Heinrich Spiero
Detlev von Liliencron
Heinrich Spiero

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18.
Der Mäcen.

»Ich habe seit meinem Hiersein mehr geschrieben als in drei Jahren zusammengenommen. Skizzen, Gedichte, ein Drama, und will nun einen langsam herangereiften Roman ›Wo kam er her?‹ schreiben.« So berichtete Liliencron nach der Operation aus Kellinghusen an Friedrich im Februar 1888. Dann aber kam eine förmliche Lyrikwolke, die lange Zeit anhielt, und mitten zwischen allen Sorgen ward die Geschichte »Die Mergelgrube« beendet. Das Gedicht »An wen?« erschien und brachte zum erstenmal Zurufe aus ganz fremder Ferne, Blumen von einem früheren Soldaten aus Liliencrons Kompagnie. Im Laufe des Jahres fügte sich Skizze an Skizze (»Zwei Runensteine« erschienen in den Hamburger Nachrichten) und hinter allerlei andern Prosadichtungen trat der Gedanke an den Roman zurück, eine Novelle »Abseits« ward statt dessen geschrieben, und »Wo kam er her?« meldete sich erst wieder, als das neue Prosabuch fertig vorlag. Es erhielt nach manchen Erwägungen die Aufschrift »Der Mäcen. Erzählungen« und erschien in zwei Bänden, die, wie die meisten ersten Bücher Liliencrons, von Druckfehlern nicht frei waren, Ende 1889 bei Wilhelm Friedrich. Diesen beriet nun der tapfere Kämpe Hans Merian; er ist auch für Liliencron immer wieder eingetreten und hat sich in einem Leben, das im Grunde ohne äußern Erfolg verlief und allzu früh zu Ende ging, immer wieder für echte Größe eingesetzt.

Liliencron empfand selbst die Merkwürdigkeit des neuen Buches und stellte es wohl einmal in entfernte Beziehung zu »Dichtung und Wahrheit«. Noch näher hätte ein Vergleich mit Friedrich Theodor Vischers dreizehn Jahre älterem »Auch Einer« gelegen, der auch zwischen den Deckeln seiner zwei Bände eine reichlich bunte Welt umfaßt und hinter der vorgenommenen Maske eines fremden Tagebüchlers im Hauptteil das eigne Gesicht des Verfassers wohl erkennen läßt.

Der erste Band bringt sieben Erzählungen, wieder von recht verschiedner Art. Die zweite und unbedeutendste klingt in eine Art Huldigung für den Vetter Rochus aus, es ist die Geschichte von den beiden Runensteinen, die der hundertjährige König Gorm und sein Gegner Asfried in der Gegend um Schleswig als Andenken hinterlassen – den einen mit Gewalt zerschmettert, den andern als Siegeszeichen neu aufgerichtet. Die Erzählung hat etwas gewollt Drastisches und bleibt deshalb ohne rechte Wirkung. Auch »Aus einem Gespräch« 273 gibt nicht viel und verblaßt um so mehr, weil der Inhalt – eine zufällig im Gasthof belauschte Auseinandersetzung über die neuste Literatur – später in viel nachdrücklicherer Gestaltung wiederkehrt.

Zwei Stücke aus der Geschichte Schleswig-Holsteins beanspruchen mehr geschichtliche als künstlerische Würdigung. Die »Dithmarschen«, Liliencrons alte, in der Balladenzeit ja noch vertiefte Liebe, werden in ein paar knappen, grellen Vorgängen dargestellt, die leichtsinnig begonnene und fürchterlich endende Schlacht des Königs Hans und des Junkers Slenz gegen die Bauern im Jahre 1500 wird eindringlich, chronikartig geschildert. Man sieht den Junker Slenz in seiner Kiste fahren – kein Pferd kann den Riesen tragen – man sieht die schöne Telsche die weißseidene Fahne hochschwingen und einem jungen Pagen in die Brust stoßen. Den Schluß macht eine Liste der gefallenen Adelsmannen; sie zeugt ebenso von der Liebe zum großen Geschlecht der Pogwisch, wie das diesen gewidmete Drama. Die letzte Erzählung des ersten Teils »Geert der Große von Holstein« rühmt überhaupt den Uradel Holsteins. Und aus der Heimatgeschichte, in der das tatfrohe Geschlecht der Schauenburger, wie so oft bei Liliencron, blutig hervortritt, fällt hier zugleich ein heller Schein auf die Hohenstaufen, auf Heinrich, den Helden des Trifels, den Bezwinger Palermos. Aber indem diese wiederum chronikartige Geschichte in Kellinghusen beginnt, gibt sie zugleich ein Denkmal der häufig verfluchten und doch ob ihrer Stille und ihrer schönen Lage auch wieder geliebten Stadt ab, deren »herrlichen« Bürgermeister Jargstorff Liliencron deutlich in dem Bürgermeister Hingstorff unter leichter geschichtlicher Verhüllung zeichnet.

