit weiß er sein Pferd auf der Stelle zu wenden, sich zu drehen. Er verteidigt sich mit dem Revolver, jedesmal erst ruhig zielend . . . Einer reißt mich nach hinten; mein Kopf, helmlos geworden, liegt auf der Kruppe meines Pferdes, dicht über meiner Stirn ein schwarzes Gesicht, große weiße Augen, heißer Atem, Schellen, kleine gelbe Flitterhalbmonde, purpurne Troddeln . . . Ein hochgehobener Arm mit dem Flammenschwerte des heiligen Michael will auf mich niedersausen; nein, er sinkt lahm. Die leere Nordhäuserflasche des sich im Tumult in einiger Entfernung hauenden Majors, der den Todeshieb auf mich hatte ausholen sehen, schoß dem wüsten Afrikaner aufs Nasenbein . . . Hurra, hurra . . . Der Feind zeigt die Schwänze seiner Gäule. . . .
Der General und wir, sein Stab, während die Verfolgung bis zum letzten Pust weitergeht, sammeln uns. Keiner ist ernstlich verwundet. Nur den Grafen vermissen wir. Doch fand ich nicht Zeit, nach ihm zu suchen. ›Einstecken, meine Herren!‹ befahl der Oberbefehlshaber, und die grimmigen Falken fliegen wieder zurück in ihre Käfige.«
Ebenso sicher war die zweite Kriegsnovelle des Bandes erzählt, nach einem Erlebnis bei Beauchamps. Wieder handelt es sich um eine Erkundung, als deren Meister ja Liliencron bei den Kameraden vom 81. Regiment galt. Er soll erspähen, ob der Eisenbahnstrang und die Telegraphenlinie zerstört seien, und ob hinter dem Bahnkörper Verschanzungen des Feindes lägen. Unterwegs von einer feindlichen Streifabteilung beschossen, der er höflich mit Helmschwenken dankt, erreicht er ein Wärterhäuschen, das vollkommen unversehrt ist und in dem nur ein mürrischer Aufseher mit seiner jungen Frau und dem Säugling lebt. Zurückgekehrt empfängt der Adjutant den Befehl, während zwei aus Reiterei und Pionieren bestehende Abteilungen den 320 Bahnkörper nördlich und südlich zerstören, an die gefundene Stelle zurückzugehn und dort mit einer andern Pionierabteilung Befestigungen aufzuwerfen. Der Auftrag kann nicht ausgeführt werden, denn ein wütendes Feuer empfängt die Anrückenden – der Bahnwärter hat offenbar den Besuch des Vormittags gemeldet, und herangezogene Truppen haben die Strecke besetzt. Der Ansturm der kleinen deutschen Schar wird zurückgeschlagen. Auch im Norden und Süden ist das Vordringen bis an die Geleise unmöglich gewesen; so wird der Gesamtanmarsch befohlen. Um fünf Uhr früh geht es fort, so rasch, daß der Franzose sich nicht mehr über den Schienenstrang vorwagt. Das Gefecht kommt zum Stehen, und jeder behauptet zäh seinen Platz. Eine Fülle von Einzelheiten wird erlebt und geschildert, Adjutantenritte durch die hin- und herziehenden Truppen hindurch, Attacken in feindliche Vierecke hinein, bis der Oberbefehlshaber den allgemeinen letzten Vorstoß anordnet. »Er gelingt! Wir haben den Eisenbahndamm. Als der General und ich durch den Übergang am Wärterhäuschen reiten wollen, fühl ich, aber ohne jeden Schmerz, als wenn mich einer ganz leicht mit der Handfläche geschlagen hätte, einen Ruck am linken Knie. Einige Schritte noch reit ich weiter, ohne etwas zu merken. Der General bietet mir eine Zigarette an. Es wird eine Wohltat sein nach den heißen Stunden. Ich will die Zündhölzer aus meiner Hosentasche nehmen. Es will nicht recht. Ei, was ist denn das! Plötzlich blitzt und leuchtet es mit tausend Feuerkugeln vor meinen Augen. Aber ich möchte mir die Zigarette anzünden. Wie denn, wer denn, ich selbst etwa? Das ist ja merkwürdig. Ich krabbele mit meiner linken Hand in der Nähe meines Pferdes umher. Ich schwanke, kann mich – zum Donner auch, was ist das – nicht mehr im Sattel halten . . . Räder um mich her, glühende Räder . . . Mir wird sehr leicht . . . Der Arm des Generals langt nach mir . . . Stärkstes Ohrensausen . . . Und ich erwache im Wärterhäuschen.«
Der erste Teil der Erzählung gab die von schärfster Vorsicht, aufmerksamster Prüfung geleitete Streife der kleinen, vorgesandten Erkundungstruppe; der zweite brachte Bild an Bild aus dem Getümmel des währenden Kampfes beider Heere; der dritte zeigt das Nachspiel im Wärterhäuschen. Der Verwundete erwacht in dem kleinen Raum, der ganz mit Toten, Sterbenden, Verletzten erfüllt ist. Noch ertönt in der Ferne der Lärm des Gefechts. Stechender Schmerz zeigt die verwundete Stelle am Knie. Und wieder verliert er die Besinnung. Als er abermals erwacht, fühlt er sich erfrischt, er ist von den Ärzten besser 321 gebettet, der Kopf liegt auf einem Uniformrock. Der linke Nachbar, ein verwundeter Franzose, ist inzwischen gestorben, der rechte, ein Gardekapitän, lebt noch, und er bittet den Kameraden in der feindlichen Uniform, zwei Briefe an sich zu nehmen. Der erste soll seinem Bruder zugesandt werden, der für Weib und Kinder und auch »für Manon Deuxpierres« sorgen soll. Den zweiten möge der Empfänger selbst lesen und vernichten. »Weiter kam er nicht. Äußerst erschöpft lehnte er sich zurück und schloß die Augen. Nur einzelne Worte und Sätze, Phantasien, sprach er noch. Immer und immer wieder nannte er voller Liebe die Namen seiner Frau und seiner Kinder. Seine Brust hob sich schwerer, langsamer, und ohne Todeskampf ging er hinüber.
Ich drückte ihm, mich unter Schmerzen zu ihm beugend, die Augen zu. In dieser Minute fing das Läutwerk an zu rumoren, sehr laut, wie eine verrückt gewordene Wanduhr. Und unausgesetzt klang ein rasches Bim, bim, bim, bim, bim, bim, bim . . . Ich sah deutlich den Hammer schlagen.«
In der Dämmerung wird der Erzähler abgeholt. Zwei Tage darauf liest er den Brief. Er enthält das Geständnis einer Leidenschaft, die den schwurtreuen, glücklichen Ehemann überfallen hat, und die Schilderung des Kampfes zwischen Pflicht und Natur. Diese Schilderung aber ist tief ans Herz greifend, gegeben mit der Kraft eines großen Künstlers. Das Schreiben wird vernichtet. Die Frage, wie der Vicomte dem ganz Fremden diese heiligste Beichte anvertrauen konnte, beantwortet ein einziger Satz: »Aber sagte er nicht einfach: ›Sie sind mein Kamerad‹.«
Diese beiden Erzählungen waren Liliencrons letzte Kriegsnovellen. Er hatte die Meisterschaft auf diesem Gebiet erreicht. Das Wort in der Prosa gehorchte ihm von Werk zu Werk besser, und alle die Schlacken einer ungepflegten, vom Amtsstil beeinflußten Papiersprache, die noch »Breide Hummelsbüttel« und andern Frühwerken anhafteten, waren abgefallen. Manches schien förmlich mit Blitzlichttreue wie von einem vollkommenen Lichtbildempfänger aufgefaßt zu sein – aber alles verband sich doch über die bloße Naturabmalung hinaus zur Einheit durch die Stärke des