Die eigentlichen Novellen des »Mäcens« sind die Kriegsgeschichte »Umzingelt« und die Liebesgeschichte »Das Richtschwert aus Damaskus«. »Umzingelt« spielt vor Metz; das Bataillon, in dem der Erzähler eine Kompagnie führt, hat den Befehl, ein vor der deutschen Stellung liegendes Gehöft unter allen Umständen zu halten. Rasch werden, da sich nach dem Tageskampf die Truppen hinter das Tor zurückziehen, Barrikaden aufgeführt, von deren Höhe sich über die Mauer hinweg das Vorland überblicken und Schußfeld gewinnen läßt. Bebend aber kommt der gräfliche Besitzer und meldet, daß seine Frau in Kindsnöten ist; sofort wird sie in Begleitung des Stabsarztes in den Keller getragen und die Decke bombensicher gemacht, ein Doppelposten vor die Tür gestellt, »so daß die Dame von dem, natürlich, wenn es geschehn sollte, unverschuldeten Eindringen unserer Leute gesichert war. Der deutsche Soldat bleibt immer deutsch.« 274

Der Divisionspfarrer läßt sich über die Mauer heben, um dem am meisten bedrohten Truppenteil nahe zu sein, und wird mit stürmischer Dankbarkeit begrüßt. Wie in einem verzauberten Garten ruht alles, außer den Posten, die in die hereinbrechende Nacht lauschen. Und dann beginnt der Kampf. Infanterie rückt in dichten Schwärmen heran, Schnellfeuer wirft sie zurück. Ein Unterhändler fordert die Übergabe gegen freien Abzug mit Wehr und Waffen unter klingendem Spiel. Er wird höflich abgewiesen. Jetzt hört man, während der Erzähler eben mit seinem Zuge als Unterstützungstrupp zu plötzlichem Vorstoß in die Halle des Schlosses gerückt ist, das Herannahen der Feindesscharen, Musik, Geschrei, Mitrailleusengeknatter, die Marseillaise in dem gellenden Ton französischer Stimmen. Brand, Tumult, die ersten Turkos auf der Treppe. Sie dringen bis in den Keller, wo die Wöchnerin mit dem eben geborenen Säugling liegt; sie werden zurückgeschlagen. Mitten im furchtbaren Kampf wird von Soldaten in zerfetzten Uniformen das Kind mit der Mutter behutsam in die Scheune getragen. Und da endlich, als die Masse der Feinde schon das Häuflein zu überwältigen droht, ertönt das Infanteriesignal aus den »Adjutantenritten«: »Kartoffelsupp, Kartoffelsupp, den ganzen Tag Kartoffelsupp, Supp, Supp, Supp!« In einer letzten furchtbaren Kraftanstrengung rafft sich alles noch einmal auf, der letzte Hauch wird hergegeben – der Feind ist abgeschlagen.

Jetzt der Garten des Todes. Stille nach dem Sturm. Überall Gefallene in den seltsamsten Stellungen. Der Freund, der Hauptmann der Zweiten, ist von einer Granate getötet, der tapfere Pfarrer von einer Kugel mitten ins Herz getroffen, während er einem Sterbenden Trost bringen wollte. Ohnmächtig von der Überanstrengung kniet der Stabsarzt, noch eine Binde in der Hand. Schwer verwundet ist der Oberstleutnant – das Kind aber liegt, ein Zuckerbeutelchen im Mäulchen, ruhig da. Und bevor noch der nächste Angriff heranprallt, steigen im Sonnenschein wie wandelnde Mauern die deutschen Regimenter von den Höhen herab.

Wunderbar knapp wird das alles erzählt. Jeder Zug ist glaubhaft, jedes Wort steht an rechter Stelle. Kleine Einflechtungen, wie ein vom zertrümmerten Flügel flatterndes Notenblatt, ein plötzlich aufgehobnes englisches Buch, aus dem hart vor dem Kampf seelenruhig ein paar Zeilen gelesen werden – alles das trägt mit bewußter Kunst dazu bei, den großen Eindruck des Ganzen noch zu erhöhen. Die eigentümliche und eigentümlich große Poesie des Krieges kommt 275 voll heraus, weil alles so ganz und gar künstlerisch geschaute Natur, fern von allem Herkömmlichen, geworden ist.

Dieselbe Knappheit zeichnet auch »Das Richtschwert aus Damaskus« aus, eine (Otto Ernst gewidmete) Erzählung, zu der Liliencron der Gedanke kam im Anblick eines der alten, geheimnisvoll wirkenden Landhäuser zu Billwärder bei Hamburg, jener Wohnstätten aus dem besten Barock, die jetzt rasch und rascher verschwinden.

Ein junger Diplomat, der Sohn eines millionenreichen Hamburger Hauses, knüpft ein Verhältnis mit einer schönen kleinen Verkäuferin an. Er ist ein Schwärmer für die Geschichte der Merowinger, wie nur sein Dichter selbst, und erkennt in dem merkwürdigen Persönchen eine Art Abbild der dämonischen Fredegunde, wie er sie sich nach einem einst in Tours gekauften Gemälde vorstellt. Tours war der Wohnort des Bischofs Gregor, ihn kannte Liliencron durch Löbells Buch, aus dem er auch für sein Trauerspiel geschöpft hat. Die Ähnlichkeit lockt, statt zu warnen. Nach einem häßlichen Ausbruch ihrer grundlosen Eifersucht sagt Titus Althaus sich von Line Blunck los, trifft sich aber doch noch einmal mit ihr und führt sie auf ihre Bitte in sein Haus an der Flottbecker Kunststraße, dem schönen, breiten Weg, der Altona mit Blankenese, hoch über der Elbe, verbindet. Wie eine Fürstin wird sie empfangen. Vom Park aus schauen sie über die weithin gebreitete Elbe in das düstere Gewölk des andern Ufers. In ihr aber ist der Plan, ihn zu töten, den sie erst aus Berechnung hat erringen wollen, den sie jetzt heiß liebt und der ihr (das fühlt sie) doch nie gehören wird. Sie hat Gift mitgenommen. Aber sie findet in seinem riesigen Arbeitszimmer mitten unter kostbaren Waffen ein seltsames, sensenartiges, schweres Schwert. Er erzählt ihr, daß er es einst einem Henker in Damaskus abgekauft habe. Sie bittet ihn, einmal blind die Handhabung der Waffe durchzumachen, und wie im Bann gehorcht er. Sie schleppt sich, um zu seiner Höhe heranzulangen, Sammetkissen herbei, steigt hinauf, und »mit der Kraft ihres ganzen Lebens« läßt Line Blunck das Mordwerkzeug durch die Luft, durch seinen Hals sausen.

Auch sie hat nach ihm sterben wollen – wir sehen sie nur, das Schwert quer über der Brust, vom Ruhebett des Toten mit veilchenblauen Kinderaugen in den Vollmond starren.