aus jedem Satz sprechenden Gefühls. Aus den knappen Sätzen der Kriegstagebücher, die mit gebotener Kürze zwischen müdem Hinwerfen und Einschlafen, zwischen frischem Erwachen und Abmarsch die Tatsachen festhielten, wuchs unter der feinsten Künstlerhand immer wieder Dichtung empor. Zwischen jenen Erlebnissen und ihrer letzten Niederschrift lagen 322 zwanzig Jahre, und die Frucht dieser beiden Jahrzehnte war für den Kriegserzähler nicht verloren. Die künstlerische Einsicht, zuerst an den besten, früh erkannten fremden Mustern geübt, war über sie hinaus an der eignen, ganz neuen Kunstübung emporgewachsen. In der Lyrik war Liliencron rasch vom Herkömmlichen, das kaum die ersten Wochen seiner Entwicklung noch erfüllte, zum eignen Lebenston emporgeschritten – in der Erzählung fand er ihn ganz, als er im Genuß des von ihm tapfer miterkämpften Friedens die unvergeßlichen, größten Erlebnisse seiner Tage wieder und wieder durch Kopf und Herz gehn ließ. In emsiger Arbeit, in selbst gewählter sprachlicher Zucht drang er auch hier vom herkömmlichen Ausdruck zum Persönlichen, von läßlicher Weite zu künstlerischer Fassung vor, die jedes Erlebnis ins Enge brachte und dann so mit Stimmung und Handlung erfüllte, daß sich aus dem schmalen Bild der weiteste Blick in die Tiefen und Fernen des Lebens eröffnete. Liliencron hatte ja im Krieg oft empfunden, wie unbehaglich es für den Unterführer ist, häufig nicht zu wissen, wohin man ihn schiebt, warum er hierhin oder dorthin marschieren muß, und besonders das Hin und Her im Winterfeldzuge von 1871 mitten unter Kälte und den größten Anstrengungen hatte ihn oft unmutig gemacht. Ein günstiges Geschick hatte ihm beschieden, für einige Tage aus dem Verbande heraus neben den Befehlshaber größerer Truppenkörper zu treten; und wenn wohl gelegentlich später ein alter Kamerad sich wunderte, daß gerade diese kurze Zeit der Adjutantenritte wieder und wieder in Liliencrons Prosadichtung hervortrat, so übersah man, wie natürlich das war: die epische Einheit der erlebten und mit dem eignen Blute besiegelten weltgeschichtlichen Vorgänge erschloß sich den Sinnen des damals noch seines Berufs unbewußten Dichters in diesen Stunden besonders stark. Und wenn er nun von diesem Glücksfall dichterischen Gebrauch machte, bewies er zugleich, daß ihm gerade beim Kampf im Mittelpunkt des Ganzen der Blick des preußischen Leutnants für das Kleine und Kleinste, das, was uns, nach Bismarck, keiner nachmachen kann, ganz zu eigen geblieben war. So hebt sich auch in diesem Sinn der Premierleutnant Friedrich von Liliencron in dem Dichter Detlev von Liliencron unter all den Kameraden, die die geliebte Waffe mit der Feder oder dem Pinsel vertauscht hatten, auf eine besondere Stelle: er wird nicht nur unter ihnen der größte Künstler, er bleibt auch als großer Dichter unter ihnen am stärksten der begabte, tapfere, mit den feinsten Sinnen, dem schärfsten Auge und Ohr begnadete Soldat, und so ward aus dem geliebten Kompagnieoffizier und Führer der Siebenunddreißiger, dem 323 in der Brigade rasch gerühmten, vortrefflichen Patrouillenführer der Einundachtziger, dem kühnen und raschen Adjutanten des Majors Hanneken der erste Kriegserzähler des neuen Deutschlands und der deutschen Dichtung überhaupt.