Durch das einleitende Gespräch über das Mordgeschlecht der Merowinger wird von vornherein eine schicksalsschwere Stimmung erzeugt; sie wird noch gesteigert durch den Anblick eines in schweigsamster Stille daliegenden Landhauses ganz nah der 276 Tanzwirtschaft, in der Line durch das häßliche Aufflammen roher Eifersucht Titus aus dem Liebestraum aufschreckt. Und Zug um Zug geleitet uns der Dichter zu dem furchtbaren Ende, das wie natürlich aus allem Geschehenen emporwächst. Dabei gelingen ihm in nebensächlichen Zügen so feine Bilder wie das von dem Kapellmeister, der die jähe Unterbrechung des Tanzes durch Lines unbeherrschten Ausbruch klug wieder verwischt: »Er hob den Taktstock, und, sozusagen, einfädelnd mit einer gewundenen Schleife: Lalalala lalalala la la la, fiel die Musik in die alte Weise wieder ein. Und alles ging wieder seinen Gang.«

»Die Mergelgrube«, die umfänglichste Erzählung des Bandes, leitet schon zum »Mäcen« selbst hinüber. Sie ist ein tagebuchartig erzähltes Stück, sie bringt Aufzeichnungen des Hardesvogt zu Wüstenhamme. Dreißig Jahre sitzt der Beamte hier zwischen dem Volk der Kleinstadt, fern jeder Anregung, fern dem großen, brausenden Leben. Geheimnisvoll zieht ihn eine Mergelgrube draußen vor der Stadt an, ein Tümpel, lehmig, unergründlich, in grenzenloser Verlassenheit, fern allen Menschen. Und der Gedanke, einmal in diese Grube hinein den letzten Schritt zu tun, ist immer wieder in dem Vogt aufgetaucht. Mit Goethe und mit Beethoven hat er zu leben und so den Schmerz völligen Alleinseins zu betäuben versucht. Er hat Goethe durch Vorlesungen seinen Landsleuten nahebringen wollen – vergeblich. Er hat um seinen alten Kinderglauben gerungen – vergeblich. Er hat einen Engel erblickt, während aus unermeßlicher Weite Schumanns geliebter »Aufschwung« herübertönte, und von dem Findlingsstein bei der Mergelgrube hat die Lichtgestalt zu ihm gesprochen; aber die Frage, ob wir, wenn die Schatten des Todes uns umrauschen, befreit werden, hat der Himmelssohn nicht beantwortet – er hat die Fratze der Sphinx angenommen und ist stumm geworden.

So geht ein stillgewordenes Leben, dem auch die Erinnerung an ein helles, verschwiegenes Minneglück von einst nicht helfen kann, freiwillig in der Mergelgrube zu Rüste, und christliche Liebe, tiefes, echt priesterliches Erbarmen sprechen an seinem Sarg das letzte Wort.

Als Gegensatz zu der Härte und Kraft, mit der die Geschichte des Richtschwerts, zu der soldatischen Klarheit, mit der »Umzingelt« erzählt ist, hat Liliencron dieser Novelle alle Weichheit, alle gebrochenen Farben mitgegeben, die ihm zu Gebote standen. Sie steht zu den beiden andern Stücken wie das Gedicht »An wen?« zu der »Kleinen Ballade« und dem Schlußbild der »Adjutantenritte«. Sie zeigt einen tief reizbaren, in der Einsamkeit immer einsamer gewordenen 277 Menschen von feinen Nerven, mit einer kunstempfänglichen Gottsucherseele. Und wie ein starker Bauer, dem niemand den Selbstmord zugetraut hätte, tot vor dem Hardesvogt daliegt und der den Zettel findet, der als einzigen Grund angibt: »Ick much ni mehr« – so mag und kann er selber schließlich nicht mehr.

Die Erzählung wirkt auch deshalb so erschütternd, weil sie zeigt, was aus Liliencron in den furchtbar schweren Kellinghuser Jahren hätte werden können. Kein Wort deutet hier freilich auf das hin, was zu alledem bei Liliencron hinzukam: die äußere Lebensnot. Mit größter Vornehmheit steht in all diesen Novellen kein Wort davon – aber daß er sie schreiben konnte, hat ihn allein über den Druck der Jahre hinweggebracht. Er war nicht nur kunstempfänglich und suchte Gott, wie sein Hardesvogt von Wüstenhamme, sondern der Kirchspielsvogt außer Diensten von Kellinghusen war doch mehr, war selbst ein Schöpfer und konnte so dem Ende seines Geschöpfes entgehn, weil er den Schmerz und die Lust in dauerhafte Gebilde ausströmen ließ.