Als heiterer Abschluß dieser militärischen Erzählkunst folgte in »Krieg und Frieden« »Das Abenteuer des Majors Glöckchen«. Auch jener halbe Kriegszustand, den Liliencron als Fähnrich und junger Sekondeleutnant in der Provinz Posen miterlebt hatte, blieb nicht ohne dichterische Ausbeute – nur sprach hier nach dem schweren Ernst des Feldzugs der Schalk in Liliencron mit. In der Satire war er, wie die meisten großen Dichter, nicht glücklich gewesen und rasch immer wieder von Gedichten, die etwa das Elend des deutschen Dichters in Kamschatka satirisch malten, auf sein eigenstes Gebiet zurückgekehrt. Humor aber sprach aus jenem Handschuh-Gedicht:
Viere lang
Zum Empfang
Vorne Jean,
Elegant
Fährt meine süße Lady –
Humor aus derben Bauernschilderungen in den Marschnovellen, Humor aus drastischen Balladen, wie dem »König Ragnar Lodbrok«. Leise und fein, behaglich erzählt Liliencron nun im »Abenteuer« die Geschichte eines Offiziers, dem es bei aller Tüchtigkeit an Initiative fehlt und der sich vor allen Dingen verblüffen läßt. Auf einem der Züge durch die noch nicht beruhigte Provinz Posen lernt der Leutnant Glöckchen (das ist nur ein Spitzname) im Jahre 1830 eine schöne Komtesse, bei deren Mutter er einquartiert ist, kennen und lieben. Da erhält er den Befehl, den ihr zugedachten Bräutigam, einen polnischen Fürsten, in einer Kapelle nahe dem Schloß gefangen zu nehmen, und findet, als er das Gotteshaus umstellt hat, vor dem Altar inmitten der Angehörigen Anastasia und den Fürsten als eben Vermählte vor dem Abbé knieen. Er erklärt die ganze Versammlung für verhaftet; höhnisch aber reicht ihm der Priester einen Erlaß König Friedrich Wilhelms, der dem Fürsten und der Gräfin die Vermählung in des Königs Landen zu Lubowo gestattet. Glöckchen erklärt die Versammlung für frei. Dann aber kommt das Nachspiel: er ist genarrt worden, der königliche Brief war eine Fälschung, und nur die lächelnde 324 Gnade seines Kriegsherrn selbst schützt den Offizier vor schwerer Strafe.
Liliencron gebraucht in dieser Novelle wieder das sonst aufgegebene Kunstmittel, durch einen andern erzählen zu lassen: das Ganze berichtet ein befreundeter Hauptmann, und der wieder hat den eigentlichen Inhalt aus einem Tagebuch Glöckchens selbst. Die harmlose kleine Geschichte erhält ihren Wert nicht durch die nach Liliencrons früherer Übung eingestreuten Bilderbeschreibungen aus der Gemäldehalle zu Lubowo; hier fesseln zwar einige schön gesehene Bilder, aber im ganzen steckt hier noch der Stil von Liliencrons ersten Skizzen; dagegen ist die sengende Sonnenglut der Posener Ebene im Sommer, das verschmachtende Lechzen der Mannschaft nach Wasser, die Stimmung des starren Waldes gut, ja, manchmal vollendet wiedergegeben und in dem polnischen Geistlichen mit seiner Macht über den Adel in wenigen Strichen ein Typus gezeichnet, der noch heute verhängnisvoll in unserer Ostmark waltet.