Der Hauptteil des »Mäcens«, der zweite Band, ist wie die »Mergelgrube« ein Tagebuch und gemahnt somit schon äußerlich, noch mehr aber in vielen innern Zügen auch an die Aufzeichnungen »Aus dem Tagebuch meines Freundes«, die schon die »Sommerschlacht« enthalten hatte. Hier kam jene »metaphysische Genugtuung« zum ersten Male voll zum Ausdruck, die sich Liliencron für das eigne, »von Wölfen wild umhetzte Leben« nahm: der Bewohner der Hütte in kimmerischer Nacht schlüpfte in das tadellose Gewand des überreichen Schloßherrn und lebte sich in der Phantasie so aus, wie es ihm die Wirklichkeit nie beschied.

Wulff Gadendorp ist der letzte seines Stammes, durch Erbschaft einer der reichsten Männer Europas geworden, der sich mit den amerikanischen Eisenbahnkönigen und den englischen Herzögen wohl messen kann. Sein Freund Timmo Boje Tetje empfängt auf einer Vergnügungsreise in Algier, wo ihm ein kleines Negermädchen mit breitem englischem Lippenziehen Fontanes Monmouth-Ballade vorsagen muß, im Augenblick der Abfahrt nach Europa, den letzten Brief Gadendorps. Bei Timms Abreise war der Freund sehr krank, und so wundert sich der Ferne nicht, die Nachricht zu erhalten, daß der Graf auf dem Sterbebett liegt. Schon der Bericht über einige Vermächtnisse zeigt den Reichtum und die Sinnesart des Grafen. Sechs Millionen werden dem Kaiser zur Verfügung gestellt für verschuldete Offiziere. »Ich sah's zu oft in meinem Leben, daß wegen des Quarkes einiger tausend Mark tüchtige, brave, geniale, dem Staate brauchbare Offiziere ins 278 Elend gehen mußten.« Wer empfände nicht Liliencrons schmerzliche Erinnerung an das Jahr 1875! Sechs Millionen sollen für Hinterbliebene armer Handwerker zurückgelegt werden, die im Beruf, beim Bau, plötzlich getötet worden sind; vierundzwanzig Millionen gehören der Schillerstiftung unter der Bedingung, daß sie tüchtig gäbe, Summen, keine Sümmchen, und daß sie nicht (wie es damals noch geschah) die Gabenliste veröffentliche.

Ergreifend klingt der Brief in Goethische Worte aus: »Es hat der Mensch, er sei auch wer er mag, Sein letztes Glück und seinen letzten Tag.« Aber in einer Nachschrift von der Hand des Haushofmeisters blickt auch in Gadendorp der Schalk Liliencron durch: um den kaltherzigen, steifen Nachfolger aus der Seitenlinie zu ärgern, soll für alle Zeiten jeder vorbeiziehende Orgeldreher zwanzig Mark erhalten und dafür eine geschlagene Stunde unter den Vorderfenstern des Schlosses spielen. Freilich auch in dem Scherz steckt noch ein melancholischer Ernst: wir wissen, wie Liliencron, wie sein Breide Hummelsbüttel das Spiel des Leiermanns liebten.

Timmo Boje Tetje kommt zur Beisetzung eben noch zurecht. Nur die Ritterschaft betritt die Kirche, nicht einmal die Geistlichkeit darf ihr folgen. »Ein hoher Regierungsherr will sich durchdrängen: Wir preißischen Beamten dürfen überall hin. Seine Aussprache kennzeichnet ihn als Ostpreußen. Aber hier wird der preißische Beamte zurückgewiesen. Der Adel ist in der Kirche allein.« Das ist die moderne Wiederholung eines Vorgangs aus dem ersten Aufzug der »Rantzow und der Pogwisch«: da sind die Ritter unter dem Vorsitz des Adelsmarschalls versammelt, und ein Page meldet von der Höhe den Grafen Gert von Oldenburg. Schack Rantzow aber erwidert »kurz, stolz, hochmütig«:

Der Adel Holsteins wünscht für sich zu sein,

und der Graf muß draußen bleiben.