Sehr lebhaft sticht von diesen drei Novellen die »Schnecke« ab. Wie frühere Jagdgeschichten beginnt sie mit der raschen Rückkehr aus dem Süden, diesmal aus Rom, nach der schleswig-holsteinischen Heimat, weil die Ankunft der Waldschnepfe telegraphisch gemeldet wird. Die Drahtung bringt eine Reihe alter Bekannter vors innere Auge, aber die Erinnerung wirkt unfrisch; trocken werden diese teils gewöhnlichen, teils absonderlichen Menschen aus Dorf und Gut aufgezählt, und es fehlt die Wärme, die ähnliche Spaziergänge in »Breide Hummelsbüttel« und in anderen früheren Werken durchsonnte und dem lesenden Mitwanderer lieb machte. Dann geht die Reise über Verona nach München zu Frau Hintermayr in die Königinstraße und zu dem Jugendfreunde Hermann Johannsen, einem Sonderling, bei dem sich früh ein rasender Jähzorn gezeigt hat neben einer Neigung zum Geistersehen – Züge, die in den drei Hummelsbüttel, verschieden verteilt, auch auftauchen. Er hat, obwohl er der Ältere war, sein ererbtes Gut dem jüngeren Bruder übergeben und ist mit seiner großen Rente nach München übergesiedelt, wo sein ganzes Leben dem Sammeln gilt, und zwar vornehmlich dem Sammeln von Tieren aus allen möglichen Stoffen, vom Gold und Elfenbein bis zum Messing. Er läßt sich ruhig und ohne es zu merken in der schlimmsten Weise betrügen. Der Reisende findet Johannsen nicht zu Hause. Dafür frischt er im Durchwandern der schönen Stadt alte Erinnerungen an ein liebes Mädel auf und benutzt schließlich die freien Nachmittagsstunden vor dem Zuge nach Norden zu einer Fahrt an den 325 Starnberger See. Er glaubt Johannsen dort an einem Felde hin- und herlaufend zu erblicken, und als er in Leoni aus dem Kahn steigt, kommt eine schlanke Dame in größter Hast, mietet das Boot zur Rückfahrt und läßt versehentlich eine Schnecke aus Weißmetall in den See gleiten, die der eben Gelandete sofort aus dem Wasser holt und zurückgibt.
Am andern Tage ist er in Wulffhägen, und mitten zwischen die Belauschung geruhiger Gaststubengespräche und zwischen aufmerksame Dichterlektüre, bei der Liliencron sich mit Mozartscher Unbefangenheit selbst anführt, kommt die Nachricht, daß Johannsen ins Irrenhaus gebracht sei. Sofort geht es nach München zurück. Nun kommt die Lösung. Die Schnecke hat es Johannsen angetan gehabt: in übermütiger Laune hat ihm die Komtesse, in deren Hause er sie sah, mitgeteilt, daß sie vom Schreibtisch der Königin Kleopatra stamme; in Wirklichkeit ist sie ein kaum siebzig Jahre altes Stück. Johannsen hat keinen Gedanken mehr als das kleine Werk, und da er es nicht kaufen kann, wirbt er um die Gräfin. Eine Woche vor der Vermählung bittet er sie um die Schnecke, und aus dem blitzenden Blick, den gekrampften Händen, mit denen er das Tier an sich reißt, sieht die junge Dame, die eine warme Neigung zu dem schönen Mann hat, daß er das Tier und nicht sie liebe.
Johannsen erschlafft, fühlt selbst, daß er krank ist und geht an den Starnberger See, schreitet dort auf der Rottmannshöhe unablässig auf und ab – er war der hastige Wanderer jenes Abends. Der Braut aber tut es leid, daß sie ihm vorher seinen Wunsch nicht erfüllt hat, sie fährt ihm nach, kommt auf die richtige Spur, findet ihn und hält ihm das Tier entgegen. Er stürzt sich auf sie und erwürgt sie. Aus der festklammernden Hand schneidet er mit seinem Taschenmesser die Schnecke und steigt mit blödem Lächeln die Treppe hinab, im Walde zu verschwinden.
Die ganze Erzählung hat etwas Unfreies, Fremdartiges, das Liliencron sonst fernliegt. Kaum irgendwo hat er sich von der Natur so weit entfernt wie hier. Gequält und unsicher wirkt alles, man spürt nirgends, wie in den Kriegsnovellen oder im »Mäcen«, daß das Erzählte wirklich erfühlt ist, es ist nur erfunden. Liliencron war zu reif und zu selbständig, als daß er in dem Münchener Literatentreiben hätte mitschwimmen können. Die etwas gewaltsame Art, in der Michael Georg Conrad seine Stoffe gern übersteigerte, die zur Schau getragene Selbständigkeit ganz junger Begabungen vollends, die erst reifen sollten, waren Liliencron nicht mehr gemäß, und wenn er denn einmal abseits der eignen, siegreich verfolgten Bahn auf einen solchen 326 Nebenweg geriet, verließ ihn der eigne Ton, und eine gewisse Unfrische trat hervor. Man empfindet sie auch deutlich aus dem Roman
Mit dem linken Ellbogen.
Ein junges Bauernmädchen aus dem bayrischen Schwaben, sehr fromm erzogen, jetzt mutterlos geworden, reist nach München, um sich dort einen Dienst zu suchen. Auf dem Bahnhaltepunkt fällt sie einem jungen schlesischen Husarenoffizier auf, der ihr einen Kuß, ein Geld und den Rat gibt, sich der Zudringlichkeit der Männer, die sie noch nicht kenne, mit dem linken Ellbogen zu erwehren. Sie kommt nach München, wird dort von einem widerlichen alten Droschkenkutscher vergewaltigt und beraubt, erlebt noch allerlei Dienstbotenschicksale, bis sie die Geliebte des etwas verwachsenen pommerschen Grafen Malte Kjerkewanden wird. Die beiden führen ein tiefglückliches und reines Leben miteinander, dem nur noch das gesetzliche Band der Ehe fehlt. Kjerkewanden aber, durch seinen körperlichen Verdruß und eine düstere Naturanlage getrieben, will auf der Höhe seines Glückes scheiden, ehe sich noch Beppi von ihm einem Jüngeren zuwendet. Er reist auf sein pommersches Gut, verfügt letztwillig zu Josephas Gunsten und vergiftet sich, bevor die eben abgegangene Kunde ihrer Mutterhoffnung zu ihm dringt. Josepha bleibt nach dem Tod des Geliebten in München, wird von einem Schurken um ihr Vermögen gebracht und dann von dem besten Freund Maltes, dem Hamburger Großkaufmann Ernst Schulien, nach Hamburg berufen. Er, dem Malte das Wohl des Mädchens auf die Seele gebunden hat, will sie ausrüsten und nach Amerika senden – ihr Kind, mit dem sie in die Isar gegangen, ist ertrunken, sie selbst gerettet worden. Josepha hat sich inzwischen aus der hübschen Bauerndirne zu einer bildschönen, sicher auftretenden Frau entwickelt; Schulien, der in unglücklicher Ehe lebt, liebt sie und will sich ihretwegen von seiner Frau trennen. In dieser aber lodern unter der Kälte Liebe zu ihrem Mann und verzehrende Eifersucht, sie vergiftet das Mädchen. Ernst will der Geliebten in den Tod folgen, besinnt sich aber, daß das Leben doch nur ein ewiger Kampf sei, den man zu Ende kämpfen müsse, entlädt den Revolver und geht seines Weges weiter.