Der Adelsmarschall aus der Gegenwart läßt bei gesenkten Fackeln den zerbrochenen Schild über den Sarg in die Gruft fallen: »Von Gadendorp heute noch und nimmermehr.« Jetzt lösen sich Siegel und Bänder von dem an Tetje hinterlassenen Merkbuch, und Gadendorp spricht zu uns. Es redet ein ehrfürchtiger Freund der Natur, der jeder Stimmung draußen die letzte Feinheit ablauscht. Er empfindet die Wonne der Sommernacht über Schleswig-Holstein, er hört die Vogelstimmen von hinten aus dem Garten im Regen durchs offne Fenster schallen, er sieht Farben: hellblaue Husaren, die zu zweien aus einem dunklen Buchenwald in den hellen Sommersonnenschein reiten – 279 einen goldbraunen Hühnerhund im blühenden, eiergelben Lupinenfeld – ein Ebereschenbäumchen mit knallroten Beeren, vor Lilahaide und gelben Stoppeln, auf denen gebräunte Garben stehn – zwei Silberpappeln vor einer dunklen Fichtenwand und zwischen ihnen ein junges Buchenbäumchen mit den ersten hellhellgrünen Blättchen – Vergißmeinnicht und Jasminen in einem Bronzeteller – einen ziegelroten Schmetterling auf einer großen Marmorsphinx vor Steinstufen im weißflüssigen Sonnenlicht – das kleine Bild der Großmutter im purpurnen Sammetkleid mit bloßen Armen, davor ein Gräserstrauß, durch dessen Rispen Gesicht, Kleid, Spitzen, Arme scheinen. Wie in der »Mergelgrube« und sonst liebt Liliencron auch hier Bilderbeschreibungen – ein echt romantischer, Hoffmannscher Zug, der bei ihm wiederkehrt.

Aus der Umgegend berichtet Gadendorp eine grelle Entführungsgeschichte, die in dem Schmutz und Qualm eines Neuyorker Singspielhauses ihre Lösung findet. Am Klavier mit dem alten Küster werden Händel und der Liebling Johann Sebastian Bach wieder lebendig, Träume vom Krieg tauchen auf, die See rauscht vor den offnen Fenstern, Venus Anadyomene schwebt aus den Wogen empor und verwandelt sich in die kleine blonde Lene Dethlefs, die Heldin eines friedlichen Jugendabenteuers.

Vor allem aber: Gadendorp ist ein Mäcen – nicht nur mit dem Munde, sondern mit der Tat. Er hält Dichtertage: Gottfried Keller muß den »Poetentod«, den »Waldfrevel«, den »Abend auf Golgatha« und manches andere Gedicht ans Tagebuch abgeben. Conrad Ferdinand Meyers prachtvoll gezeichneter römischer Brunnen ergießt sich, und sein Schnitterlied erklingt:

Von Garbe zu Garbe
Ist Raum für den Tod –
    Wie schwellen die Lippen des Lebens so rot!

Uhland und Lenau werden immer wieder gelesen. In die Einsamkeit des Nebenschlößchens Poggfred, das hier zuerst auftaucht, wird neben den geliebten Hunden eine kostbare Büchersammlung geführt; die Werke der Annette von Droste vor allen. »O du mächtiges, lebensstarkes Frauenzimmer; ständest du vor mir, fiel ich aufs Knie und küßte, überströmend, dir die Hände und dankte dir für dein großes, gütiges, liebeschweres, edles, geheimnisvolles Herz.« Mit ihr sind die Jungen und Jüngsten eingezogen, die Schlesier Theobald Nöthig 280 und Paul Barsch, der unfertige, »erbarmungslose« Hermann Conradi, Karl Henckell, Michael Georg Conrad und Wilhelm Walloth, dessen Fechterbilder aus dem »Gladiator« Gadendorp rühmt. Eine Liste der besten Bücher wird entworfen. Gedichte von Ferdinand Avenarius, Heinrich von Reder und Emil Schoenaich-Carolath, von Ernst Ziel und Otto Ernst werden gelesen. Fremde Aufzeichnungen kommen ins Haus, und ein Dichter beschreibt, wie er hungernd, blutig, in schlechten Kleidern ohne einen Pfennig Geld dasaß, während sein erstes Drama fern in einer glänzenden Residenz über die Bühne ging – Liliencron im Kampf mit dem Gerichtsvollzieher, während sein Vetter, der Kammerherr Friedrich, »Knut den Herrn« ins Rampenlicht brachte.

Feine und feinste Bemerkungen über Kunst und Verskunst im Besonderen macht dieser Kenner. Er ist stolz, ein Deutscher zu sein, fern allem Parteistreit, glühend hingegeben an Kaiser und Vaterland; aber er möchte sein deutsches Volk auch freier emporziehn zu einer herzhaften Anschauung der Kunst, möchte es abziehn von dem Beharren bei der Phrase der Unkunst. Zu Heinrich von Kleist will er es führen, über den Liliencron damals, zum Teil mit den Worten Gadendorps, einen stürmischen Aufsatz für das »Magazin« schrieb, aus tiefstem Mitleid heraus und aus tiefster Liebe für den, den keiner kannte, den nur vielleicht die Königin Luise aus der Schar herausgefunden hatte.

Und ein schärferes Gehör möchte Gadendorp den Deutschen schaffen für den letzten Ton der Lyrik. »Wenn die Deutschen nicht mehr Teufel und Zweifel reimen dürften, führen sie ohne Zweufel zum Teifel.« Der unreine Reim ist ihm einfach ein Zeichen der Trägheit. »An die Häßlichkeit des Hiatus, an diese wenig anständige Mundaufsperrung möchte ich kaum erinnern. Wir haben längst jede Feinheit in dieser Beziehung verloren. Eine ängstliche Vermeidung würde auch vom Übel sein. Oft klingt der Hiatus bei uns ebenso schön wie im Griechischen. ›Wie einst‹, es liegt auf der Hand, klingt häßlich; ›wie einst‹ (also mit dem Ton auf einst) herrlich.«

Gadendorp hilft großherzig und taktvoll Malern und Dichtern. Mit ganzem Herzen ist er bei den Stürmern und Drängern der Gegenwart, und er richtet auf seinem Schloß ein Theater ein. Wie er im Garten zwischen verschnittenen Dornhecken Shakespeares »Antonius und Kleopatra« aufführen läßt, ohne eine Silbe zu streichen, so läßt er im Apollosaal des Schlosses selbst, durch Berliner Schauspieler, die neuen Werke von Karl Bleibtreu und Conrad Alberti, Julius und Heinrich Hart, Michael Georg Conrad und Adolf Bartels, Friedrich 281 Kummer, Wilhelm Walloth und Max Halbe darstellen und schließlich – Liliencrons »Merowinger«; was er nie auf der Bühne sah, das stellte der Dichter wenigstens in den Kranz der Werke, die sein Mäcen seinen Eckernsunder Nachbarn, seinen Dörflern und guten Freunden vorführt. Gadendorp lädt die Dichter und ihre Freunde mit ein und schafft ihnen frohe, sorgenfreie Tage. »Glücklich machen, glücklich machen; Menschen erlösen aus ihren steinernen und versteinerten Mitmenschen!«