Der Boden, auf dem sich Liliencron hier bewegte, war ihm nicht recht vertraut. So sehr er sich auch bemüht, seine Beppi äußerlich zu beschreiben – sie wird nicht lebendig. Wie oft war es ihm geglückt, mit zwei Zeilen ein Bauernmädel Holsteins zu schildern, oder ein kleines Abenteuer eines seiner Helden, Breides etwa, oder 327 ein eigenes mit wenigen Blitzlichtstrahlen aufzufangen. Hier gibt er etwas mühsam Heimat und Jugend der Süddeutschen, man merkt: die Dinge sind ihm im Grunde fremd. Man merkt auch, daß ihn der Graf Malte im wesentlichen kalt läßt. Und selbst seines Ernst Schulien, des Hamburger Großkaufmanns ohne Verständnis für Dichtung aber mit tiefer Verbeugung vor Lichtwark und Brinckmann, wird er nicht recht froh. Keine der Gestalten kommt über die Skizze wesentlich hinaus. Episode reiht sich an Episode, aber das Gesamtbild läßt schließlich ebenso kühl, wie die auf einen hohen Symbolton gestimmte Einleitung, in der die Natur einen nackten Männerhaufen mit dem linken Ellbogen abwehrt, vom Tode unterstützt.
Man sieht aus dem Mißglücken der Dichtung, daß eigne Anschauung allein wenig bedeutet, wenn sie nicht sozusagen bis ins Blut geht; denn sicherlich und sichtbarlich hatte Liliencron seine Josepha Eberle jener Sephi nachgearbeitet, der er brieflich nachrühmt, sie würde ihm noch hundert Stoffe geben. Sicherlich hat ihm jene, unter dem Namen »Bernhard Schrader« verdeckte Gestalt vorgeschwebt, von der er Ende Januar 1891 in München Abschied nahm. »Er blieb«, heißt es im Brief an Bierbaum, »bis der Zug sich in Bewegung setzte, fortwährend wimmernd, schluchzend; die Haare waren ihm aufgegangen, das Gesicht von vielem Weinen gelb und aufgedunsen. Das Wimmern kann ich nie, nie vergessen. . . . Da stand er nun, aus dem rohen Volke: aber das gleichgültig, ja, da stand er nun, hatte zum erstenmal mit seinen sechzehn Jahren Liebe gefühlt. Dachte sich nicht anders, als daß es so immer bliebe; hatte doch einen Menschen, dem er sich rückhaltlos vertrauen, alle seine kleinen Leiden beichten konnte – und der Mensch verließ ihn nun – – Und es war keine Seele, die ihn tröstete und trösten konnte. . . . Ein letztes Wehen mit dem Taschentuch. Sie stand ohnmächtig an einem Pilaster in der Halle. – – –« Als Malte von München zur letzten Reise abfährt, heißt es: »Eine Ahnung mußte ihr aufblitzen; sie küßte ihn leidenschaftlich und schluchzte an seiner Brust. Er riß sich los. . . . Er grüßte mit seinem grauen Hute aus dem Fenster. Er sah noch von einem ermatteten Arme ein schwaches Tuchwinken: und das Letzte, was er sehn konnte, war, daß Beppi ohnmächtig an einen Strebepfeiler taumelte.«
Es ist wohl dieselbe Sephinka, die im »Haidegänger« mitspielt, und dieselbe, mit der in dem Gedicht »Ich war so glücklich« die kleine Reise in das alte Schloß bei München gemacht wird, wie Malte mit Josepha nach Schleißheim geht. 328
Der Roman hatte ein merkwürdiges Schicksal. Liliencron sandte ihn dem Zeitungsverleger Rudolf Mosse in Berlin, der ihm ein größeres Darlehen gegeben und die Abtragung durch Arbeiten für das Berliner Tageblatt gewünscht hatte. Die Zeitung wollte aber den Roman nicht drucken, auch nicht nachdem eine Berliner Schriftstellerin vergeblich eine Überarbeitung versucht hatte. So blieb er, da er anderswo nicht abgedruckt werden durfte, lange Zeit liegen und ist erst im Jahre 1899, Otto Julius Bierbaum, dem Genossen der Münchener Abenteuer, gewidmet, erschienen. Das Honorar kam Mosse zu, der dann bei Liliencrons sechzigstem Geburtstag die noch unbezahlte Hälfte der Schuldsumme strich. 329