Liliencron hat diesen prachtvollen Menschen, mit dem wir von Tag zu Tag mitleben, den wir immer stärker lieben lernen, zum guten Teil im eignen Bilde geschaffen – ein klein wenig floß freilich auch von einem Manne hinein, den er kannte und dessen vornehme Herzlichkeit auch er oft empfinden durfte: vom Prinzen Emil Schoenaich-Carolath. Wie einst in Paalsgard, so später in Haseldorf, auf dem schönen Marschhof nahe Uetersen, ist Liliencron Gast des Dichters der »Sulamith« und der »Fortuna trevi« gewesen – das Gedicht vom »Gewehr im Baum« stammt aus dieser schwermütigen Flur. Er war nicht der einzige Künstler, der einzige Schriftsteller, der dort einkehrte: Gustav Falke und Maurice Reinhold von Stern, Otto Ernst und Carl Busse, Leo Berg und Carl Bulcke, Börries von Münchhausen, A. K. T. Tielo, Rainer Maria Rilke, Gustav Frenssen, Haus Bethge, der Maler Momme Nissen und mancher andre haben sich der freien Gastlichkeit dieses Hauses erfreut, in dem geistiger Rang dem der Geburt als ebenbürtig galt. Der Prinz mit seinen unvergeßlichen großen, blauen Augen, die so oft träumend geradeaus sahen, hatte etwas von jenem einsamen Wulff Gadendorp mit seinem tief liebevollen Herzen. Und er hat wie jener im stillen Ungezählten in der Marsch und in ganz Deutschland geholfen. Ein Mäcen nach dem vollen Gewicht dieses Buches zu werden, fehlten ihm freilich die unermeßlichen Mittel und die Lust, die selbstgewählte Stille innerhalb eines unendlich glücklichen Familienlebens immer wieder geräuschvoll zu durchbrechen. Aber gerade jener Zug zu zartester, gewählter Aufmerksamkeit, zu unerwarteter Erfreuung des Mitmenschen und zumal des Künstlers eignete Carolath, wie er Wulff Gadendorp zugeschrieben wird – wer ihn kannte, hat das erfahren.

Liliencrons »Mäcen« wie seine ersten Prosabücher überhaupt standen in ihrer Zeit nicht allein, und ich habe schon darauf hingewiesen, wie auch die hier schon wesentlich schwächere Beeinflussung durch Turgenjew ihn mit andern um 1880 zu ihrem Stil gekommenen deutschen Erzählern verband. Kurz vor der »Sommerschlacht« waren 282 Helene Böhlaus »Schöner Valentin« und Margarethe von Bülows »Jonas Briccius« erschienen, kurz nach Liliencrons erstem Prosabuch kam das »Gemeindekind« von Marie von Ebner-Eschenbach, kam Hermann Sudermanns »Frau Sorge« heraus; wenige Jahre vorher hatte Ludwig Anzengruber seinen Meisterroman vom »Sternsteinhof«, Hermann Heiberg seinen »Apotheker Heinrich« gegeben, 1888 erschienen die »Zwei Seelen« von Rudolf Lindau, »Leutnant Burda« und »Seligmann Hirsch« von Ferdinand von Saar und »Jakob der Letzte« von Peter Rosegger.

Gewiß sind das außerordentlich verschiedene Dichter, und es liegt ein weiter Raum zwischen der weltklugen Reife Rudolf Lindaus, der erzieherisch gedachten, in soziale Tiefen leuchtenden Schilderung Mariens von Ebner und dem breiten, volkstümlichen Gemälde Roseggers. Dennoch aber: sie alle schlugen wieder die Brücke zum großen Realismus, den sie mit einer verjüngten Färbung aufnahmen; sie alle mühten sich um selbständiges Sehen gegenüber dem unselbständigen Feuilletonismus, dessen Romane wie Übersetzungen schlechter französischer klangen, und gegenüber dem bildungssüchtigen Archäologismus, der auch ein Kind der siebziger Jahre war. Und ohne daß der Begriff einer eigentlichen Heimatkunst schon vorhanden war, zeigten viele von ihnen, so die Österreicher, so Sudermann, so Liliencron, im Anklammern an das Land ihrer Kindheit und ihres Lebens eine neue Sicherheit der Darstellung von starkem, völkischem Gehalt. Der Norddeutsche, der nun in München einkehrte, brachte den süddeutschen Freunden auch ein Stück seiner herberen Heimat, einen Hauch Nordseeluft, eine Anschauung der deichumrahmten Marsch, der knickdurchzogenen Geest ins Alpenvorland hinüber. 283

 


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